Ende August überprüft der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. Britta Schlegel und Leander Palleit leiten die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte und werden an der Staatenprüfung teilnehmen. Im Interview sprechen sie über falsch verstandene Inklusion und ihre Erwartungen an die Staatenprüfung.
Am 29. und 30. August prüft der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum zweiten Mal, wie Deutschland die Rechte von Menschen mit Behinderungen umsetzt. Warum ist diese Prüfung wichtig?
Britta Schlegel: Die Staatenprüfung zeigt auf, wie es in Deutschland um die Rechte von Menschen mit Behinderungen bestellt ist. Seit dem Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland im Jahr 2009 hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Umsetzung der Konvention in Deutschland erst einmal überprüft, im Jahr 2015. Die erneute Standortbestimmung ist auch eine gute Gelegenheit, die Belange von Menschen mit Behinderungen einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen.
Das Institut hat die bisherige Umsetzung der UN-BRK in einem sogenannten Parallelbericht an den UN-Ausschuss bewertet. Was erwarten Sie von der Staatenprüfung?
Leander Palleit: Wir erhoffen uns neuen Schwung für die weitere Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland. Nach der Aufbruchstimmung in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Konvention ist die Umsetzung sowohl im Bund als auch in den Ländern und Kommunen leider in vielen Bereichen auf halbem Weg stehen geblieben, beispielsweise in den Bereichen Bildung und Verkehr. Das hat bei vielen Akteur*innen zu Frustration und einer spürbaren Ermüdung geführt. Wir würden es begrüßen, wenn die Staatenprüfung bei den politisch Verantwortlichen zu einer selbstkritischen und vertieften Auseinandersetzung mit den bestehenden Problemen und Umsetzungsdefiziten führt. Leider unternimmt Deutschland immer noch bei Weitem nicht alles Notwendige und Mögliche, um die Vorgaben aus der Konvention umzusetzen.
Wo steht Deutschland bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention?
Schlegel: Auch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK sind Menschen mit Behinderungen immer noch kein selbstverständlicher Teil einer inklusiven Gesellschaft, sondern werden in Sonderstrukturen verwiesen, etwa bei der schulischen Bildung, der Beschäftigung in Werkstätten oder auch beim Leben in großen Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Zu diesen etablierten Sonderstrukturen gibt es nach wie vor kaum Alternativen. Zwar wird in Politik und Gesellschaft viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie jedoch nicht.
Auch das Prinzip der Selbstbestimmung wird nicht ausreichend geachtet: Menschen mit Behinderungen müssen, wie alle Menschen, selbst über sich und ihr Leben entscheiden können. Ihre Autonomie wird aber von vornherein eingeschränkt, wenn sie auf Sondereinrichtungen verwiesen werden oder fehlende Barrierefreiheit den Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen verschließt. Es gibt Bereiche, in denen die Selbstbestimmung besonders stark eingeschränkt ist: Bei der psychiatrischen Versorgung in Deutschland ist Zwang in Form von unfreiwilliger Behandlung oder Unterbringung sowie freiheitsentziehenden Maßnahmen nach wie vor erlaubt. Ein weiteres Beispiel sind die reproduktiven Rechte von Frauen mit Behinderungen, die häufig nicht selbstbestimmt über Verhütung und Elternschaft entscheiden können.
Was hat sich seit der letzten Staatenprüfung 2015 positiv verändert?
Palleit: Fortschritte gab es vor allem auf gesetzgeberischer Ebene: Unter anderem wurden die vom UN-Ausschuss stark kritisierten Ausschlüsse von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht aufgehoben, das Betreuungsrecht wurde reformiert und orientiert sich jetzt deutlicher am Willen der unterstützten Person und die Leistungen für Menschen mit Behinderungen sollen mit dem Bundesteilhabegesetz nun personenzentriert und nach den Wünschen der Menschen angeboten werden. Die Herausforderung liegt nun allerdings bei der Umsetzung dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Praxis. Auf Ebene der Bundesländer ist sehr positiv zu bewerten, dass jedes Bundesland mittlerweile einen eigenen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat, der festschreibt, wie das Land die Rechte von Menschen mit Behinderungen verwirklichen will.
Welche Rückschritte stellen Sie fest?
Palleit: Wir beobachten mit Sorge, dass unterschiedliche Akteur*innen aus Politik und Gesellschaft die Beibehaltung von Doppelstrukturen legitimieren und dies als Inklusion verkaufen. Konkret werden zum Beispiel Werkstätten oder Förderschulen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnet. Das sind sie aber nicht, weil sie Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen drängen. 2015 hat der UN-Ausschuss empfohlen, Sondersysteme schrittweise abzubauen. Bund, Länder und Kommunen haben diese Aufforderung allenfalls ansatzweise aufgegriffen, zum Teil sogar zurückgewiesen. Bis heute arbeiten nur wenige Bundesländer systematisch am Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Die Zahl der Werkstattbeschäftigten ist gleichbleibend hoch und vor allem für Menschen mit intellektuellen und mehrfachen Beeinträchtigungen gibt es kaum ambulante Wohnmöglichkeiten.
Was sind die dringlichsten Aufgaben, um die Vorgaben aus der UN-BRK weiter umzusetzen?
Schlegel: Ein großes Problem besteht darin, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Bedarfe in vielen Bereichen kaum oder gar nicht mitgedacht werden. Es fehlt ein durchgängiges Bewusstsein für Barrierefreiheit, die Grundvoraussetzung wäre für eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen der Gesellschaft. Das betrifft zum Beispiel den Bausektor, also Barrierefreiheit bei Neu- oder Umbauten, aber auch die Gesundheitspolitik oder den Katastrophenschutz. Was nach wie vor fehlt ist ein echter Paradigmenwechsel in der Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung.