Mit Blick auf die künftige Bundesregierung und die anstehenden Koalitionsverhandlungen: Welche Aspekte aus dem Monitor sollten unbedingt in den Koalitionsvertrag aufgenommen werden?
Tanrıverdi: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass durchaus einiges geschehen ist. So wurde etwa eine Gewaltschutzstrategie nach der Istanbul-Konvention beschlossen und eine Koordinierungsstelle auf Bundesebene eingerichtet. Auch das neue Gewalthilfegesetz ist ein bedeutender Meilenstein. Für die künftige Bundesregierung bleibt aber trotzdem noch sehr viel zu tun. Erste Priorität ist die vollständige und effektive Umsetzung der Istanbul-Konvention. Das gilt für Maßnahmen der Prävention, der Strafverfolgung, aber auch für den Zugang zu Schutz und Beratung. In diesem Zusammenhang sollte der bedarfsgerechte Ausbau und die Finanzierung von Frauenhäusern, Fachberatungsstellen und anderen Schutzeinrichtungen bundesweit im Rahmen des Gewalthilfegesetzes zügig und konsequent vorangebracht werden. Das Gesetz ist ferner im Sinne der Istanbul-Konvention weiterzuentwickeln und bestehende Schutzlücken sind zu schließen.
Die künftige Bundesregierung muss entschlossen handeln. Unsere Kernempfehlungen sind hier ein klarer Fahrplan:
- Zügige und vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention
- Umfassende Sicherstellung des Zugangs zu Schutz und Beratung
- Verankerung von Gewaltschutzinteressen im Familienrecht
- Verpflichtende Fortbildungen für Bedienstete der Verwaltung, Justiz und Polizei
- Förderung der Täterarbeit
- Bekämpfung digitaler Gewalt
- Angemessene Finanzierung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen
Jede nicht umgesetzte Maßnahme bedeutet potenziell gefährdetes Leben.
Die Fortbildung von Fachkräften scheint ein Schlüsselthema zu sein?
Tanrıverdi: Absolut! Hier ein paar Zahlen aus dem Monitor: Zwischen 2020 und 2022 waren rund 80 Prozent der Fortbildungsmaßnahmen für Polizeibedienstete zu geschlechtsspezifischer Gewalt freiwillig. Bei Staatsanwält*innen und Richter*innen war dies nahezu bei allen Fortbildungen der Fall. Keines der 16 Bundesländer verfügt über ein landesweites Konzept für die Fortbildung von Staatsanwält*innen und Richter*innen. Das ist mehr als nur eine Statistik – das ist ein systematisches Versäumnis im Gewaltschutz.
Ein bemerkenswerter Aspekt Ihres Berichts ist die Täterarbeit. Welche Rolle spielt diese?
Tanrıverdi: Sie spielt eine sehr entscheidende Rolle! 2022 gab es bundesweit nur 108 (teil-)landesfinanzierte Einrichtungen für Täter häuslicher Gewalt. In diesen Einrichtungen befanden sich durchschnittlich nur 52,8 Täter in Beratung. Diese Zahlen stehen in einem eklatanten Missverhältnis zum tatsächlichen Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland. Unserem Monitor Gewalt gegen Frauen zufolge waren 2023 täglich durchschnittlich 728 Frauen und Mädchen von körperlicher Gewalt und 394 von psychischer Gewalt betroffen.
Artikel 16 der Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland zur Entwicklung von Präventivmaßnahmen. Wir brauchen den Ausbau von Interventionsprogrammen, sozialen Trainingskursen und Anti-Gewalttrainings. Entscheidend ist dabei die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, insbesondere mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e. V. Darüber hinaus sollten gezielte Maßnahmen wie Fortbildungen für Richter*innen gefördert werden, um die Verweisung von Tätern häuslicher Gewalt in Täterarbeitsprogramme zu intensivieren. Ebenso gilt es, die straf- und zivilrechtlichen Möglichkeiten zur Zuweisung von Tätern in Interventionsprogramme mit einer ausreichenden Stundenzahl zügig auszubauen. Das neue Gewalthilfegesetz adressiert die Täterarbeit, aber die darin vorgesehene Regelung muss landesweit einheitlich umgesetzt und weiter konkretisiert werden.
Im Monitor Gewalt gegen Frauen heißt es, dass die digitale Dimension von Gewalt oft unterschätzt wird. Was muss die nächste Bundesregierung hier auf den Weg bringen?
Tanrıverdi: Die Lage ist tatsächlich sehr besorgniserregend. Im Jahr 2023 waren durchschnittlich 409 Frauen und Mädchen täglich von digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen – mit einem vermutlich großen Dunkelfeld. Trotz dieser Zahlen wird die digitale Dimension von geschlechtsspezifischer Gewalt auf der gesetzlichen und gesellschaftlichen Ebene noch nicht ausreichend berücksichtigt, so das Ergebnis unseres Monitors. Es gibt ein fundamanteles Verständnisproblem – sowohl bei Strafverfolgungsbehörden als auch in der Öffentlichkeit. Gewalt gegen Frauen wird nach wie vor oft auf körperliche Übergriffe reduziert. Es ist daher sehr wichtig, dass sich die neue Bundesregierung und der neue Bundestag des Problems annehmen. Neben den schon genannten verpflichtenden Fortbildungen relevanter Berufsgruppen sind Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit wichtig. Ferner muss das Hilfesystem für diese Herausforderungen entsprechend ausgestattet werden: durch nachhaltige Finanzierung, mehr Personal und kostenlose Schulungen. Unsere Empfehlungen umfassen schließlich nötige Änderungen im Strafrecht, so etwa die Prüfung eines eigenständigen Straftatbestands zum Schutz der Psyche, die Normierung von Cybermobbing und eine Revision der Vorschriften zu bildbasierter sexualisierter Gewalt. Diese umfasst etwa Phänomene wie Rachepornos, Deepfakes und Sextortion.
Wann soll der nächste Monitor Gewalt gegen Frauen erscheinen?
Tanrıverdi: Der Monitor Gewalt gegen Frauen soll in regelmäßigen Abständen erscheinen. Gute Politik braucht gute Daten. Daher sieht die Istanbul-Konvention vor, dass Staaten ein Monitoring etablieren. In Deutschland wurde hierfür unsere unabhängige Berichterstattungsstelle eingerichtet. Sie hat unter anderem die Aufgabe, systematisch die Umsetzung der Istanbul-Konvention zu beobachten, zu messen und zu evaluieren. Aktuell operiert die Berichterstattungsstelle auf Projektbasis mit einer Laufzeit bis Oktober 2026. Wir empfehlen der künftigen Bundesregierung, die kontinuierliche Arbeit der Berichterstattungsstelle durch eine gesetzliche Grundlage und Verstetigung sicherzustellen. Denn ein evidenzbasiertes Monitoring ist nur durch kontinuierliche Beobachtung über lange Zeit hinweg empirisch aussagekräftig.
(veröffentlicht im März 2025)