Die Folgen des Kolonialismus wirken in Deutschland bis heute. Sogenannte Dekolonisierungsprozesse schreiten nur langsam voran, obwohl Aktivist*innen, Zivilgesellschaft und BIPoC-Communities seit vielen Jahren eurozentrische Wissen- und Machtstrukturen hinterfragen und die Reproduzierung kolonialer Muster kritisieren – nicht zuletzt in der politischen Bidlungsarbeit.
Die ganztägige Online-Veranstaltung am 19. September 2024 widmete sich post- und dekolonialen Perspektiven auf politische Bildung und Menschenrechtsbildung. Die über 70 Teilnehmer*innen beschäftigten sich unter anderem damit, wie sich Menschenrechtsbildung und politische Bildung von einer eurozentrischen Prägung hin zu einer universellen Gewichtung und Sichtweise entwickeln können, welche Narrative es dafür zu verändern gilt, welche Lernorte es braucht und welche Stimmen gestärkt werden sollten.
An der Podiumsdiskussion mit englischer Übersetzung, moderiert von Josephine Akinyosoye, nahmen teil:
- María do Mar Castro Varela, Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, Autorin diverser Publikationen zu postkolonialen Theorien
- Saraya Gomis, Lehrerin
- Aki Krishnamurthy, Empowermentbegleiterin, Theater- und Tanzpädagogin mit Fokus auf Machtverhältnisse aus intersektionaler Perspektive und Schwerpunkt auf Rassismus und Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen auch internationalen Kontexten
Nach einer kurzen Vorstellungsrunde skizzierten die Podiumsteilnehmerinnen unter anderem, wie eine dekoloniale Menschenrechtsbildung vor dem Hintergrund ihrer Profession aussehen könnte. Für Saraya Gomis gehört unter anderem dazu, sich mit ihren Schüler*innen zu dekolonialen Theorien auseinanderzusetzen und sie mit klassischer Menschenrechtsbildung zu verbinden: „Wir diskutieren, was das zum Beispiel für den Unterricht, wie wir ihn kennen, bedeutet, und was für das Konzept Schule“, so Gomis. Es sei wichtig, den Lernort Schule zu verlassen, um zum Beispiel den öffentlichen Raum zu erkunden. Aki Krishnamurty betonte, dass es auch darum gehe, binäres Denken und Kategorisierungen zu hinterfragen und aufzubrechen. Oder sich bewusst zu werden, welche Theorien und welches Wissen man rezipiere und weitergebe. Allerdings gab die Theater- und Tanzpädadgogin zu bedenken, dass „dekolonial“ ein neues „Buzzword“ geworden sei, sodass sie es vermeide, ihre Arbeit so zu labeln. María do Mar Castro Varela führte dazu aus, dass beispielsweise dekoloniale Theorien in Abya Yala (ein emanzipativer Begriff für das, was geografisch meistens als Lateinamerika oder Südamerika verstanden wird), nicht nur eine Kritik an der Aufklärung beinhalte, sondern auch die Suche nach Ansätzen für die Idee des Mensch-Seins und des Menschenrechtlichen, außerhalb der europäischen Traditionen. Weiterhin beschrieb sie das Dilemma, Menschenrechte zu stärken und dabei gleichzeitig zu wissen, dass sie im Zeitalter des Kolonialismus entstanden seien: „Dieses Dilemma gilt es auszuhalten und weiter an der Idee der Menschenrechte zu arbeiten.“ Etwa indem man sich mit Texten zu Menschenrechten beschäftige, die nicht aus den USA oder aus Europa, sondern aus dem Globalen Süden stammten.
Immer wieder kreisten die drei Expertinnen um die Frage, wie sie dekolonialen Ansätzen in ihrer Bildungspraxis Raum geben und was Lernen durch Menschenrechte vor diesem Hintergrund für sie bedeutet. Castro Varela hob hervor, dass Studierende dazu aufgefordert werden sollten, Quellen aus nicht-europäischen Ländern heranzuziehen und (Abschluss-)Arbeiten auch in einer anderen Sprache als Deutsch zu verfassen, was unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, jedoch vielen nicht bekannt sei. Hier eröffnete sich eine weitere Perspektive: Es gibt immer Gründe welche Rechte uns bekannt sind und welche nicht. Gomis betonte, dass Menschenrechtsbildung in der Schule nicht bedeuten sollte, einzelne Rechte kennenzulernen. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Erfahrungen, die jeder Mensch mitbringe, sei es spannnder und nachhaltiger, wenn sich Lernende gemeinsam mit Lehrenden Räume schaffen, in denen es möglich ist, sich darüber auszutauschen, wie man überhaupt zusammen lernen wolle. Castro Varela wiederum wies darauf hin, dass sie es vermeide, Menschenrechte als Normen vorzustellen. Lieber arbeite sie mit einer Kritik an den Menschenrechten und bringe sie auf diese Weise den Studierenden nahe. Gleichzeitig sollten Lehrende auch ihre eigene Fragilität anerkennen. „Lehren bedeutet auch immer Scheitern“, so die Hochschulpädagogin.
In der Publikumsdiskussion wurden unter anderem Fragen diskutiert wie: „Für wen wurden diese Menschenrechte geschrieben, für die indigenen Völker in Abya Yala, deren Verteidiger*innen wöchentlich ermordet werden, für Rom*nja und Sint*ezza, für Menschen, die auf diesem Kontinent Zuflucht suchen?“ (Frage aus dem Publikum). Castro Varela führe aus, dass für sie das Problem nicht der Anspruch der Universalität sei, sondern dass diese Universalität nicht eingelöst werde. Und dass diese Einlösung historisch auch nie die Intention gewesen sei. So wurden die Menschenrechte 1948 in New York proklamiert, wo zu der Zeit Schwarze und weiße Menschen noch nicht einmal auf derselben Bank sitzen durften. Die Idee von Menschsein an sich sei immer eine hinterfragbare Kategorie gewesen und ein großes Problem. Aki Krishnamurti stimmte dieser Ausführung zu: Bei der Proklamation 1948 sei es um eine europäische Selbstvergewisserung und um ein Statement gegangen, aber nicht darum, diese Rechte auch wirklich einzufordern.
Saraya Gomis führte in der Diskussion noch aus, dass mit dekolonialer und kritischer Menschenrechtsbildung kritisches Denken als Erziehungsziel in der Schule eingeübt werde. Eine kritische Positionierung und die Fähigkeit, sich bei Angriffen auf die Menschenwürde auch wehren zu können, sei ein wichtiges Ziel einer solchen Bildung.
Am Nachmittag präsentierten Expert*innen unterschiedliche Ansätze und Methoden einer post- und dekolonialen Bildungspraxis. Dazu wurden folgende Workshops angeboten:
- Partner up! Practical approaches to decolonizing our work in human rights education (Workshop in Englischer Sprache): Die Referentin Candace Blake-Amarante stellte die Arbeit von Equitas vor, einem internationalen Zentrum für Menschenrechtsbildung, das transformative Menschenrechtsbildungsprogramme entwickelt und sich in Kanada und auf der ganzen Welt für die Förderung von Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde einsetzt. Im Zentrum des Workshops standen Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen einer dekolonialen Menschenrechtsbildung.
- Politische Bildung und Embodiment: In diesem Workshop ging es um das dekolonisierende Potenzial von Theater- und Körperarbeit und wie diese Ansätze in die politische Bildungsarbeit einfliessen können. Als Referent*innen eingeladen waren der Theaterpädagoge und Streetworker Sebastian Fleary und die Theater- und Tanzpädagogin Aki Krishnamurty.
- On the Trail of Resistances against Racism (Workshop in Englischer Sprache): An praktischen Beispielen wurden in diesem Workshop die vielfältigen Dimensionen des antikolonialen Widerstands veranschaulicht. Zusammen mit dem Pädagogen und Antirassismus-Trainer Peter Nfon vom Verein Initiative Perspektivwechsel gingen die Teilnehmer*innen unter anderem der Frage nach, wie Kolonialismus und Rassismus zusammenhängen und reflektierten einschlägige pädagogische Methoden und Materialien der politischen Bildung.
- Bildung und Nachhaltigkeit von Anfang an. Ein Beispiel von dekolonialer Bildung aus Afrobrasilien: Die Teilnehmer*innen beschäftigten sich anhand von Fallbeispielen mit Gestaltungsmöglichkeiten und Versuchen einer dekolonialen Bildung. Zusammen mit der Pädagogin und Kulturwissenschaftlerin Ana Graça Wittkowski setzten sie sich mit der Frage auseinander, wie dekoloniale Bildung mit den Themen Nachhaltigkeit, Umwelt und Natur verknüpft ist.
Im Anschluss an die Workshop-Phase folgte eine kurze offene Runde, in der die Hauptdiskussionspunkte sowie wichtige Erkenntnisse aus den Workshops vorgestellt wurden, bevor die Veranstaltung um 16:30 Uhr endete.
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