Für den Schutz von Betroffenen von Menschenhandel ist der Aufbau von so genannten Nationalen Verweisungsmechanismen ein wichtiges Thema. Was ist damit gemeint und warum ist das wichtig?
Naile Tanış: Ein Nationaler Verweisungsmechanismus regelt die Zusammenarbeit zwischen Behörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die im Bereich Menschenhandel tätig sind. Es geht darum, Strukturen der Zusammenarbeit bundesweit einheitlich zu organisieren, also konkret, dass Behörden wie die Polizei oder Ausländerbehörden und zivilgesellschaftliche Akteure wie Fachberatungsstellen in den Bundesländern und auf Bundesebene einheitlich zusammenarbeiten. Solch ein Mechanismus gewährleistet, dass Betroffene besser identifiziert und reibungslos zwischen den beteiligten Stellen weiterverwiesen werden, um die notwendige Unterstützung zu erhalten. Das Konzept wurde 2004 erstmalig vom OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) entwickelt und 2022 fortentwickelt.
In anderen Ländern gibt es bereits Nationale Verweisungsmechanismen, im föderalen Deutschland ist die Identifizierung und Unterstützung der Betroffenen nicht einheitlich geregelt. Wie ist die Situation?
Tanış: In Deutschland wurden sowohl auf Länder- wie auch auf Bundesebene verschiedene Kooperationskonzepte entwickelt. Allerdings gibt es bislang keine einheitlichen, verbindlichen Vorgaben für die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Die Expert*innengruppe des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels (GRETA) weist seit vielen Jahren immer wieder darauf hin, dass es hier Handlungsbedarf gibt. Die Bundesländer haben in den letzten Jahrzehnten bereits unterschiedliche Mechanismen zur Unterstützung der Betroffenen entwickelt, die die Rechte der Betroffenen oft sehr umfassend darstellen und klare Zuständigkeiten und Abläufe festlegen. Diese basieren auf informellen Routinen, regelmäßig tagenden Gremien wie etwa Runden Tischen und verschiedenen Dokumenten, die die Kooperationen regeln. Letztere können zum Beispiel ministerielle Erlasse oder nicht bindende Leitfäden sein. In Zukunft muss es gelingen, dass einerseits die Besonderheiten in den Bundesländern berücksichtigt werden, anderseits gemeinsame Standards der Zusammenarbeit bundesweit etabliert werden. Vor dieser Herausforderung stehen wir aktuell.
Die Berichterstattungsstelle Menschenhandel hat untersucht, ob und wenn ja wie die bestehende Zusammenarbeit in Bund und Ländern den Kriterien eines Nationalen Verweisungsmechanismus entsprechen. Was haben Sie herausgefunden?
Tanış: Wir haben zunächst anhand der vier Säulen des von der OSZE entwickelten NRM-Konzepts Analysekriterien in den folgenden Bereichen entwickelt: 1. Identifizierung und der Schutz der Betroffenen, 2. individuelle Unterstützung und Zugang zu Hilfeleistungen, 3. Integration und Förderung sowie 4. Zugang zum Rechtssystem und zu Entschädigung. Nach diesen Kriterien haben wir dann in den sehr unterschiedlichen Kooperationsdokumenten gesucht und sie analysiert. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Dokumente oft sehr spezifische Entstehungshintergründe und Zielsetzungen haben und nicht dafür geschrieben wurden, genau diese Kriterien zu erfüllen. Dennoch ist es uns mit der Analyse gelungen, einen umfassenden und systematischen Überblick zu geben, welche formalisierten Verfahrensabläufe im Umgang mit Betroffenen von Menschenhandel in den Bundesländern existieren. Wir heben damit wichtige Potenziale der Bundesländer hervor, auf die bei der Entwicklung eines NRM aufgebaut werden kann.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Tanış: Aktuell wird von der Bundesregierung ein Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung des Menschenhandels sowie ein Nationaler Aktionsplan gegen Arbeitsausbeutung und Zwangsarbeit erarbeitet. Ich denke, dass unsere Ergebnisse sehr gut in diese Vorhaben aufgenommen werden können. Als nächsten Schritt empfehlen wir, in allen Bundesländern Kooperationsdokumente auszuarbeiten, die sämtliche Ausbeutungsformen, Betroffenengruppen und Akteure enthalten und Verbindlichkeiten für die beteiligten Akteure schaffen. Die Berichterstattungsstelle wird sich kontinuierlich mit dem Thema des Aufbaus der Strukturen in Deutschland befassen und Empfehlungen aussprechen, um in Deutschland eine Struktur zu schaffen, die die Rechte und Bedürfnisse von Betroffenen stärker schützt, als es bisher der Fall ist.