„Das Grundgesetz braucht Menschen, die es verteidigen und für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat eintreten.“
Wie robust ist das Grundgesetz? Wie sinnvoll sind Verfassungsklagen zum Schutz der Menschenrechte? Warum hat das Recht auf Asyl keineswegs ausgedient? Ein Interview mit Institutsdirektorin Beate Rudolf über Errungenschaften der Verfassung und Lücken im Grundrechtskatalog.
Ist Deutschland in einer guten Verfassung?
Beate Rudolf: Wir haben in Deutschland eine gute Verfassung, die den Menschen mit seiner Würde und seinen Rechten in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig stehen wir aus Menschenrechtsperspektive vor großen Herausforderungen, zum Beispiel wegen der Klimakrise und des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Und das sind nur zwei Entwicklungen, die Menschen Angst vor der Zukunft machen. Menschen, die gerade nach der Corona-Pandemie veränderungsmüde sind. In dieser Situation verfangen die menschen- und demokratieverachtenden Parolen rechtsextremistischer Akteure leichter, weil sie eine radikal vereinfachte Weltsicht anbieten, die die Komplexität der Welt und die Erkenntnisse der Wissenschaft verleugnet, die Sündenböcke produziert, den demokratisch gebotenen Kompromiss verächtlich macht und die Unzufriedenheit in Hass verwandeln. Das schafft für so manche eine emotionale Entlastung, löst aber kein einziges Problem.
Deshalb: Deutschland ist in guter Verfassung, wenn Politik und Gesellschaft klar für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat eintreten. Die Demonstrationen, die es seit Jahresanfang für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit gibt, machen mir Mut, und ich setze darauf, dass die Menschen jetzt auch vor Ort aktiv werden, um sich gegen Gewalt im Wahlkampf– gegen Menschen und gegen Sachen – zu stellen.
Große Sorge bereitet mir allerdings, wenn aus der Politik die Einschränkung oder gar Abschaffung von Grundrechten gefordert wird. Gerade für die schwierigen Fragen haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Grundrechte als verbindlichen Maßstab geschaffen – auch für den Gesetzgeber. Das müssen Demokrat*innen beherzigen.
Ist der Menschenrechtsschutz ausreichend im Grundgesetz verankert?
Rudolf: Der Menschenrechtsschutz durch das Grundgesetz ist in vieler Hinsicht eine Erfolgsgeschichte – vor allem dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das auf gesellschaftliche oder technologische Entwicklungen reagiert. So haben wir ein Grundrecht auf Datenschutz erhalten und das Selbstbestimmungsrecht von trans, intergeschlechtlichen und nicht binären Menschen, das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle und das Recht auf wirksamen Klimaschutz zum Schutz künftiger Freiheit wurden anerkannt.
Große Lücken gibt es jedoch bei den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit, doch das Recht auf Wohnen ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich enthalten. Gleiches gilt für das Recht auf Bildung, das die Grundlage für die Wahrnehmung aller Menschenrechte ist. Es ist auch zentral für ein Land, in dem die Köpfe der Menschen unsere größte Ressource sind. Das Bundesverfassungsgericht hat das Menschenrecht auf schulische Bildung erst Ende 2022 anerkannt, obwohl es seit 1976 durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Deutschland gilt. Das zeigt: Deutschland kann und sollte sich bei den Grundrechten viel stärker auf die internationalen Menschenrechte beziehen.
Was könnte das Grundgesetz von den internationalen Menschenrechtsnormen übernehmen?
Rudolf: Den Blickwinkel der sozialen Menschenrechte: Es geht immer darum, dass der Staat nicht selbst die Menschenrechte verletzten darf, dass er vor Verletzungen durch Private schützen muss und dass er den Rahmen schaffen muss, damit die Rechte ausgeübt werden können. Und der Staat muss hierbei immer besonderes Augenmerk auf die Menschen in verletzlichen Situationen legen. Für das Recht auf Wohnen heißt das beispielsweise, dass der Staat sicherstellen muss, dass Menschen bei einer Zwangsräumung nicht obdachlos werden, und er muss bei langen Verweildauern in Unterkünften – mittlerweile in Deutschland oft mehrjährig – menschenwürdige Mindeststandards sichern und die Rückkehr in eine Wohnung unterstützen.
Auch von der UN-Frauenrechtskonvention, der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Anti-Rassismus-Konvention kann das Grundgesetz lernen: Diskriminierung im Rechtssinne der Menschenrechtsverträge umfasst mehr als Ungleichbehandlung; es geht auch und gerade um Marginalisierung, um Ausschluss und um Gewalt. Diskriminierung findet in gesellschaftlichen Machtverhältnissen statt, die sich in stereotypen Bildern, im Recht und in gesellschaftlicher Praxis niederschlagen.
Hiervon zu lernen, heißt nicht zwingend, dass wir das Grundgesetz ändern müssen. Es geht darum anzuwenden, was die Menschenrechtsverträge ausbuchstabieren. Auch das Verfassungsgericht hat unmissverständlich gesagt, dass die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Menschenrechte auszulegen sind. Das sollte viel stärker geschehen – um alle Menschenrechte in Deutschland für alle zu verwirklichen.
Welche Rolle spielt das Deutsche Institut für Menschenrechte, wenn es darum geht, das Grundgesetz anzuwenden und zu fördern?
Rudolf: Das Institut berät die Politik durch Stellungnahmen in Gesetzgebungsverfahren, damit von Anfang an die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen beachtet werden. Wir äußern uns auch in Gerichtsverfahren und unterstützen Gerichte dabei, die menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands umfassend wahrzunehmen und in ihren Urteilen anzuwenden.
Wir fördern Menschenrechtsbildung insbesondere für menschenrechtsnahe Berufsgruppen, seien es Richter*innen, Anwält*innen, Sozialarbeitende oder Lehrkräfte. Diese Berufsgruppen müssen wissen, welche menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschland als Staat hat und wie sie sie erfüllen oder fördern können.
In Hessen sind die Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen worden, aber im Grundgesetz sind sie nicht verankert: Sollte das geändert werden?
Rudolf: Ja, unbedingt! Ich bedauere sehr, dass die Kinderrechte in der vergangenen Legislaturperiode nicht im Grundgesetz verankert wurden, und dass auch die Ampel-Koalition das noch nicht auf den Weg gebracht hat, obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart.
Die Kinderrechte haben drei Dimensionen: das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Schutz und das Recht auf Gehör und auf Beteiligung. In der Corona-Pandemie beispielsweise standen die Rechte von Kindern nicht im Fokus. Wir haben in Deutschland früh über die Öffnung der Bundesliga diskutiert, aber lange nicht über Öffnung von Schulen und das Recht von Kindern auf Entwicklung. Kinder und Jugendliche wurden nicht gehört. Sie müssen aber die Möglichkeit haben, sich für ihre Interessen einzusetzen. Das ist ihr Recht. Nur so erfahren sie Selbstwirksamkeit und gewinnen Zuversicht für die Zukunft und Vertrauen in unseren Staat. Die Kinderrechte in der Verfassung zu verankern, trägt also auch dazu bei, unsere Demokratie abzusichern.
Wie stehen Sie zu dem Begriff „Rasse“ im Grundgesetz? Wären Sie dafür, für alle vulnerablen Gruppen explizit Rechte im Grundgesetz festzuschreiben?
Rudolf: Das Institut setzt sich seit langem dafür ein, dass im Grundgesetz der Begriff der Rasse durch den Begriff der rassistischen Diskriminierung ersetzt wird. Bei „Rasse“ denken die meisten an biologistische Konzepte, aber es geht viel häufiger um kulturalistische Zuschreibungen in Zusammenhang mit der Herkunft oder Religion von Menschen. Es geht dabei um ein essentialistisches Verständnis, wonach Menschen durch die Zuschreibung unveränderbarer Eigenschaften, Überzeugungen und Praktiken charakterisiert und abgewertet oder ausgegrenzt werden. Die Einführung des Begriffs „rassistische Diskriminierung“ im Grundgesetz würde den Blick der Politik, Verwaltung und Justiz für das Verständnis von solchem zeitgenössischen Rassismus öffnen. Zugleich würde der Begriff die herkömmlichen Formen von Rassismus weiterhin erfassen.
Als das Grundgesetz geschaffen wurde, dachte man bei Diskriminierung „wegen der Rasse“ vor allem an Antisemitismus. Doch darüber hinaus gilt das Grundgesetz zweifellos auch für antimuslimischen Rassismus, Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja und Rassismus gegen Schwarze Menschen. Genau das bildet der Begriff „rassistische Diskriminierung“ auch ab.
Wichtig wäre es auch, das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität ausdrücklich ins Grundgesetz aufzunehmen. Die vergiftete öffentliche Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, Verachtung, Hass und Gewalt gegen Lesben, Schwule, bisexuelle, trans und nicht binäre Menschen (LSBTIQ*), all dies zeigt: Das Grundgesetz muss hier klar Position beziehen. Denn es geht um das Fundament unserer Verfassung – gleiche Würde und gleiche Rechte aller Menschen.
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ heißt es im Grundgesetz. Hat Artikel 16a nach der GEAS-Reform ausgedient?
Rudolf: Das Recht auf Asyl hat keineswegs ausgedient! Deutschlands Bekenntnis 1949, dass politisch Verfolgten Asyl zu gewähren ist, bleibt bestehen – und zwar unabhängig von Änderungen im gemeinsamen Asylsystem (GEAS) der Europäischen Union (EU). Das heißt aber umgekehrt nicht, dass GEAS-Änderungen nicht problematisch sind.
Wir befürchten, dass die neuen EU-Regelungen menschenrechtswidrige Zustände an den Grenzen legitimieren. Schutzsuchende können inhaftiert werden, sogar Familien mit minderjährigen Kindern, und besonders vulnerable Personen werden nicht ausreichend geschützt. Beispielsweise werden sich Betroffene von sexualisierter Gewalt im kurzen Screeningverfahren an der Grenze wahrscheinlich nicht offenbaren; sie müssen ja erst einmal Vertrauen zu staatlichen Akteuren fassen. In den kommenden Monaten werden wir als Institut kritisch beobachten, ob die Menschenrechte an den Grenzen Deutschlands und der EU geachtet werden.
Wie sinnvoll sind Verfassungsklagen zum Schutz der Menschenrechte?
Rudolf: Ich halte Klagen und Beschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht für sehr sinnvoll. Sie ermöglichen, den Inhalt des Grundgesetzes in großen und wichtigen gesellschaftlichen Fragen klarzustellen. Verfassungsklagen können die Politik dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen – und zwar dort, wo sie es vielleicht vermeidet.
Man darf aber nicht glauben, dass der Weg über das Verfassungsgericht der Königsweg ist. Wir brauchen eine Politik, die in der Gesetzgebung die Menschenrechte von Anfang an berücksichtigt und sich nicht zurücklehnt und sagt, „sollen doch die Gerichte hinterher aufräumen“. Die Politik muss ihre menschenrechtliche Verantwortung wahrnehmen und auch gegen Widerstände für die Menschenrechte eintreten. Der Weg über das Verfassungsgericht ist immer das letzte Mittel.
Während der Corona-Pandemie wurden zahlreiche Grundrechte eingeschränkt. Hat die Politik richtig gehandelt oder überreagiert?
Rudolf: Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort. Denn jede Maßnahme muss vor dem Hintergrund des Wissensstandes zu dem Zeitpunkt, zu dem sie beschlossen wurde, bewertet werden. Weil das Virus eine tödliche Gefahr für eine Vielzahl von Menschen darstellte, war es legitim, zahlreiche Grundrechte zu beschränken. Ob die Beschränkungen aber auch verhältnismäßig waren und somit Grundrechte nicht verletzten, ist damit noch nicht gesagt. Das hängt davon ab, ob es eine nachvollziehbare Prognose für die Wirkung der Maßnahme gab und wie schwer die Beeinträchtigung war. Beides veränderte sich über die Zeit: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse wurden gewonnen und Einschränkungen wurden schwerwiegender, je länger sie dauerten. Deshalb hat das Institut von Anfang an gefordert, dass die Maßnahmen nicht von der Regierung erlassen werden, sondern durch den Gesetzgeber. Denn die parlamentarische Debatte zwingt dazu, öffentlich Rechenschaft abzulegen über die Grundlagen einer Entscheidung, ihre Ziele und die Alternativen.
Wir haben auch sehr früh und sehr klar darauf hingewiesen, dass einige Maßnahmen bestimmte vulnerable Gruppen besonders treffen und dass hier gegengesteuert werden muss. Wir haben unter anderem darauf hingewiesen, dass Kontaktverbote Menschen in Pflegeheimen, Senioreneinrichtungen oder Jugendhilfeeinrichtungen besonders schwer treffen. Diese Einrichtungen hätten deshalb vorrangig Unterstützung, etwa durch Masken und Tests, bekommen müssen. Auch die Abriegelung von Unterkünften für Geflüchtete bei Auftreten einzelner Corona-Infektionen war menschenrechtlich problematisch, weil gesunde Menschen dort gezwungen wurden, sich dem Risiko einer Ansteckung auszusetzen, da Abstands- und Isolierungsmöglichkeiten fehlten.
Gleichzeitig funktionierten die Gerichte in Deutschland während der Pandemiezeit. Etliche Menschen haben vor Verwaltungsgerichten und Verfassungsgerichten der Länder bis hin zum Bundesverfassungsgericht Corona-Maßnahmen überprüfen lassen. Beispielsweise hat das Verfassungsgericht sich gleich zu Beginn der Pandemie klar gegen das pauschale Verbot von Demonstrationen gestellt und damit eine schwere Fehlentscheidung der Regierung korrigiert.
Viele Menschen fürchten, die AfD könnte Grundrechte aufweichen oder sogar abschaffen. Wie robust ist das Grundgesetz?
Rudolf: Das Grundgesetz ist schon dadurch geschützt, dass Änderungen nur mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat möglich sind. Wir sind glücklicherweise weit davon entfernt, dass Feind*innen der Demokratie, von Verfassung und Rechtsstaat eine solche Mehrheit in Bund haben. Doch verfassungsfeindliche Parteien können ein Blockadepotenzial entfalten. Es gibt genügend Beispiele, sei es in Ungarn oder Polen. Dort haben wir Angriffe auf unabhängige Institutionen, insbesondere auf das Verfassungsgericht, gesehen.
Um sicherzustellen, dass Grundgesetz und Verfassungsordnung robust geschützt bleiben, muss das Bundesverfassungsgericht vor Eingriffen gegen seine Unabhängigkeit geschützt werden. Es braucht Regelungen zu Anzahl und Auswahlverfahren der Richter*innen, die eine Bundestagsmehrheit nicht ändern kann. Dabei geht es vor allem um die Fragen: Was geschieht bei einer Blockade? Wie wird sichergestellt, dass das Verfassungsgericht über sein internes Funktionieren selbst entscheidet? Das muss verfassungsrechtlich abgesichert werden. Ich bin froh, dass jetzt endlich darüber diskutiert wird. Denn das Grundgesetz allein stellt nicht sicher, dass wir in guter Verfassung sind. Das Grundgesetz braucht Menschen, die es verteidigen und für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat eintreten.