Im Fokus

„Das Selbstbestimmungsgesetz war überfällig“

Das Selbstbestimmungsgesetz beendet demütigende Verfahren für Betroffene. © iStock.com/Vanessa Nunes

Der Bundestag hat am 12. April 2024 das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet und damit die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen im Personenstandsregister neu geregelt. Nele Allenberg, Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa, erklärt, was sich durch das Gesetz ändert und wo sich das Institut im parlamentarischen Verfahren Nachbesserungen gewünscht hätte.

 

Warum braucht Deutschland ein Selbstbestimmungsgesetz?

Nele Allenberg: Wenn das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft tritt, wird die bisherige Praxis endlich beendet, die Betroffene zwingt, zwei Gutachten von unabhängigen Gutachtern vorzulegen, über die dann ein Gericht befindet. Diese Praxis bedeutete für die Betroffenen lange Wartezeiten, hohe Kosten und wurde aufgrund der teilweise intimen Fragen der Begutachtenden als sehr belastend beschrieben. Dem Transsexuellengesetz lag ein medizinisch veraltetes, pathologisierendes Verständnis von Transgeschlechtlichkeit zugrunde. Die Grundidee des Selbstbestimmungsgesetzes ist demgegenüber, die Selbstbestimmung des jeweiligen Menschen ernst zu nehmen.

Das Recht auf Anerkennung der selbstbestimmten geschlechtlichen Identität ist im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz geschützt. Auch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 17 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte schützen die Geschlechtsidentität als wichtigen Teil der persönlichen Identität.

Was bedeutet das neue Gesetz konkret für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen?

Allenberg: Das Selbstbestimmungsgesetz ersetzt das Transsexuellengesetz. Trans Menschen können nach Inkrafttreten des Gesetzes ihren Geschlechtseintrag und ihren Vornamen durch eine Erklärung gegenüber dem Standesamt ändern lassen. Eine Gerichtsentscheidung und die Vorlage von Gutachten sind nicht mehr nötig. Ziel des Selbstbestimmungsgesetzes ist es, die Grundrechte aller Menschen unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität zu verwirklichen, indem die tatsächliche geschlechtliche Vielfalt akzeptiert wird. Das Selbstbestimmungsgesetz soll auch für nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen gelten und die Rechtslage vereinheitlichen. Wir begrüßen das.

Das Gesetz war vor seiner Verabschiedung harsch kritisiert worden. Was entgegnen Sie den Kritiker*innen?

Allenberg: Die Anerkennung der Selbstbestimmung beim Geschlechtseintrag nimmt niemandem etwas weg. Im Gegenteil, das Gesetz gibt trans, nichtbinären und intergeschlechtlichen Menschen die Freiheit, die alle anderen fraglos haben. Das Gesetz schafft keine Regelungen zu geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen. Und auch die Befürchtung, dass es zu einem Missbrauch kommt, ist unbegründet. Das belegen die Erfahrungen anderer Länder wie zum Beispiel Dänemark, Portugal und der Schweiz, die bereits seit Längerem ein Selbstbestimmungsgesetz haben. Ein Bericht aus dem Jahr 2022, der bestehende Selbstbestimmungsmodelle in verschiedenen Ländern untersucht hat, zeigt, dass kein Fall einer Änderung des Geschlechtseintrags aus betrügerischen oder kriminellen Absichten bekannt geworden ist.

Kritiker*innen argumentieren auch mit einer Gefährdung von Schutzräumen von Frauen.

Allenberg: Besonders Frauenhäuser standen im Mittelpunkt der Diskussion. Frauenverbände wie der Deutsche Frauenrat, die evangelischen Frauen und die Frauenhauskoordinierung haben hingegen zu Recht deutlich gemacht, dass auch trans Frauen Anspruch auf Schutz vor Gewalt haben. Gewaltvolle Übergriffe sind leider Teil der Realität von trans Personen – das zeigen Befragungen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern. Die Frauenhauskoordinierung berichtet übrigens, dass ihnen kein einziger Fall missbräuchlicher Nutzung von Frauenhausplätzen durch trans Frauen bekannt sei.

Sind Sie zufrieden mit dem Selbstbestimmungsgesetz?

Allenberg: Das Institut begrüßt die Zielrichtung des Gesetzes, hat aber auf Nachbesserungsbedarf hingewiesen. Problematisch sind die vielen Regelungen, die Missbrauch vorbeugen sollen. Das Institut sieht für sie keine Rechtfertigung, selbst wenn Missbrauch drohte: Die Befürchtung, Menschenrechte könnten missbraucht werden, rechtfertigt nicht ihre Beschränkung. Darauf weist auch der Unabhängige Experte der Vereinten Nationen zum Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität hin. Wenn der Staat Maßnahmen gegen Missbrauch ergreifen möchte, müssen diese wissenschaftlich fundiert sein, wirklich gegen Missbrauch wirken können und tatsächlich auch nur gegen die Personen gerichtet sein, die die Regelung missbrauchen wollen. Andernfalls stigmatisieren diese Maßnahmen nur. Genau diese Gefahr der Stigmatisierung hat sich unserer Ansicht nach realisiert, wie die erhitzte Debatte um das Gesetz zeigt.

Sie hatten sich gegen die im Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes noch enthaltene Verpflichtung für Standesämter gewandt, andere Behörden über die Änderung des Geschlechtseintrags zu informieren. Sie ist nun gestrichen. Zufrieden?

Allenberg: Darüber haben wir uns zunächst sehr gefreut. Denn werden Standesämter verpflichtet, das neue Geschlecht und den neuen Namen proaktiv und ohne konkreten Anlass an zehn Behörden – unter anderem die Polizei – weiterzuleiten, kann das Betroffene abhalten, die neuen Möglichkeiten des Selbstbestimmungsgesetzes zu nutzen. Diese Verpflichtung widerspricht außerdem dem Grundsatz der Datenminimierung der Datenschutzgrundverordnung. Und die Weitergabe der Daten kann einer Stigmatisierung von trans Menschen im Kontakt mit Sicherheitsbehörden Vorschub leisten. Polizeibehörden zum Beispiel speichern ja nicht nur die Daten von Straftäter*innen, sondern auch von Opfern oder Zeug*innen. Allerdings ist die Frage noch nicht vom Tisch – der Gesetzgeber möchte die Weiterleitungspflicht der Standesämter bei der Änderung von Vornamen in einem nächsten Gesetzesentwurf wieder aufgreifen. Das betrifft dann zwar nicht nur trans Personen – wir werden prüfen, ob dennoch eine stigmatisierende Wirkung von dem Vorhaben ausgeht.

Zur Person

Nele Allenberg ist Juristin und Politologin und leitet seit 2020 die Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind der Schutz vor Diskriminierung, Menschenrechte von Personen in vulnerablen Lebenslagen sowie Rechte in der Migration.

Portrait von Nele Allenberg
© DIMR/B. Dietl

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Nele Allenberg

Leitung der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa

Telefon: 030 259 359 - 27

E-Mail: allenberg(at)institut-fuer-menschenrechte.de

Zum Seitenanfang springen