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Gewalt gegen Frauen: Künftige Regierung in der Pflicht

„Der Internationale Frauentag ist mehr als ein symbolischer Gedenktag – er ist ein kraftvoller Aufruf zum Handeln.“
Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt
© istock/LordHenriVoton

Die Istanbul-Konvention des Europarats gilt seit Februar 2018 in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes, aber ihre Umsetzung hinkt weit hinter den Erwartungen zurück. Das kürzlich verabschiedete Gewalthilfegesetz ist zwar ein bedeutender Meilenstein, aber um die Betroffenen geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt wirksam zu schützen, muss die kommende Bundesregierung noch mehr auf den Weg bringen. Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte, erläutert, was die künftige Bundesregierung in diesem Feld tun muss.

Frau Tanrıverdi, was wünschen Sie sich für die Frauen in Deutschland zum Internationalen Frauentag?

Müşerref Tanrıverdi: Der Frauentag muss ein Weckruf sein. Geschlechtsspezifische Gewalt ist keine Randerscheinung, sondern ein strukturelles gesellschaftliches Problem. Die Istanbul-Konvention ist mehr als ein Vertrag – sie ist ein Versprechen an alle Frauen und Mädchen, ein Leben frei von Gewalt führen zu können.

Die Veröffentlichung des ersten Monitor Gewalt gegen Frauen Ende 2024 hat viel Aufmerksamkeit erfahren. Was verbindet den Monitor mit dem Internationalen Frauentag? Warum ist dieser Tag für die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt so bedeutsam?

Tanrıverdi: Der Internationale Frauentag ist mehr als ein symbolischer Gedenktag – er ist ein kraftvoller Aufruf zum Handeln. Die Istanbul-Konvention definiert geschlechtsspezifische Gewalt zutreffend als einen der entscheidenden sozialen Mechanismen, durch den Frauen systematisch in eine untergeordnete Position gezwungen werden – ein Mechanismus, der die Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen untergräbt.

Wir haben im Dezember 2024 unseren ersten Bericht, den Monitor Gewalt gegen Frauen, zum Umsetzungsstand der Istanbul Konvention in Deutschland veröffentlicht. Der Monitor offenbart sehr eindringlich die Diskrepanz zwischen rechtlichen Ansprüchen und gesellschaftlicher Realität. Die Konvention gilt seit Februar 2018 in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes, aber ihre Umsetzung hinkt weit hinter den Erwartungen zurück.

Was genau haben Sie im Bericht untersucht und was ist das Ergebnis des Berichts?

Tanrıverdi: Der Bericht zeichnet ein insgesamt sehr besorgniserregendes Bild. Sieben Jahre nach Inkrafttreten der Istanbul-Konvention ist Deutschland – trotz vereinzelter Fortschritte – von einer umfassenden Umsetzung der Istanbul-Konvention weit entfernt. Es fehlt an grundlegenden Strukturen, an übergreifenden verbindlichen Standards, an der nötigen Finanzierung und nicht zuletzt an einem Verständnis für die strukturellen Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt. Ein zentrales Ergebnis des Berichts ist: Trotz des erschreckenden Ausmaßes der Gewalt fehlt in Politik, Verwaltung und Justiz überwiegend das Verständnis dafür, dass geschlechtsspezifische Gewalt Ausdruck eines gesellschaftlich verankerten Machtverhältnisses ist.

Was heißt das konkret?

Tanrıverdi: Um ein Beispiel aus dem Bereich Schutz und Beratung zu nennen: Im Jahr 2022 fehlten mehr als 13.000 Betten in Frauenhäusern. An 277 Tagen waren die Schutzeinrichtungen komplett ausgelastet, sodass etwa 15.000 Frauen und Mädchen nicht aufgenommen werden konnten. Das bedeutet 15.000 Frauen, die potenziell weiterer Gewalt ausgesetzt blieben.

Von diesen Missständen sind besonders Frauen betroffen, die sich in vulnerablen Lebenslagen befinden: wohnungslose Frauen, Frauen mit Behinderungen oder geflüchtete Frauen haben es besonders schwer und erhalten oft nicht die Hilfe, die sie benötigen. Beim Schutz von geflüchteten Frauen stehen etwa die Meldepflicht, Wohnsitzauflagen und Residenzpflichten dem effektiven Schutz entgegen und sollten so geregelt werden, dass Frauen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus schnellen und unbürokratischen Zugang zu Schutzeinrichtungen erhalten können. Leider wurde im Zuge des Gewalthilfegesetzes versäumt, die besonderen Bedarfe von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffenen Personen in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu regeln. Das muss dringend nachgeholt werden.

„Die Istanbul-Konvention ist mehr als ein Vertrag – sie ist ein Versprechen an alle Frauen und Mädchen, ein Leben frei von Gewalt führen zu können“

M. Tanrıverdi hat schlüsselbeinlange schwarze Haare. Sie trägt ein schwarzes Oberteil und darüber einen schwarz-weißen Blazer.
© DIMR/B. Dietl
Müşerref Tanrıverdi 
Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Mit Blick auf die künftige Bundesregierung und die anstehenden Koalitionsverhandlungen: Welche Aspekte aus dem Monitor sollten unbedingt in den Koalitionsvertrag aufgenommen werden?

Tanrıverdi: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass durchaus einiges geschehen ist. So wurde etwa eine Gewaltschutzstrategie nach der Istanbul-Konvention beschlossen und eine Koordinierungsstelle auf Bundesebene eingerichtet. Auch das neue Gewalthilfegesetz ist ein bedeutender Meilenstein. Für die künftige Bundesregierung bleibt aber trotzdem noch sehr viel zu tun. Erste Priorität ist die vollständige und effektive Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das gilt für Maßnahmen der Prävention, der Strafverfolgung, aber auch für den Zugang zu Schutz und Beratung. In diesem Zusammenhang sollte der bedarfsgerechte Ausbau und die Finanzierung von Frauenhäusern, Fachberatungsstellen und anderen Schutzeinrichtungen bundesweit im Rahmen des Gewalthilfegesetzes zügig und konsequent vorangebracht werden. Das Gesetz ist ferner im Sinne der Istanbul-Konvention weiterzuentwickeln und bestehende Schutzlücken sind zu schließen.

Die künftige Bundesregierung muss entschlossen handeln. Unsere Kernempfehlungen sind hier ein klarer Fahrplan:

  1. Zügige und vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention
  2. Umfassende Sicherstellung des Zugangs zu Schutz und Beratung
  3. Verankerung von Gewaltschutzinteressen im Familienrecht
  4. Verpflichtende Fortbildungen für Bedienstete der Verwaltung, Justiz und Polizei
  5. Förderung der Täterarbeit
  6. Bekämpfung digitaler Gewalt
  7. Angemessene Finanzierung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen

Jede nicht umgesetzte Maßnahme bedeutet potenziell gefährdetes Leben.

Die Fortbildung von Fachkräften scheint ein Schlüsselthema zu sein?

Tanrıverdi: Absolut! Hier ein paar Zahlen aus dem Monitor: Zwischen 2020 und 2022 waren rund 80 Prozent der Fortbildungsmaßnahmen für Polizeibedienstete zu geschlechtsspezifischer Gewalt freiwillig. Bei Staatsanwält*innen und Richter*innen war dies nahezu bei allen Fortbildungen der Fall. Keines der 16 Bundesländer verfügt über ein landesweites Konzept für die Fortbildung von Staatsanwält*innen und Richter*innen. Das ist mehr als nur eine Statistik – das ist ein systematisches Versäumnis im Gewaltschutz.

Ein bemerkenswerter Aspekt Ihres Berichts ist die Täterarbeit. Welche Rolle spielt diese?

Tanrıverdi: Sie spielt eine sehr entscheidende Rolle! 2022 gab es bundesweit nur 108 (teil-)landesfinanzierte Einrichtungen für Täter häuslicher Gewalt. In diesen Einrichtungen befanden sich durchschnittlich nur 52,8 Täter in Beratung. Diese Zahlen stehen in einem eklatanten Missverhältnis zum tatsächlichen Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland. Unserem Monitor Gewalt gegen Frauen zufolge waren 2023 täglich durchschnittlich 728 Frauen und Mädchen von körperlicher Gewalt und 394 von psychischer Gewalt betroffen.

Artikel 16 der Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland zur Entwicklung von Präventivmaßnahmen. Wir brauchen den Ausbau von Interventionsprogrammen, sozialen Trainingskursen und Anti-Gewalttrainings. Entscheidend ist dabei die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, insbesondere mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e. V. Darüber hinaus sollten gezielte Maßnahmen wie Fortbildungen für Richter*innen gefördert werden, um die Verweisung von Tätern häuslicher Gewalt in Täterarbeitsprogramme zu intensivieren. Ebenso gilt es, die straf- und zivilrechtlichen Möglichkeiten zur Zuweisung von Tätern in Interventionsprogramme mit einer ausreichenden Stundenzahl zügig auszubauen. Das neue Gewalthilfegesetz adressiert die Täterarbeit, aber die darin vorgesehene Regelung muss landesweit einheitlich umgesetzt und weiter konkretisiert werden.

Im Monitor Gewalt gegen Frauen heißt es, dass die digitale Dimension von Gewalt oft unterschätzt wird. Was muss die nächste Bundesregierung hier auf den Weg bringen?

Tanrıverdi: Die Lage ist tatsächlich sehr besorgniserregend. Im Jahr 2023 waren durchschnittlich 409 Frauen und Mädchen täglich von digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen – mit einem vermutlich großen Dunkelfeld. Trotz dieser Zahlen wird die digitale Dimension von geschlechtsspezifischer Gewalt auf der gesetzlichen und gesellschaftlichen Ebene noch nicht ausreichend berücksichtigt, so das Ergebnis unseres Monitors. Es gibt ein fundamanteles Verständnisproblem – sowohl bei Strafverfolgungsbehörden als auch in der Öffentlichkeit. Gewalt gegen Frauen wird nach wie vor oft auf körperliche Übergriffe reduziert. Es ist daher sehr wichtig, dass sich die neue Bundesregierung und der neue Bundestag des Problems annehmen. Neben den schon genannten verpflichtenden Fortbildungen relevanter Berufsgruppen sind Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit wichtig. Ferner muss das Hilfesystem für diese Herausforderungen entsprechend ausgestattet werden: durch nachhaltige Finanzierung, mehr Personal und kostenlose Schulungen. Unsere Empfehlungen umfassen schließlich nötige Änderungen im Strafrecht, so etwa die Prüfung eines eigenständigen Straftatbestands zum Schutz der Psyche, die Normierung von Cybermobbing und eine Revision der Vorschriften zu bildbasierter sexualisierter Gewalt. Diese umfasst etwa Phänomene wie Rachepornos, Deepfakes und Sextortion.

Wann soll der nächste Monitor Gewalt gegen Frauen erscheinen?

Tanrıverdi: Der Monitor Gewalt gegen Frauen soll in regelmäßigen Abständen erscheinen. Gute Politik braucht gute Daten. Daher sieht die Istanbul-Konvention vor, dass Staaten ein Monitoring etablieren. In Deutschland wurde hierfür unsere unabhängige Berichterstattungsstelle eingerichtet. Sie hat unter anderem die Aufgabe, systematisch die Umsetzung der Istanbul-Konvention zu beobachten, zu messen und zu evaluieren. Aktuell operiert die Berichterstattungsstelle auf Projektbasis mit einer Laufzeit bis Oktober 2026. Wir empfehlen der künftigen Bundesregierung, die kontinuierliche Arbeit der Berichterstattungsstelle durch eine gesetzliche Grundlage und Verstetigung sicherzustellen. Denn ein evidenzbasiertes Monitoring ist nur durch kontinuierliche Beobachtung über lange Zeit hinweg empirisch aussagekräftig.
 

(veröffentlicht im März 2025)

Zur Person:

Müserref Tanrıverdi ist Juristin und leitet die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

M. Tanrıverdi hat schlüsselbeinlange schwarze Haare. Sie trägt ein schwarzes Oberteil und darüber einen schwarz-weißen Blazer.
© DIMR/B. Dietl

Menschenrechte im Fokus – Geschlechtsspezifische Gewalt

Wie wir dafür sorgen können, dass alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht – ein Leben frei von Gewalt führen können, erfahren Sie von der Leiterin unserer Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt Müşerref Tanrıverdi im Video.

Die Istanbul-Konvention

Übereinkommen des Europarats

Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die sogenannte Istanbul-Konvention, trat Anfang Februar 2018 in Deutschland als rechtlich bindendes Menschenrechtsinstrument in Kraft.

Ziele

Die Konvention verfolgt unter anderem die Ziele, Betroffene vor Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten und die Möglichkeiten der Strafverfolgung zu verbessern (Artikel 1).

GREVIO

Eine zehn- bis 15-köpfige Gruppe von Expert*innen (Group of experts on action against violence against women and domestic violence, GREVIO) überwacht die Umsetzung des Übereinkommens durch die Vertragsstaaten. Der GREVIO-Ausschuss kann in Situationen schwerer oder systematischer Gewalt gegen Frauen auch Eiluntersuchungen vor Ort vornehmen.

Ansprechpartner*in

Portrait von Müşerref Tanriverdi. Müşerref Tanriverdi hat dunkle, schulterlange Locken, trägt dunkle Kleidung und einen grauen Blazer und steht vor einer grauen Wand.
© DIMR/B. Dietl

Müşerref Tanrıverdi

Leitung der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt

Telefon: 030 259 359 – 26

E-Mail: tanriverdi(at)institut-fuer-menschenrechte.de

Kurzbiografie Müşerref Tanrıverdi

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