Nach Schätzungen der Vereinten Nationen hungern weltweit 735 Millionen Menschen, obwohl jeder Mensch ein Menschenrecht auf Nahrung hat. Welche Ursachen das hat und was dagegen helfen kann, verrät Sarah Luisa Brand, Institutsexpertin zum Recht auf Nahrung, im Interview.
Nach Angaben der Vereinten Nationen hungern weltweit 735 Millionen Menschen. Und das, obwohl jeder Mensch ein Recht auf Nahrung hat. Warum ist das so?
Sarah Luisa Brand: Gleich vorab: Im Jahr 2024 müsste kein Mensch mehr hungern, denn es wird genug Nahrung für alle produziert. Hunger ist also vor allem die Folge ungleichen Zugangs zu Nahrung. Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht genug zu essen haben, beispielsweise Armut, Diskriminierung oder soziale Benachteiligung. Kriege und bewaffnete Konflikte führen dazu, dass Menschen ihr Zuhause und ihr Einkommen verlieren und landwirtschaftliche Flächen, Betriebe oder Infrastruktur zerstört werden. Auch Überschwemmungen oder Dürren können zu Hunger und Mangelernährung führen. Weitere Ursachen liegen in schlechtem Regierungshandeln – wenn Regierungen korrupt sind oder Ernährungssicherheit nicht ausreichend priorisieren. In Ländern, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, zum Beispiel im Sudan oder im Jemen, führen Preissteigerungen dazu, dass Menschen sich nicht ausreichend Lebensmittel leisten können. Diejenigen mit geringem Einkommen sind immer am stärksten betroffen.
Was besagt das Menschenrecht auf Nahrung und wo ist es festgeschrieben?
Brand: Das Menschenrecht auf Nahrung besagt, dass Nahrung für jeden Menschen angemessen, verfügbar, zugänglich und bezahlbar sein muss. Völkerrechtlich verbindlich ist es in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 verankert. 2004 verabschiedete die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) in Rom „Freiwillige Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernährungssicherung“. Die Erarbeitung der Leitlinien war bahnbrechend: Zum ersten Mal gelang es, ein zwischenstaatlich abgestimmtes und mit aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft erarbeitetes Dokument zu entwickeln, das sich der konkreten Umsetzung eines der im UN-Sozialpakt anerkannten Rechte widmet. Die Leitlinien enthalten konkrete Empfehlungen, beispielsweise zur Sicherung des Zugangs zu Ressourcen wie Land, Wasser oder Saatgut, zur Verbesserung von landwirtschaftlichen Strukturen, Produktivität und Vermarktung oder zur Einrichtung von sozialen Sicherungssystemen. Die Leitlinien haben die Entwicklung weiterer Instrumente durch die Vereinten Nationen gefördert, sodass Staaten heute auf verschiedene Orientierungshilfen für die Umsetzung des Rechtes auf Nahrung zurückgreifen können.
Welche Fortschritte gibt es bei der Verwirklichung des Rechts auf Nahrung?
Brand: Viele Staaten haben in den letzten 20 Jahren politische Maßnahmen zur Bewältigung von Hunger und Fehlernährung ergriffen und das Recht auf Nahrung in nationalen Gesetzen verankert. Weltweit beziehen sich Menschen in ihrem Kampf um bessere Lebensbedingungen und Mitsprache auf ihre Rechte, einschließlich des Rechts auf Nahrung. Durch die Einrichtung von Ernährungsräten auf lokaler oder nationaler Ebene haben viele Staaten Mechanismen geschaffen, um politische Entscheidungsprozesse partizipativer zu machen.
Was sind die aktuellen Herausforderungen beim weltweiten Kampf gegen Hunger?
Brand: Derzeit nehmen weltweit Hunger, Fehl- und Mangelernährung wieder zu. Dies sind die Folgen der Covid 19-Pandemie und der aktuellen bewaffneten Konflikte, etwa in der Ukraine, im Sudan oder in Gaza. Auch der Klimawandel und der Verlust an Biodiversität bedrohen die Ernährungssicherheit weltweit – diese Bedrohung wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen.
Ein weiterer zentraler Faktor ist die wachsende Ungleichheit innerhalb von Staaten, beispielsweise wenn Frauen diskriminiert werden. Aber auch die Ungleichheit zwischen Staaten wächst aufgrund von unfairen Handelsbeziehungen.
Was muss sich ändern?
Brand: Um alle Menschen weltweit ernähren zu können müssen die Agrar- und Ernährungssysteme weltweit verändert werden – hin zu mehr Partizipation, Biodiversität, Nachhaltigkeit und lokaler Produktion. Die Politik muss dafür sorgen, dass die lokale, kleinbäuerliche Produktion gefördert und Ressourcen stärker geschont werden, und dass qualitativ hochwertige Nahrung für alle erschwinglich ist. Die internationale Zusammenarbeit spielt auch eine wichtige Rolle: Länder, die von Nahrungsmittelimporten abhängig sind, sollten ihre Eigenversorgung und Reserven erhöhen können, so dass temporäre Preisschwankungen auf den internationalen Märkten keine dramatischen Auswirkungen auf die Nahrungssicherheit haben. Generell wäre ein Verbot von Finanzspekulation mit Nahrungsmitteln wünschenswert. All diese Veränderungen müssen menschenrechtsbasiert erfolgen. Das heißt unter anderem, dass benachteiligte Gruppen die Prozesse gleichberechtigt mitgestalten können.
Und ganz wichtig: Wer Menschenrechte verletzt – also auch das Recht auf Nahrung – muss dafür zur Verantwortung gezogen werden können. Bislang blieben Verstöße weitgehend straflos. Blockaden humanitärer Hilfe und der kalkulierte Einsatz von Hunger als Waffe sind immer noch viel zu häufig Teil von bewaffneten Konflikten, obwohl sie vom humanitären Völkerrecht als Kriegsverbrechen geächtet sind. Leider werden diejenigen, die das Recht auf Nahrung oder humanitäres Völkerrecht verletzen, viel zu selten zur Rechenschaft gezogen.
(veröffentlicht am 3. Juni 2024)