Was bedeutet „gute wissenschaftliche Praxis“?
Ortúzar: Zusammengefasst lässt es sich zuerst „ex negativo“, also in Bezug auf mögliches Fehlverhalten, erklären: Forschende sollen keine Angaben fälschen oder erfinden, sich keine fremde wissenschaftliche Leistung zu eigen machen und die Tätigkeit anderer Forschender nicht beeinträchtigen. Gute wissenschaftliche Praxis ist aber viel mehr. Sie fordert von den Forschenden ein hohes Maß an Reflexion über die eigene Arbeit, wie etwa: Bin ich inhaltlich und methodisch auf dem Laufenden? Sind unsere Interpretationen die einzigen Möglichen und entsprechen sie den Daten? Können andere meine Daten und Ergebnisse nachvollziehen? Forschende arbeiten aber nicht in einem Leerraum. Sie brauchen eine Institution, die durch ihre Organisation diese Praktiken fordern.
Walīd Malik: Das Besondere an den Leitlinien des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist, dass sie darüber hinaus festlegen, dass die Forschung am DIMR den Menschenrechten verpflichtet ist.
Was bedeutet das für die Wissenschaftler*innen?
Malik: Die menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands bilden den Ausgangspunkt der Forschung. Das gibt das Mandat des Instituts vor. Das bedeutet: Die Forschenden beginnen mit einer Fragestellung, die sich aus einer menschenrechtlichen Problemlage ableitet. Sie fragen etwa, ob Zwangsräumungen in der Praxis so verlaufen, dass das Recht der Betroffenen auf Wohnen angemessen geschützt wird. Das Institut entwickelt Indikatoren, mit denen es die Umsetzung von rechtlichen Verpflichtungen empirisch überprüfen kann. Diese erfassen beispielsweise, wie häufig Fortbildungen der Polizei zum Thema Menschenhandel stattfinden. Menschenrechtsforschung ist somit – in einem rechtlichen Sinne – normativ ausgerichtet. Anders gesagt: Die Ergebnisse von Interviews, Befragungen und Dokumentenanalysen werden anhand der menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands bewertet.
Ortúzar: Menschenrechtsforschung betrifft außerdem den Forschungsprozess. Dabei orientieren wir uns am „human rights-based approach to data“ der Vereinten Nationen. Dieser Ansatz definiert Prinzipien für einen menschenrechtsfundierten Forschungsprozess. Hierzu zählt, dass Daten soweit wie möglich nach Diskriminierungsmerkmalen erhoben werden sollen. Wir möchten zum Beispiel nicht nur wissen, wie viele Frauenschutzeinrichtungen es gibt, sondern auch, wie viele barrierefrei sind.
Die Leitlinie betont, wie wichtig Partizipation, Inklusion und Empowerment in der Forschung sind. Was ist damit gemeint?
Schroer-Hippel: Die Forschenden sollen die Expertise von Rechteinhabenden und ihren Selbstvertretungen einbeziehen, idealerweise bereits bei der Planung einer Studie. Das geschieht etwa durch Konsultationen oder aber auch in der gemeinsamen Entwicklung des Forschungsdesigns.
Malik: Die Forschenden sind dazu angehalten, zu reflektieren, inwiefern die Forschungsaktivitäten die Rechteinhabenden bei der Wahrnehmung ihrer Rechte stärken oder einschränken können. Hierzu gehört unter anderem, dass Forschende Kritik an bestimmten Begriffen reflektieren und einbeziehen. So sollen Interviewfragen möglichst offen gestellt werden. Sie sollten diskriminierende Zuschreibungen vermeiden und zulassen, dass die Befragten Selbstbezeichnungen wählen können.