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„Inklusion kommt allen Menschen zugute“

15 Jahre UN-BRK: Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind in den letzten 15 Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt, aber an der Umsetzung in die Praxis hapert es noch. © iStock.com / SolStock

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Deutschland seit 15 Jahren in Kraft. Wie steht es um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen? Ein Interview mit Britta Schlegel und Leander Palleit über Fortschritte, Widerstände und mehr Fantasie für inklusive Lösungen.

Als die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft trat, waren die Hoffnung auf rasche Veränderungen groß. Hat sich die Situation von Menschen mit Behinderungen seither verbessert?

Leander Palleit: Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind in den letzten 15 Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und es gab Fortschritte vor allem auf gesetzgeberischer Ebene, etwa im Wahlrecht, das behinderte Menschen nun nicht mehr von der Wahl ausschließt, und im Betreuungsrecht, das sich nun am Willen der unterstützten Person orientiert. Außerdem hat jetzt jedes Bundesland einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Das klingt alles erst mal vielversprechend, aber bei der Umsetzung in die Praxis hapert es gewaltig.

Britta Schlegel: Deutschland ist immer noch nicht inklusiv. Inklusion heißt, dass alle Lebensbereiche für Menschen mit Behinderungen offenstehen – von Anfang an und unabhängig von der Art und Schwere einer Beeinträchtigung. Es gibt heute zwar mehr inklusive Angebote als vor 15 Jahren, aber der Anteil an Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen wie Förderschulen oder Werkstätten für behinderte Menschen sinkt nicht. Noch immer werden sechs von zehn Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen unterrichtet. Fast jede zweite Person, die im Alltag Unterstützung benötigt, lebt in stationären Wohneinrichtungen. Bisher fehlt die notwendige Entschlossenheit von Politik, Verwaltung und den Anbietern sozialer Dienstleistungen, diese gefestigten Sonderstrukturen grundsätzlich zu verändern.

Die Vereinten Nationen haben im August 2023 zum zweiten Mal überprüft, wie Deutschland die Rechte von Menschen mit Behinderungen umsetzt. Sie waren bei der Staatenprüfung in Genf dabei. Wie fiel das Urteil aus?

Schlegel: Nicht gut. Der UN-Ausschuss war irritiert darüber, dass sich seit der letzten Staatenprüfung 2015 in zentralen Bereichen so wenig getan hat. In seinen „Abschließenden Bemerkungen“ vom Oktober 2023 hat er besonders das gerade erwähnte Festhalten an den Sonderstrukturen kritisiert. Für viele Menschen mit Behinderungen gibt es faktisch kein Wunsch- und Wahlrecht, sie müssen ihr Leben in Sondereinrichtungen verbringen, weil ihnen keine guten inklusiven Alternativen angeboten werden.

Palleit: Der Ausschuss hat klargestellt, dass solche segregierenden Strukturen gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoßen. Damit sollte allen Akteuren aus Politik und Gesellschaft, die Beibehaltung von Doppelstrukturen legitimieren und dies als Inklusion verkaufen, klar sein, dass das nicht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ist. Konkret werden zum Beispiel Werkstätten oder Förderschulen von vielen Akteuren immer noch als Teil eines inklusiven Systems bezeichnet. Das sind sie aber nicht.

„Allen Akteuren aus Politik und Gesellschaft, die die Beibehaltung von Doppelstrukturen legitimieren und dies als Inklusion verkaufen, sollte klar sein, dass das nicht im Sinne der UN-BRK ist.“

L. Palleit hat kurzes Haar, Halbglatze und einen Bart. Er trägt ein hellblaues Hemd und eine dunkle Anzugjacke.
© DIMR/A. Illing
Leander Palleit 

Am 27. Februar 2024 veranstaltete das Institut gemeinsam mit dem Bundesbehindertenbeauftragten eine Konferenz, bei der rund 800 Teilnehmende aus dem ganzen Bundesgebiet die Umsetzung der UN-BRK diskutierten. In welchen Bereichen besteht Handlungsbedarf?

Palleit: Besonders dringlich sind Veränderungen in den Bereichen selbstbestimmtes Wohnen, Bildung sowie Arbeit und Beschäftigung. Das sind genau die Bereiche mit den am stärksten segregierenden Strukturen. Vielerorts steht die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen unter Ressourcenvorbehalten. Menschenrechte sind aber nicht verhandelbar. Bestehende finanzielle und personelle Ressourcen müssen im Sinne der UN-BRK umverteilt werden. Dazu müssen tradierte Sonderstrukturen schrittweise ab- und inklusive Angebot aufgebaut werden.

Schlegel: Außerdem ist Barrierefreiheit fundamental – sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Die Privatwirtschaft muss endlich zu Barrierefreiheit verpflichtet werden, etwa als Arbeitgeber, bei Produkten und Dienstleistungen, im Gesundheitssektor und im Wohnungsbau. Auch die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen muss gestärkt werden. Der UN-Ausschuss hat beispielsweise kritisiert, dass Zwang in Form von unfreiwilliger Behandlung oder Unterbringung sowie freiheitsentziehenden Maßnahmen in der psychiatrischen Versorgung in Deutschland nach wie vor gängig ist. Menschen mit Betreuung erleben oft stellvertretende Entscheidungen, es wird dann für und über sie entschieden, obwohl sie eigentlich in ihrer eigenen Entscheidungsfindung unterstützt werden müssten. Das muss sich endlich ändern.

Wer muss jetzt tätig werden?

Schlegel: Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre ist es, die Selbstbestimmung von behinderten Menschen in allen Lebensbereichen sicherzustellen und ausgrenzende Strukturen abzubauen. Die Politik muss den Rahmen setzen, aber Inklusion ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die uns alle angeht. Einer der Gründe, warum uns die Fantasie für inklusive Lösungen fehlt, sind Berührungsängste aufgrund fehlender Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen. Wenn Kinder von Anfang an gemeinsam leben und lernen, dann gibt es auch später keine Berührungsängste. Es sollte sich endlich die Erkenntnis durchsetzen, dass Inklusion allen Menschen zugutekommt.

Palleit: Nur wenn sich die Akteure in Bund, Ländern und Kommunen zusammentun und gemeinsam überlegen, was alle in ihren Zuständigkeitsbereichen tun können – oder wie man Zuständigkeiten auch neu aufteilen könnte –, anstatt mit dem Finger auf die jeweils anderen zu zeigen, nur dann kommen wir weiter. Und auch nur, wenn alle Politikbereiche endlich begreifen, dass über 15 Prozent der Bürger*innen, für die sie in ihrem Feld Politik machen, eine Beeinträchtigung haben und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention also ihr ureigenes Thema ist, nicht nur eine sozialpolitische Angelegenheit. Überall da, wo das gelingt, sieht man auch echte Fortschritte.

„Einer der Gründe, warum uns die Fantasie für inklusive Lösungen fehlt, sind Berührungsängste aufgrund fehlender Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen.“

B. Schlegel hat schulterlanges Haar. Sie trägt ein helles Oberteil und einen dunklen Blazer.
© DIMR/B. Dietl
Britta Schlegel 

Welche Rolle sollten die Empfehlungen der Vereinten Nationen aus der Staatenprüfung für Deutschland spielen?

Schlegel: Die „Abschließenden Bemerkungen“ des UN-Ausschusses sind als Leitlinien der Inklusionspolitik des nächsten Jahrzehnts zu verstehen. Der Bund, die Länder und die Kommunen müssen es sich zur Aufgabe machen, die Rechte von Menschen mit Behinderungen umzusetzen und sich dabei eng an den Empfehlungen der Vereinten Nationen orientieren.

Palleit: Zu einem anspruchsvollem Demokratieverständnis gehört es, das Partizipationsgebot der UN-Behindertenrechtskonvention ernst zu nehmen. Die politischen Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen müssen durchgehend und konsequent politisch beteiligt werden, etwa bei der Planung von Maßnahmen oder bei Gesetzgebungsverfahren. Dies betrifft alle Politik- und Verwaltungsbereiche, denn die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine Querschnittsaufgabe.

Zur Person

Dr. Britta Schlegel ist Soziologin und arbeitet seit 2014 am Institut. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem inklusive Schulbildung, Gewaltschutz, Frauen mit Behinderungen und menschenrechtliche Datenerhebung. Seit August 2020 leitet sie die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention gemeinsam mit Dr. Leander Palleit.

B. Schlegel hat schulterlanges Haar. Sie trägt ein helles Oberteil und einen dunklen Blazer.
© DIMR/B. Dietl
Zur Person

Dr. Leander Palleit ist Jurist und seit 2009 am Institut beschäftigt. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Arbeit und Beschäftigung, Zugang zu Recht und Justiz sowie politische Partizipation. Zusammen mit Dr. Britta Schlegel leitet er seit August 2020 die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention.

L. Palleit hat kurzes Haar, Halbglatze und einen Bart. Er trägt ein hellblaues Hemd und eine dunkle Anzugjacke.
© DIMR/A. Illing

Menschenrechte im Fokus - Inklusive Bildung

Schüler*innen mit und ohne Behinderungen sollen zusammen lernen und aufwachsen, Förderschulen müssen schrittweise abgebaut werden. So lautet die Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. Doch in der Realität ist Deutschland immer noch weit entfernt von einem inklusiven Schulsystem. Warum das so ist und wie es sich ändern lässt, erfahren Sie im Video mit Institutsexpertin Dr. Susann Kroworsch.

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Publikationen zu diesem Thema

Hintergrund

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Dr. Britta Schlegel

Leitung der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Telefon: 030 259 359 - 450

E-Mail: schlegel(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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Dr. Leander Palleit

Leitung der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Telefon: 030 259 359 - 450

E-Mail: palleit(at)institut-fuer-menschenrechte.de

Kurzbiografie Leander Palleit

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