Mehrere hunderttausend Menschen in Deutschland sind wohnungslos. Sie leben auf der Straße, bei Freund*innen auf dem Sofa oder in Notunterkünften. Die Kommunen sind verpflichtet, „unfreiwillig obdachlosen“ Personen eine Notunterkunft anzubieten. Wie lässt sich dort eine menschenwürdige Unterbringung sicherstellen? Darüber sprechen wir mit Claudia Engelmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts.
Im Juli 2022 hat das Statistische Bundesamt erstmals Zahlen zur Notunterbringung wohnungsloser Menschen in Deutschland vorgelegt. Was sagen die Zahlen aus?
Claudia Engelmann: Zum ersten Mal gibt es jetzt bundesweit Angaben über das Ausmaß der Wohnungslosigkeit in Deutschland – zumindest für die Teilgruppe der Menschen, die in Notunterkünften leben. Das waren, zum Stichtag 31. Januar 2022, rund 178.000 Menschen, mehr als ein Viertel davon sind Kinder und Jugendliche. Die Zahlen beziehen sich jedoch ausschließlich auf Menschen, denen von Kommunen oder Sozialleistungsträgern Wohnräume oder Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt wurden. Nicht erfasst von der Statistik werden etwa Menschen, die auf der Straße leben oder verdeckt wohnungslos sind – also vorübergehend bei der Familie oder im Bekanntenkreis untergekommen sind. Tatsächlich ist die Zahl der wohnungslosen Menschen also noch deutlich höher.
Mit welchen Problemen haben die Menschen in einer Notunterkunft zu kämpfen?
Engelmann: Vereinfacht gesagt: Die Menschen sind massiv in ihren Rechten eingeschränkt – etwa dem Recht auf Wohnen, dem Recht auf Gesundheit oder dem Recht auf Familienleben. Die Situation in den Kommunen kann sehr unterschiedlich aussehen, aber generell kann man sagen: Die Menschen leben überwiegend auf engstem Raum, häufig in Mehrbettzimmern. Gemeinsam genutzte Küchen, Duschen oder Toiletten sind oft verdreckt. Es fehlt an abschließbaren Schränken, wo Eigentum sicher verwahrt werden kann. Konflikte und Lärm prägen den Unterkunfts-Alltag. All dies führt zu einem Klima der Unsicherheit und Angst für alle Menschen, die dort leben müssen. Besonders prekär sind solche Situationen etwa für Kinder, für Frauen mit Gewalterfahrungen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Wie lange sind die Menschen denn üblicherweise dort?
Engelmann: Viel zu lang. Die kommunale Notunterbringung ist eigentlich als kurzfristige Überbrückung einer Notsituation gedacht. Die Wohnungslosenstatistik zeigt aber: Die meisten Menschen leben in den Notunterkünften viele Monate und Jahre. Es gibt einfach viel zu wenig Wohnungen für Menschen mit wenig Einkommen. Und wenn diese Wohnungen frei werden, sind wohnungslose Menschen – mit Meldeadresse Notunterkünften – garantiert die letzten, die diese bekommen.
Was alles gehört zu einer menschenwürdigen Unterbringung?
Engelmann: Das definieren vor allem die Menschenrechtsverträge, zu deren Einhaltung Deutschland verpflichtet ist. So ist im UN-Sozialpakt das Recht auf Wohnen sowie das Recht auf Gesundheit festgeschrieben. Deutschland muss damit angemessenen Wohnraum bereitstellen. Auch an eine Notunterkunft sind menschenrechtliche Minimalanforderungen zu stellen: Sie muss ausreichend Platz und ein Minimum an Einrichtungsgegenständen bieten, regelmäßig gereinigt werden, es darf keine Gesundheitsgefährdung von ihr ausgehen, etwa durch Schimmelbefall. Sind Kinder mit untergebracht müssen etwa Möglichkeiten für Spiel und Freizeitgestaltung vorhanden sein.
Aber werden diese Aspekte nicht durch die deutschen Gerichte geregelt?
Engelmann: In Teilen, ja. Deutsche Gerichte äußern sich zwar immer wieder zu einzelnen Aspekten einer menschenrechtskonformen Notunterbringung. Die Entscheidungen klären jedoch bestenfalls die im Einzelfall aufgeworfenen Fragen. Vieles bleibt ungeklärt, etwa die Frage, welche Maßstäbe bei der Unterbringung besonders schutzbedürftiger Personen anzulegen sind oder wie Gewaltschutz sichergestellt werden muss. Nicht geregelt sind etwa effektive Beschwerdemöglichkeiten für die Betroffenen. Kurz: Es fehlt die Gesamtschau auf die menschenrechtlichen Vorgaben für die Notunterbringung. Das muss sich ändern. Es braucht daher Mindeststandards für die Notunterbringung.
Wer soll diese Standards erarbeiten und verabschieden?
Engelmann: Zuständig für die Notunterbringung sind zuerst einmal die knapp 11.000 Kommunen in Deutschland. Aber wenn diese die Mindestanforderungen jeweils für sich definieren, droht ein Flickenteppich von unterschiedlichen Regelungen. Hier sind die Länder und auch der Bund in der Verantwortung – indem sie zum einen Rahmenbedingungen schaffen, um Wohnungslosigkeit zu vermeiden bzw. zu überwinden, zum anderen aber auch Vorgaben für die Ausgestaltung von verbindlichen Mindeststandards machen. Die Grund- und Menschenrechte gelten im gesamten Bundesgebiet und daher darf es nicht von den Finanzen oder dem politischen Willen einzelner Kommunen oder Länder abhängig sein, ob und wie sie umgesetzt werden. Das Institut empfiehlt daher, eine ressort- und länderübergreifende Entwicklung von Mindeststandards, selbstverständlich im engen Austausch mit den Kommunen.
Sehen Sie Bewegung beim Thema Wohnungslosigkeit in der Politik?
Engelmann: Leider sehen die meisten Kommunen und Bundesländer nach wie vor keinen Handlungsbedarf. Erfreulich ist aber beispielsweise die Einigung auf die bundesweite Wohnungslosenstatistik. Und auch die damit einhergehende sogenannte ergänzende Berichterstattung – also die Befassung mit den wohnungslosen Menschen, die aktuell noch nicht von der Statistik erfasst sind. Auch der Koalitionsvertrag bietet Anlass zum vorsichtigen Optimismus: Die Regierungskoalition will etwa einen Nationalen Aktionsplan Wohnungslosigkeit verabschieden sowie die Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen verbessern. Zentral ist, dass sich diese Maßnahmen an den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands orientieren. Dazu gehört übrigens auch, von Wohnungslosigkeit Betroffene effektiv in alle sie betreffenden Politikmaßnahmen einzubinden.
(H. Gläser)