Eine rechtliche Betreuung ist für Personen gedacht, die Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Angelegenheiten benötigen, zum Beispiel um einen Rentenantrag zu stellen. Ein*e Betreuer*in soll die betroffene Person bei der Entscheidungsfindung und -umsetzung unterstützen und darf grundsätzlich nur gemäß deren Wünschen und Willen handeln. Gleichwohl ist es immer noch möglich, eine rechtliche Betreuung gegen den Willen des betreuten Menschen zu bestellen und auch Entscheidungen gegen dessen Willen zu treffen.
Im März 2021 beschloss der Deutsche Bundestag eine Reform des Betreuungsrechts, die Anfang 2023 in Kraft tritt. Sabine Bernot und Jana Offergeld, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen der Monitoring-Stelle UN-BRK, geben Auskunft über die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für das deutsche Betreuungsrecht und die Chancen und Grenzen der aktuellen Reform.
Wer wird in Deutschland rechtlich betreut und wer übernimmt die Betreuung?
Sabine Bernot: Wenn eine Person Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Angelegenheiten benötigt, dann kann in Deutschland eine gesetzliche Betreuung eingerichtet werden. Wenn beispielsweise junge Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung volljährig werden, können sie Unterstützungsbedarf in einzelnen Bereichen haben, etwa beim Mieten einer Wohnung und dem Abschluss der zugehörigen Verträge. Manchmal benötigen Menschen rechtliche Hilfe nach einem schweren Unfall, während einer psychosozialen Krise oder bei fortschreitender Demenz. Die rechtliche Betreuung soll aber nur dann bestellt werden, wenn keine anderen Hilfen den Unterstützungsbedarf decken können. Sie darf auch nur für diejenigen Aufgabenbereiche und den Zeitraum bestellt werden, in denen die betroffene Person tatsächlich Unterstützung braucht. Ein gut ausgebautes System von sogenannten anderen Hilfen, insbesondere sozialen Leistungen, ist also von herausragender Bedeutung, zumal dort keine rechtliche Vertretungsmacht eingeräumt wird. Gleichwohl ist aus menschenrechtlicher Perspektive auch hier, ebenso wie bei der rechtlichen Betreuung, darauf zu achten, dass Unterstützungsleistungen mit dem Willen der betroffenen Person und ohne Zwang, sei er formell oder auch informell, erfolgen.
Das Gesetz gibt der ehrenamtlichen Betreuung, insbesondere durch Familienangehörige, Vorrang. In der Praxis übernehmen Lebenspartner*innen, Eltern oder Kinder allerdings nur in etwas weniger als der Hälfte der Fälle die Betreuung. Die zweitgrößte Gruppe stellen Berufsbetreuer*innen dar, insbesondere Sozialpädagog*innen oder Rechtsanwält*innen.
Was bedeutet eine gesetzliche Betreuung für den Alltag?
Jana Offergeld: Eine rechtliche Betreuung kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Die betreute Person bleibt auch nach der Bestellung einer rechtlichen Betreuung voll geschäftsfähig, sie kann also weiterhin Verträge schließen, ihr Geld ausgeben, sich an Wahlen beteiligen, den Führerschein machen etc. Die betreuende Person darf zwar solche Rechtsgeschäfte stellvertretend für sie übernehmen, muss dies im Vorfeld jedoch mit ihr absprechen. Aktuelle Studien weisen allerdings darauf hin, dass viele betreute Personen Bevormundung und Fremdbestimmung erleben, zum Beispiel, wenn ihre rechtlichen Betreuer*innen über ihren Kopf hinweg entscheiden, ob beispielsweise eine medizinische Behandlung angemessen ist oder wo sie wohnen. Stellvertretende Entscheidungen sind jedoch nur in absoluten Ausnahmesituationen möglich – wenn eine akute Selbstgefährdung vorliegt und ein Gericht die rechtliche Handlungsfähigkeit der betreuten Person formell eingeschränkt hat. Hierin zeigt auch das reformierte Betreuungsrecht einen zentralen Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, die generell keine stellvertretenden Entscheidungen durch Dritte vorsieht.
Was ist aus menschenrechtlicher Sicht erforderlich, um den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen?
Bernot: Ganz wichtig ist das Prinzip der Unterstützung: Die betreuende Person soll Entscheidungen nicht stellvertretend für die betreute Person treffen, sondern diese dabei unterstützen, eine ihren Wünschen und Präferenzen entsprechende Entscheidung selbst zu treffen und umzusetzen. Wichtig hierfür ist eine vertrauensvolle Beziehung, die einen ausreichenden persönlichen Kontakt und eine verständliche Kommunikation voraussetzt. Für den Fall, dass die betreuende Person sich nicht an den Wünschen und Willen der betreuten Person orientiert, sollte es niedrigschwellige und effektive Beschwerdemöglichkeiten geben. Ob eine unterstützte Entscheidungsfindung zustande kommt, hängt aber nicht allein von der Zusammenarbeit zwischen betreuender und betreuter Person ab, sondern auch vom weiteren sozialen Umfeld: Inwiefern nehmen beispielsweise Ärzt*innen oder Behörden den Menschen mit rechtlicher Betreuung und sein Selbstbestimmungsrecht ernst? Bestehen ausreichend Unterstützungsangebote für eine selbstbestimmte Lebensführung, etwa persönliche Assistenz?
In welchen Punkten hat die Reform des Betreuungsrechts Fortschritte gebracht? Und wo gibt es noch Handlungsbedarf?
Offergeld: Die Reform betrifft sowohl das Betreuungs- als auch das Vormundschaftsrecht und ist sehr umfassend. Es ist daher kaum möglich, die gesetzlichen Änderungen pointiert zusammenzufassen. Bezogen auf das Selbstbestimmungsrecht betreuter Menschen lässt sich vor allem Folgendes hervorheben: Die Vorgabe, sich am Wunsch und Willen der betreuten Person zu orientieren, wurde im neuen Gesetzestext noch einmal deutlich verschärft. Ein neuer § 1821 zu den Pflichten der betreuenden Person wurde eingeführt und der Begriff „Wohl“ gestrichen. Letzterer ließ sich missbräuchlich nutzen, um die Wünsche der betreuten Person zu umgehen. Die Beteiligung der betreuten Person am betreuungsgerichtlichen Verfahren wurde ebenfalls gestärkt. Allerdings blieb die Reform aus menschenrechtlicher Sicht unvollständig: Die Vorgaben bezüglich der Zwangsbehandlung und Unterbringung im Rahmen des Betreuungsrechts sowie der Sterilisation nicht einwilligungsfähiger Personen blieben nahezu unberührt. Gerade diese Vorgaben stehen aber im starken Kontrast zu den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Was macht die Monitoring-Stelle im Bereich des Betreuungsrechts?
Bernot: Die Monitoring-Stelle beobachtet und begleitet die Diskussion um die Vereinbarkeit des Betreuungsrechts mit der UN-BRK seit 2009. Menschenrechtlich fällt die rechtliche Betreuung in den Zusammenhang der „Gleichheit vor dem Recht“ und damit in den Kernbereich menschenrechtlicher Ansprüche.
Seit 2019 bietet die Monitoring-Stelle im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales Informationsveranstaltungen für Betreuungsrichter*innen und Rechtspfleger*innen an und führt Multiplikator*innen-Schulungen für Personen mit Unterstützungsbedarf, Betreuer*innen, Mitarbeitende der Betreuungsbehörden und -vereine und weitere Interessierte durch.
Am 11. November 2021 findet eine digitale Abschlussveranstaltung statt, bei der Bundesverfassungsrichter Prof. Andreas Paulus die Keynote übernimmt und ein hochkarätig besetztes Panel über die Betreuungsrechtsreform diskutiert.
(H. Gläser, Oktober 2021)