Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben nach Art. 11 Abs. 4 EU-Richtlinie 2011/36/EU die Verpflichtung, erforderliche Maßnahmen zu treffen, um in Zusammenarbeit mit den einschlägigen Opferbetreuungsorganisationen geeignete Verfahren für die frühzeitige Erkennung, Unterstützung und Betreuung von Opfern festzulegen. Im Rahmen des Reformvorschlages der EU-Kommission vom 19. Dezember 2022 wurden Vorschläge zur Änderung der Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer veröffentlicht. Darunter befindet sich auch der Vorschlag, nationale Verweismechanismen und nationale Kontaktstellen in den Mitgliedstaaten formell mittels Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu errichten. Die Kommission kündigt an, ergänzende Leitlinien für die Mindestanforderungen an nationale Verweismechanismen zu erarbeiten. Regionale Unterschiede sollen möglichst behoben werden, um Beeinträchtigungen und Verzögerungen bei der Weiterleitung von Betroffenen an geeignete Schutz-, Unterstützungs- und Betreuungsdienste zu verhindern.
Auch die unabhängige Expert*innengruppe des Europarats für die Bekämpfung des Menschenhandels (GRETA) mahnt die Einrichtung eines formalisierten Verfahrens für Deutschland schon seit Langem an, zuletzt 2019 in den Empfehlungen der zweiten Evaluationsrunde.
Bundesländer ergreifen Maßnahmen zum Schutz von Betroffenen
In Deutschland gibt es aktuell keinen bundesweit einheitlichen Nationalen Verweisungsmechanismus für Betroffene von Menschenhandel. Jedoch wurden in den vergangenen Jahren mehrere Kooperationsdokumente für die Zusammenarbeit zwischen Bundesbehörden und bundesweit arbeitenden Beratungsnetzwerken und Dachverbänden verfasst. Zudem haben mehrere Bundesländer in den letzten Jahrzehnten Zuständigkeiten und Verfahrensabläufe zwischen relevanten behördlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren etabliert. Diese basieren auf informellen Routinen, regelmäßig tagenden Gremien (zum Beispiel Runde Tische) und formellen Kooperationsdokumenten. Solche Kooperationsdokumente können beispielsweise in Form von bindenden ministeriellen Erlassen, multilateralen Abkommen oder nicht bindenden Leitfäden ausgestaltet sein. Sie haben unterschiedliche Entstehungshintergründe und Zielsetzungen, die sich nicht mit denen eines NRM decken müssen. Diese Dokumente sind nur teilweise öffentlich zugänglich und wurden der Berichterstattungsstelle Menschenhandel im Rahmen einer bundesweiten Abfrage zur Verfügung gestellt.
Systematische Analyse von Kooperationsdokumenten
In Kenntnis der Tatsache, dass die bereits entwickelten Kooperationsdokumente zu anderen Zwecken und unter jeweils eigenen Hintergründen entstanden sind, untersucht die vorliegende qualitative Inhaltsanalyse, inwieweit solche Kooperationsdokumente in den Bundesländern bereits wichtige Kriterien eines NRM erfüllen. Diese Kriterien wurden entlang der vier von der OSZE definierten Säulen eines NRM entwickelt und geprüft. Dieser systematische Vergleich von Kooperationsdokumenten soll Potenziale der Bundesländer hervorheben, auf die bei der Entwicklung eines NRM in Deutschland aufgebaut werden kann. Dokumente auf kommunaler Ebene wurden nicht berücksichtigt. In einem zweiten Schritt werden Kooperationsdokumente, die auf Bundesebene existieren, analysiert und ergänzt.
Da die Umsetzung wichtiger NRM-Kriterien in den Bundesländern nicht immer und nicht umfänglich im Rahmen der Kooperationsdokumente erfolgt, lässt eine qualitative Dokumentenanalyse keine abschließende Bewertung der tatsächlichen Zusammenarbeit der Akteure zu. Die Analyse bildet weder Strukturen (zum Beispiel Runde Tische) oder standardisierte Verfahrensabläufe ab, die unabhängig von schriftlichen Dokumenten existieren, noch wurde die praktische Anwendung der Dokumente geprüft. Eine weitergehende Darstellung der vorhandenen Strukturen erfolgt im Periodischen Bericht der Berichterstattungsstelle Menschenhandel, der voraussichtlich Ende 2024 veröffentlicht wird. Dennoch bieten die vorliegenden Ergebnisse eine Grundlage zur Entwicklung, Aktualisierung und Überarbeitung von Kooperationsdokumenten in den Bundesländern, um somit eine größere Einheitlichkeit beim Schutz von Betroffenen von Menschenhandel in Deutschland zu erreichen. Die Ergebnisse der Analyse können auf den Unterseiten der Säulen über Landkarten erschlossen werden.