Mit Menschenrechten Brücken bauen

Nachbericht der Veranstaltung

Inklusive Bildungspraxis aus menschenrechtlicher Perspektive

Der Begriff der Inklusion kursiert bereits seit geraumer Zeit im Bildungskontext, das dazugehörige menschenrechtliche Verständnis, die nötige Haltung und die entsprechende Umsetzung jedoch leider noch nicht. Inklusion ist eng mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verbunden. Viele Ideen und Ansätze lassen sich jedoch auch auf andere Diskriminierungsdimensionen wie etwa Rassismus übertragen.
Als wesentliche Grundsätze der UN-BRK werden u.a. benannt: Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit, Achtung der Würde sowie volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft. Die UN-BRK versteht Behinderung weder als Defizit noch als individuelles Problem, sondern als etwas, das im Zusammenspiel zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und den Barrieren in der Umwelt entsteht. Statt die Anpassungsleistung von den Menschen zu erwarten– wie es etwa beim alltäglichen Gebrauch des Wortes Integration mitschwingt – sollen Strukturen und Prozesse so ausgestaltet werden, dass alle Menschen so sein können, wie sie sind und an der Gesellschaft teilhaben können, ohne diskriminiert oder be-hindert zu werden.
Ein solch menschenrechtlicher Inklusionsansatz ist eng verbunden mit der Wertschätzung von Vielfalt, mit der Frage, wie Barrieren abgebaut werden können, mit Normalitätsvorstellungen, Diskriminierungsschutz, Partizipation sowie dem Bewusstsein von Würde und Empowerment.
Diese menschenrechtlichen Perspektiven auf Inklusion haben wir am 24. November 2023 in Bezug auf die Bildungspraxis mit drei Online-Workshops sowie einem anschließenden Austausch näher betrachtet.

Zur Programmübersicht der Veranstaltung

Hier finden Sie einige Informationen sowie Hinweise zur Vertiefung von den Personen, die die Workshops geleitet haben:

Interview von Workshop-Leitung

Interview mit Otmar Miles-Paul

„Inklusion geht weit über das Thema Behinderung hinaus“

Interview mit Ottmar Miles-Paul, Sprecher der LIGA Selbstvertretung und Moderator des Workshops „Empowerment zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“

DIMR: Worum ging es in dem von Ihnen geleiteten Workshop?

Ottmar Miles-Paul: Thema war die Selbstvertretung behinderter Menschen. Im Workshop diskutierten wir – meine Co-Moderatorin Juliane Harms vom Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) und ich – mit den Teilnehmenden über Empowerment-Schulungen. Bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, aber auch von Aktionsplänen des Bundes und der Bundesländer, ist es von entscheidender Bedeutung, dass behinderte Menschen selbst als Expert*innen in eigener Sache mitwirken – wofür sie eben entsprechend fortgebildet werden. Die Teilnehmenden des Workshops haben einen Eindruck bekommen, wie solche Schulungen gestaltet sind, wer sie besucht und welche Ziele wir damit verfolgen.

Neben der Barrierefreiheit und entsprechenden angemessenen Vorkehrungen ist bei Empowerment-Schulungen unter anderem wichtig, dass sich diese so weit wie möglich an den Interessen der einzelnen Teilnehmenden orientieren. Daher legen wir großen Wert darauf, dass sie überlegen, was sie konkret tun wollen, damit die UN-Behindertenrechtskonvention weiter umgesetzt wird, und für sich eigene „kleine“ Projekte entwickeln.

Welches Handwerkszeug brauchen Menschen mit Behinderungen, um selbst Aktivitäten zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu entwickeln?

Miles-Paul: Diejenigen, die sich für Veränderungen einsetzen wollen, können fast immer etwas dazu lernen. Es beginnt mit der Stärkung des Selbstbewusstseins, denn wenn wir uns nicht selbst zu Wort melden und unsere Bedürfnisse bzw. Forderungen formulieren, geschieht meist nichts von selbst. Rhetorik, also wie man sich beispielsweise bei Gremiensitzungen vorstellen und einbringen kann, wie man mit Politiker*innen bzw. Behördenvertreter*innen spricht, um etwas zu erreichen, sind wichtige Bausteine. Aber oft beginnt es damit, sich unter all den Herausforderungen, mit denen man zu tun hat, konkrete Ziele zu setzen, sich also auf einige wenige Punkte zu konzentrieren, die verändert werden sollen. Sonst verliert man sich leicht in der Vielfalt der Themen und Gremien. Öffentlichkeitsarbeit, das Knüpfen von Kontakten und die Entwicklung von Netzwerken, sind weitere wichtige Punkte. Denn um etwas zu erreichen, sind in der Regel Verbündete nötig. Und natürlich müssen die Fachkenntnisse verbessert werden. Wer sich beispielsweise für Barrierefreiheit einsetzt, sollte auch gute Beispiele oder Lösungsideen parat haben sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen kennen. Letztendlich geht es aber auch darum, wie man mit der eigenen Behinderung umgeht, wenn man beispielsweise auf Barrieren stößt oder bei der Interessenvertretung in einigen Bereichen behindert wird. All das können Bestandteile von Empowerment-Schulungen sein.

Was waren wichtige Erkenntnisse aus dem Workshop?

Miles-Paul: Interessant war für mich zum Beispiel die Anregung der Vertreterin von Aktion Mensch, die Empowerment-Angebote auf einer Internetseite zu bündeln. Denn es gibt noch viel zu wenige solche Aktivitäten und eine Bündelung wäre sicherlich hilfreich. Spannend fand ich auch das Zusammenspiel von Empowerment für den individuellen Umgang mit Behinderung und Empowerment für strukturelle Veränderungen. Beides geht nur zusammen, denn ohne entsprechendes Selbstbewusstsein fällt es vielen Menschen mit Behinderungen schwer, sich Gehör zu verschaffen. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch, dass konkrete Ziele identifiziert und gesetzt werden, denn das Thema Behinderung und auch die UN-Behindertenrechtskonvention sind sehr vielfältig, sodass ein Fokus auf konkrete Aktivitäten wichtig ist. Ein weiterer Punkt ist für mich auch, dass Empowerment bedeuten sollte, ganz unterschiedliche Gruppen zu stärken. Denn Inklusion geht weit über das Thema Behinderung hinaus.

Haben sich aus dem Austausch Ideen für Initiativen ergeben?

Miles-Paul: Die Äußerungen einzelner Teilnehmenden lassen darauf schließen, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bei einer Reihe von geplanten Aktivitäten eine zentrale Rolle spielen wird. bifos zum Beispiel startet Anfang 2024 einen Weiterbildungskurs zum Empowerment zur Selbstvertretung behinderter Menschen. Im Forschungsbereich steht das Thema schulische Inklusion im Fokus, und was Assistenzleistungen betrifft, so soll weiter am Auf- und Ausbau gearbeitet werden. Dies sind nur einige Beispiele, die von den Teilnehmenden angesprochen wurden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl im Bereich des Empowerments als auch bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention noch viel zu tun ist. Nach wie vor bestimmt in Deutschland Exklusion das Leben behinderter Menschen. Um echte Inklusion zu erreichen, bedarf es weiterhin vielfältigen Engamements.

Welche Materialien etc. können Sie interessierten Personen zur Vertiefung empfehlen?

Miles-Paul: Im Laufe der letzten Jahre hat die „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung“ behinderter Menschen eine Reihe von Informationen gesammelt und Materialien zum Empowerment behinderter Menschen erstellt. Hier sei auf einige Informationen hingewiesen:

Interview mit Judy Gummich

„Die Verflechtung von Rassismus und Ableismus ist historisch verankert“

Interview mit Judy Gummich, Diversity-Trainerin und Moderatorin des Workshops Intersektionale Perspektive auf Rassismus und Ableism“

Warum ist es wichtig, die intersektionale Dimension, also die Verflechtung und das Zusammenwirken von Rassismus und Ableismus, stärker in den Blick zu nehmen? Welche Chancen vergeben wir uns, wenn wir beide getrennt voneinander betrachten?

Gummich: Das ist menschenrechtlich begründet. Da Menschenrechte für alle Menschen gelten, ist es erforderlich, auch alle in den Blick zu nehmen und sich die Frage zu stellen: Wer fällt bei der persönlichen Sichtweise und den eigenen Aktivitäten durchs Raster? Dies sind – bezogen auf das Thema hier – häufig Schwarze behinderte Menschen/ behinderte Menschen of Color, die weder im Kontext Rassismus, Flucht oder Migration noch im Kontext Behinderung, machtkritisch als Ableismus benannt, mitgedacht und miteinbezogen werden. So sind zum Beispiel Unterkünfte für geflüchtete Menschen häufig nicht ausreichend barrierefrei oder Schwarze behinderte Menschen sind bei Inanspruchnahme von behinderungsbedingtem Nachteilsausgleich mit rassistischen Äußerungen konfrontiert. Werden diese Bevölkerungsgruppen ignoriert, so werden diese auch bei Maßnahmen zum Diskriminierungsschutz nicht miteinbezogen.

Welche Anliegen und Standpunkte waren den Teilnehmenden des Workshops besonders wichtig?

Gummich: Wenn die beiden Machtverhältnisse Rassismus und Ableismus getrennt betrachtet und gegenübergestellt werden, zeigen sich viele Parallelen. Dadurch rücken Wirkmechanismen und Strukturen eher in den Fokus und lassen Ansatzpunkte für Veränderungen auch hinsichtlich der Intersektion von Rassismus und Ableismus erkennen. Beispiele für Parallelen von Rassismus und Ableismus sind die räumliche Ausgrenzung in Form von Werkstätten und Geflüchtetenunterkünfte, oder abwertende Attribute, mit denen beide Gruppen konfrontiert werden, etwa die Zuschreibungen, sie seien bedürftig, nicht intelligent, unfähig Aufgaben zu erfüllen. Auch die Erwartungen sind häufig dieselben, nämlich Dankbarkeit und angepasstes Verhalten.

Im Workshop wurde auch über den Zusammenhang zwischen Inklusion und Kolonialismus diskutiert. Welche Aspekte kamen hier zur Sprache?

Gummich: Den meisten Teilnehmenden war nicht bewusst beziehungsweise bekannt, dass die Intersektion von Rassismus und Ableismus auch historisch verankert ist. Rassismus in seiner heutigen Form hat seinen Ursprung im Kolonialismus und hat bis heute eine starke ableistische Komponente. Schwarzen Menschen, Indigenen Menschen, People of Color im Allgemeinen wurde mit der rassistischen Hierarchisierung von Menschen bestimmte intellektuelle Fähigkeiten ab- und manchmal bestimmte körperliche Eigenschaften zugeschrieben. Dazu gehören Annahmen wie etwa, dass sie seien zu dumm für ‚höhere‘ Bildung, könnten gut tanzen oder würden weniger Schmerzen empfinden. Wenn Menschen aus rassistischen Gründen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen werden, läuft das dem Anspruch einer inklusiven Gesellschaft zuwider.

Ein weiterer Aspekt im Workshop war der Zusammenhang von Kolonialismus und Ableismus, der sich unter anderem in den kolonial-rassistischen Völkerschauen manifestierte oder in oft grausamen medizinischen Versuchen und als Strafaktionen ausgegebene Verstümmelungen in den damaligen deutschen Kolonien. Schließlich wurde auch über die Herkunft des Fachbegriffs „Down Syndrom“ aufgeklärt, Das Syndrom, eine genetische Variante bei dem das Chromosom 21 dreifach statt wie meist zweifach vorhanden ist und das sowohl körperlich wie intellektuell Auswirkungen haben kann, wurde nach dem Arzt John Langdon Down benannt. Dieser zog damals gängige wissenschaftlich begründete medizinische und kolonial-rassistische,Diskurse heran, um das Syndrom, zu beschreiben. Wie bei Down wurde in Diskursen des neunzehnten Jahrhunderts häufig rassistische und ableistische Zuschreibungen miteinander verknüpft.

Welche Erkenntnisse ergaben sich aus dem Workshop für den weiteren Diskurs aber auch für die Praxis?

Gummich: Es braucht mehr partizipative Forschung zu spezifischen Lebensbedingungen, mehr Vernetzung von Organisationen, die in beiden Bereichen tätig sind und Unterstützung von Selbstorganisationsstrukturen sowie Empowerment von rassifizierten behinderten Menschen.

Wie können Unterstützung und Empowerment konkret aussehen?

Gummich: Intersektionale Vulnerabilität anzuerkennen, wäre ein wichtiger erster Schritt in Richtung Empowerment. Dann natürlich Wissensvermittlung und Bewusstseinsbildung: Wie sehen die Lebensrealitäten von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) mit Behinderungen aus? Auf welche Barrieren stoßen sie? Was haben sie für Bedarfe? Die Ausbildung von Multiplikator*innen, die sich in beiden Bereichen auskennen, sollte gefördert werden. Und natürlich braucht es genügend Ressourcen, um die Bildung und den Ausbau von Selbstorganisationen zu stärken.

Welche vertiefenden Materialien, Webseiten etc. zum Thema kannst du interessierten Personen empfehlen?

Gummich: Wie eben erwähnt gibt es im deutschsprachigen Kontext noch viel zu wenig Forschung. Wenn, dann gibt es eher Veröffentlichungen unter dem Thema Migration und Behinderung. Es gibt einige Autor*innen, die die Perspektive auf die Verflechtung von Rassismus und Ableism richten. Nachfolgend einige Beispiele:

Robel Afeworki Abay: Dekolonialisierung des Wissens, Eine partizipative Studie zu Diskriminierung und Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen.

Donja Amipur: Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive.

Iman Attia: Die gewaltvolle Wirklichkeit der ‚Vervollkommnung‘ des Menschen. Zur historischen Interrelation von Rassismus und Ableismus.

Iman Attia: Rassismusforschung trifft auf Disability Studies Zur Konstruktion und Marginalisierung von „Fremdheit“ und „Behinderung“ als Andere.

Marianne Pieper: Assemblagen von Rassismus und Ableism. Selektive Inklusion und die Fluchtlinien affektiver Politiken in emergenten Assoziationen.

Marianne Pieper und Jamal Haji Mohammadi, Partizipation mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt. Ableism und Rassismus – Barrieren des Zugangs. In: Gudrun Wansing, Manuela Westphal (Hrsg.): Behinderung und Migration - Inklusion, Diversität, Intersektionalität

Weitere Interviews folgen.

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