Rechte von Menschen mit Behinderungen

Wohnen

Menschen mit Behinderungen haben – genau wie alle anderen Menschen auch – das Recht, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten. Sie dürfen nicht auf ein Leben in stationären Wohnformen festgelegt werden, sondern unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung muss ein Leben in der Gemeinschaft möglich sein. Voraussetzung dafür sind genug barrierefreier Wohnraum, wohnortnahe und bedarfsgerechte Unterstützungsangebote und ein inklusives Gemeinwesen. Doch auch mehr als fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 sind diese Voraussetzungen in Deutschland nicht hinreichend erfüllt.

Selbst wenn die Zahl der Menschen mit Behinderungen, die in besonderen Wohnformen leben, seit 2019 abnimmt, leben noch immer fast die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen, die Leistungen zum Wohnen beziehen, in besonderen Wohnformen. Das gilt vor allem für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die 64,4% der Bewohner*innen ausmachen. Für die besonderen Wohnformen werden deutlich höhere staatliche Ressourcen aufgewendet als für die Assistenz in eigener Häuslichkeit oder in Pflegefamilien (2021 8,3 Millionen gegenüber 3 Millionen Euro). Die Ambulantisierungsquote – das Verhältnis vom ambulanten zum stationären Wohnen – variiert zwischen den einzelnen Bundesländern stark: In manchen Ländern werden weniger als ein Drittel der Leistungsempfänger*innen ambulant betreut, in anderen wiederum mehr als zwei Drittel.

Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wird in besonderen Wohnformen häufig verletzt: Bewohner*innen berichten über fehlende Privatsphäre, mangelnde Mitbestimmung, fehlende Wahlmöglichkeiten bezüglich der Unterstützungspersonen und einen fehlenden Zugang zur Gemeinschaft.

Um die Anforderungen aus Artikel 19 der UN-BRK zu erfüllen, muss der Prozess der Deinstitutionalisierung für alle Menschen mit Behinderungen weiter vorangetrieben werden. Dabei spielt die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) eine zentrale Rolle. Mit dessen Inkrafttreten wurde das Leistungsrecht für Menschen mit Behinderungen im Bereich Wohnen grundlegend verändert. Eines der zentralen Ziele der Reform besteht in einer stärkeren Personenzentrierung. Hierfür sollen Gesamtplanverfahren für die Ermittlung individueller Bedarfe durchgeführt werden, außerdem sind personenzentrierte Assistenzleistungen in den Leistungskatalog aufgenommen worden. Die Einkommens- und Vermögensgrenze wurde deutlich erhöht. Trotzdem müssen Menschen mit Behinderungen weiterhin mit ihren eigenen finanziellen Mitteln dafür aufkommen, wenn sie im Bereich Wohnen behinderungsbezogene Leistungen beanspruchen möchten. Das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich Lebensort und Unterstützungsarrangement bleibt eingeschränkt, da ein Mehrkostenvorbehalt besteht und Leistungen gepoolt werden dürfen. Bewohner*innen besonderer Wohnformen haben außerdem weiterhin nur einen eingeschränkten Zugang zu Pflegeleistungen. Auch das so genannte Gesamtplanverfahren wird in vielen Regionen nur zögerlich angewendet. Die vorläufigen Evaluationsberichte im Rahmen der Umsetzungsbegleitung des Gesetzes verweisen auf Probleme bei der Verwirklichung des Wunsch- und Wahlrechts und der Beteiligung am Gesamtplanverfahren.

Außerdem sind für ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft barrierefreie Wohnungen unerlässlich. Es sind aber nur etwa zwei Prozent aller Wohnungen in Deutschland so barrierefrei, dass man dort auch wohnen kann, wenn man auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen ist. Das bedeutet für viele alte Menschen oder Menschen mit Behinderungen, dass sie keine passenden Wohnungen finden und oft allein deswegen in ein Heim müssen. Es fehlen über zwei Millionen barrierefreie Wohnungen, um allein den heutigen Bedarf zu decken. Wenn man Barrierefreiheit von Anfang an beim Bauen einplant, steigen die Baukosten nur minimal, um weniger als zwei Prozent.

Zentrale Anliegen

  • Länder und Kommunen sollten dafür sorgen, dass barrierefreie, uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbare und bezahlbare Wohnungen in genügender Zahl zur Verfügung stehen; in diesem Zusammenhang sollten sie auch den sozialen Wohnungsbau unter inklusiven Gesichtspunkten betreiben und nur den Bau solcher Wohnungen fördern, die barrierefrei sind.
  • In die Landesbauordnungen sollten Regelungen aufgenommen werden, die die uneingeschränkte Barrierefreiheit im Neubau verpflichtend machen, Ausnahmeregelungen sollten aufgegeben oder auf das Minimum beschränkt werden.
  • Länder und Kommunen sollten eine gemeindenahe Angebotslandschaft personenzentrierter Unterstützung für alle Menschen mit Behinderungen unabhängig von der Art und Schwere der Beeinträchtigung auf- und ausbauen.
  • Länder und Kommunen sollten ein inklusives Gemeinwesen entwickeln und dazu inklusive Stadt- und Gemeindeentwicklungsprogramme auflegen, die die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen systematisch berücksichtigen.
  • Die gesetzlichen Regelungen sollten nachgeschärft werden, insbesondere bezüglich der Orientierung der Leistungen am Wunsch- und Wahlrecht, unter anderem durch die Aufhebung des Mehrkostenvorbehalts, die Aufhebung der Einkommens- und Vermögensanrechnung, die Sicherstellung des selbstbestimmten Zugangs zu Unterstützungsdiensten jenseits von Zwängen eines „Poolens“ von Leistungen und die Sicherstellung eines uneingeschränkten Zugangs zu Pflegeleistungen nach dem SGB XI, unabhängig von der Wohnform.
  • Bund, Länder und Kommunen sollten eine übergeordnete Strategie der Deinstitutionalisierung mit konkreten Zielvorgaben entwickeln, unter Partizipation von Menschen mit Behinderungen und in Kooperation mit der Freien Wohlfahrtspflege; das Ziel muss sein, stationäre Wohneinrichtungen schrittweise zugunsten anderer Wohnformen, die mehr Selbstbestimmung und eine unabhängige Lebensführung gewährleisten, abzubauen.

UN-Behindertenrechtskonvention

Artikel 19 UN-BRK - Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft

„Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabean der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass

a)  Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;

b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist;

c) gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen.“

Allgemeine Bemerkung Nr. 5 zu Artikel 19 UN-BRK

Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen verdeutlicht mit seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 5 zu Artikel 19 der UN-BRK die Bedeutung eines unabhängigen Lebens in der Gemeinschaft für die Verwirklichung der Menschenrechte. Er erläutert auch, welche Umsetzungsdefizite die Vertragsstaaten angehen sollten.

Studie des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) zu Artikel 19 UN-BRK

Die Studie vom 12. Dezember 2014 erläutert die menschenrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus Artikel 19 der UN-BRK ergeben. Im Zentrum stehen drei Elemente des Rechts auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft: Wahlfreiheit, personenzentrierte Unterstützung und die Verfügbarkeit von gemeindenahen Diensten und Infrastrukturen. Der UN-Menschenrechtsrat, das höchste Gremium der Staatenvertreter*innen, forderte die Staatengemeinschaft auf, die Ergebnisse der Studie zu berücksichtigen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an Deutschland

Empfehlungen

Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigte sich im Rahmen der ersten Staatenprüfung im Jahr 2015 besorgt über den hohen Grad an Institutionalisierung und den Mangel an alternativen Wohnformen in Deutschland. Er empfahl, mehr Finanzmittel für diesen Veränderungsprozess bereitzustellen, ambulante Dienstleistungen auszubauen sowie den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Programmen und Leistungen zum Leben in der Gemeinschaft zu verbessern (Ziffer 41, 42b, 42c).

Leitlinien zur Deinstitutionalisierung

In seinen 2022 erschienenen „Leitlinien zur Deinstitutionalisierung (auch in Notfällen)“, die das DIMR ins Deutsche hat übersetzen lassen, fordert der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Vertragsstaaten der UN-BRK auf, die Deinstitutionalisierung voranzutreiben und Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Einrichtungen zu ermöglichen.

Ergebnisse des Projekts „The right to independent living of persons with disabilities“ (2014-2018) der Europäischen Grundrechteagentur (FRA)

Die UN-BRK verpflichtet dazu, Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung zu ermöglichen. Dies setzt einen sinnvollen und nachhaltigen Übergang von institutionellen zu gemeindenahen Wohnformen voraus. In ihrer Veröffentlichung fasst die Europäische Grundrechteagentur (FRA) die Ergebnisse aus drei Berichten zu unterschiedlichen Aspekten der Deinstitutionalisierung zusammen.

FRA: From institutions to community living for persons with disabilities - perspectives from the ground

Publikationen zu diesem Thema

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Dr. Britta Schlegel

Leitung der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Telefon: 030 259 359 - 450

E-Mail: schlegel(at)institut-fuer-menschenrechte.de

Porträt von Jana Offergeld. Sie hat lockige dunkelblonde Haare und trägt einen roten Rollkragenpulli.
© DIMR/B.Dietl

Dr. Jana Offergeld

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

Telefon: 030 259 359 - 244

E-Mail: offergeld(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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