„Die Verflechtung von Rassismus und Ableismus ist historisch verankert“
Interview mit Judy Gummich, Diversity-Trainerin und Moderatorin des Workshops „Intersektionale Perspektive auf Rassismus und Ableism“
Warum ist es wichtig, die intersektionale Dimension, also die Verflechtung und das Zusammenwirken von Rassismus und Ableismus, stärker in den Blick zu nehmen? Welche Chancen vergeben wir uns, wenn wir beide getrennt voneinander betrachten?
Gummich: Das ist menschenrechtlich begründet. Da Menschenrechte für alle Menschen gelten, ist es erforderlich, auch alle in den Blick zu nehmen und sich die Frage zu stellen: Wer fällt bei der persönlichen Sichtweise und den eigenen Aktivitäten durchs Raster? Dies sind – bezogen auf das Thema hier – häufig Schwarze behinderte Menschen/ behinderte Menschen of Color, die weder im Kontext Rassismus, Flucht oder Migration noch im Kontext Behinderung, machtkritisch als Ableismus benannt, mitgedacht und miteinbezogen werden. So sind zum Beispiel Unterkünfte für geflüchtete Menschen häufig nicht ausreichend barrierefrei oder Schwarze behinderte Menschen sind bei Inanspruchnahme von behinderungsbedingtem Nachteilsausgleich mit rassistischen Äußerungen konfrontiert. Werden diese Bevölkerungsgruppen ignoriert, so werden diese auch bei Maßnahmen zum Diskriminierungsschutz nicht miteinbezogen.
Welche Anliegen und Standpunkte waren den Teilnehmenden des Workshops besonders wichtig?
Gummich: Wenn die beiden Machtverhältnisse Rassismus und Ableismus getrennt betrachtet und gegenübergestellt werden, zeigen sich viele Parallelen. Dadurch rücken Wirkmechanismen und Strukturen eher in den Fokus und lassen Ansatzpunkte für Veränderungen auch hinsichtlich der Intersektion von Rassismus und Ableismus erkennen. Beispiele für Parallelen von Rassismus und Ableismus sind die räumliche Ausgrenzung in Form von Werkstätten und Geflüchtetenunterkünfte, oder abwertende Attribute, mit denen beide Gruppen konfrontiert werden, etwa die Zuschreibungen, sie seien bedürftig, nicht intelligent, unfähig Aufgaben zu erfüllen. Auch die Erwartungen sind häufig dieselben, nämlich Dankbarkeit und angepasstes Verhalten.
Im Workshop wurde auch über den Zusammenhang zwischen Inklusion und Kolonialismus diskutiert. Welche Aspekte kamen hier zur Sprache?
Gummich: Den meisten Teilnehmenden war nicht bewusst beziehungsweise bekannt, dass die Intersektion von Rassismus und Ableismus auch historisch verankert ist. Rassismus in seiner heutigen Form hat seinen Ursprung im Kolonialismus und hat bis heute eine starke ableistische Komponente. Schwarzen Menschen, Indigenen Menschen, People of Color im Allgemeinen wurde mit der rassistischen Hierarchisierung von Menschen bestimmte intellektuelle Fähigkeiten ab- und manchmal bestimmte körperliche Eigenschaften zugeschrieben. Dazu gehören Annahmen wie etwa, dass sie seien zu dumm für ‚höhere‘ Bildung, könnten gut tanzen oder würden weniger Schmerzen empfinden. Wenn Menschen aus rassistischen Gründen bestimmte Fähigkeiten abgesprochen werden, läuft das dem Anspruch einer inklusiven Gesellschaft zuwider.
Ein weiterer Aspekt im Workshop war der Zusammenhang von Kolonialismus und Ableismus, der sich unter anderem in den kolonial-rassistischen Völkerschauen manifestierte oder in oft grausamen medizinischen Versuchen und als Strafaktionen ausgegebene Verstümmelungen in den damaligen deutschen Kolonien. Schließlich wurde auch über die Herkunft des Fachbegriffs „Down Syndrom“ aufgeklärt, Das Syndrom, eine genetische Variante bei dem das Chromosom 21 dreifach statt wie meist zweifach vorhanden ist und das sowohl körperlich wie intellektuell Auswirkungen haben kann, wurde nach dem Arzt John Langdon Down benannt. Dieser zog damals gängige wissenschaftlich begründete medizinische und kolonial-rassistische,Diskurse heran, um das Syndrom, zu beschreiben. Wie bei Down wurde in Diskursen des neunzehnten Jahrhunderts häufig rassistische und ableistische Zuschreibungen miteinander verknüpft.
Welche Erkenntnisse ergaben sich aus dem Workshop für den weiteren Diskurs aber auch für die Praxis?
Gummich: Es braucht mehr partizipative Forschung zu spezifischen Lebensbedingungen, mehr Vernetzung von Organisationen, die in beiden Bereichen tätig sind und Unterstützung von Selbstorganisationsstrukturen sowie Empowerment von rassifizierten behinderten Menschen.
Wie können Unterstützung und Empowerment konkret aussehen?
Gummich: Intersektionale Vulnerabilität anzuerkennen, wäre ein wichtiger erster Schritt in Richtung Empowerment. Dann natürlich Wissensvermittlung und Bewusstseinsbildung: Wie sehen die Lebensrealitäten von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) mit Behinderungen aus? Auf welche Barrieren stoßen sie? Was haben sie für Bedarfe? Die Ausbildung von Multiplikator*innen, die sich in beiden Bereichen auskennen, sollte gefördert werden. Und natürlich braucht es genügend Ressourcen, um die Bildung und den Ausbau von Selbstorganisationen zu stärken.
Welche vertiefenden Materialien, Webseiten etc. zum Thema kannst du interessierten Personen empfehlen?
Gummich: Wie eben erwähnt gibt es im deutschsprachigen Kontext noch viel zu wenig Forschung. Wenn, dann gibt es eher Veröffentlichungen unter dem Thema Migration und Behinderung. Es gibt einige Autor*innen, die die Perspektive auf die Verflechtung von Rassismus und Ableism richten. Nachfolgend einige Beispiele:
Robel Afeworki Abay: Dekolonialisierung des Wissens, Eine partizipative Studie zu Diskriminierung und Teilhabe an Erwerbsarbeit von BIPoC mit Behinderungserfahrungen.
Donja Amipur: Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive.
Iman Attia: Die gewaltvolle Wirklichkeit der ‚Vervollkommnung‘ des Menschen. Zur historischen Interrelation von Rassismus und Ableismus.
Iman Attia: Rassismusforschung trifft auf Disability Studies Zur Konstruktion und Marginalisierung von „Fremdheit“ und „Behinderung“ als Andere.
Marianne Pieper: Assemblagen von Rassismus und Ableism. Selektive Inklusion und die Fluchtlinien affektiver Politiken in emergenten Assoziationen.
Marianne Pieper und Jamal Haji Mohammadi, Partizipation mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt. Ableism und Rassismus – Barrieren des Zugangs. In: Gudrun Wansing, Manuela Westphal (Hrsg.): Behinderung und Migration - Inklusion, Diversität, Intersektionalität