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CEDAW, Mitteilung Nr. 20/2008 (VK vs. Bulgaria)

CEDAW, Auffassungen vom 25.07.2010, V. K. (vertreten durch Milena Kadieva) gegen Bulgarien

1. Sachverhalt

In Bulgarien war V. K. bereits seit Jahren häuslicher Gewalt durch ihren Ehemann F. K. ausgesetzt, von dem sie und die beiden Kinder wirtschaftlich abhängig waren. Sie schilderte den Sachverhalt wie folgt: 2006 zog die Familie nach Polen. Ihren Plan, die Scheidung einzureichen, gab V. K. auf, nachdem F. K. ihr drohte, dass er ihr die Kinder entziehen würde. Im Dezember 2006 beschimpfte und trat F. K. seine Frau und drohte ihr. Ein ärztliches Attest wies Verletzungen an der Stirn und an beiden Armen aus und bestätigte, dass diese entsprechend der Beschreibung von V. K. entstanden sein könnten. Nach einem weiteren Gewaltvorfall stellte F. K. die finanzielle Unterstützung seiner Frau und der Kinder ein. V. K. beantragte erfolglos im April und erneut im Mai 2007 bei einem polnischen Gericht den Erlass einer Schutzanordnung und einer einstweiligen Anordnung auf Unterhaltszahlung.

Als V. K. ihren Mann um Geld für die Lebenshaltungskosten bat, schloss er die verängstigten Kinder in einem Raum ein und drohte ihr an, sie durch eine Haushälterin zu ersetzen und ihren Kontakt zu den Kindern zu unterbinden. Er schlug sie und versuchte, sie mit einem Kopfkissen zu ersticken, wovon sie sich nur nach einem Kampf befreien konnte. Im Juni reichte F. K. ohne Kenntnis von V. K. in Bulgarien die Scheidung ein und beantragte das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Nach einem erneuten Angriff bestätigte ein Arzt große Blutergüsse an Oberschenkeln, Fuß und Gesäß, die sich mit der Schilderung von V. K. deckten. Daraufhin suchte V. K. in einer polnischen Einrichtung für Opfer häuslicher Gewalt Schutz. Mithilfe einer Mitarbeiterin der Einrichtung und der gegen den wütenden F. K. zur Hilfe gerufenen Polizei gelang es ihr, ihre Tochter mitzunehmen. F. K. unterband zwei Monate lang den Kontakt zu ihrem Sohn, den sie zurücklassen musste. Er brachte den Sohn ohne Wissen von V. K. in einem privaten Kindergarten unter und beauftragte dessen Leiter, V. K. abzuweisen. Mehrfach versuchte er, seine Tochter zu finden und sich aggressiv Zugang zu der Einrichtung zu verschaffen. Einmal konnte er nur durch die Polizei des Ortes verwiesen werden. Als V. K. im September 2007 in Begleitung einer Mitarbeiterin der Schutzeinrichtung den Kindergarten des Sohnes fand, schlug der umgehend herbeigerufene F. K. seine Frau und ihre Begleitung. Die Polizei musste ihn zwangsweise in einem Polizeiwagen unterbringen.

V. K. ging mit ihren Kindern umgehend zurück nach Bulgarien, um sich vor F. K. zu schützen, konnte aber in der einzigen Schutzunterkunft des Landes keinen Platz bekommen. Sie beantragte bei einem bulgarischen Gericht eine Schutzanordnung für ein Jahr. Das Gericht erließ zwar eine vorläufige Anordnung, lehnte aber eine dauerhafte Schutzanordnung ab. Es begründete diese Entscheidung damit, dass das Gesetz für den Erlass einer solchen Anordnung nur die Vorfälle des letzten Monats berücksichtigte. Der Vorfall im polnischen Kindergarten sei nicht hinreichend gewesen, um zu belegen, dass eine unmittelbare Bedrohung des Lebens oder der Gesundheit von V. K. oder ihrer Kinder bestehe. Seitdem seien sie keiner weiteren Gewalt mehr ausgesetzt gewesen. Alle vorherigen Ereignisse blendete das Gericht aus. Das Berufungsgericht hielt das Urteil im April 2008 aufrecht.

Im Mai 2009 wurde die Ehe im beiderseitigen Verschulden geschieden, da beide häufig gewaltsame Auseinandersetzungen gehabt hätten. V. K. erhielt in Anbetracht des jungen Alters der Kinder das Sorgerecht, F. K. ein Umgangsrecht. Er wurde zu Unterhaltsleistungen für die Kinder verpflichtet.

2. Verfahren vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention

Argumente der Parteien

V. K. legte 2008 Beschwerde vor dem Fachausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention ein. Sie stützte sich dabei auf die Artikel 1, 2 (a) bis (c) und (e) bis (g), 5 (a) und 16 (1) (c), (g) und (h) der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) sowie die Allgemeine Empfehlung Nr. 19 zu Gewalt gegen Frauen. Sie brachte vor, dass der bulgarische Staat sie nicht angemessen gegen häusliche Gewalt geschützt habe. Trotz des bestehenden Gesetzes gegen häusliche Gewalt vernachlässigten die Gerichte weiterhin ihre Pflicht, Täter häuslicher Gewalt zu bestrafen. Dies geschehe unter anderem, weil die Richter*innen nicht angemessen aus- und fortgebildet seien. Ferner sei die Herangehensweise Bulgariens an geschlechtsbezogene Stereotypen zu eng. Zudem stelle der Staat weder sofortigen Schutz noch ausreichend Schutzunterkünfte für Betroffene bereit.

Die Regierung Bulgariens wies die Beschwerde als unzulässig und unbegründet zurück. Die Beschwerde sei unbegründet, da Bulgarien im Gegensatz zu „A. T. gegen Ungarn“ (Mitteilung Nr. 2/2003) alle angemessenen Maßnahmen getroffen und sogar ein besonderes Gesetz erlassen und dieses angewendet habe, um adäquaten Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewährleisten. Ferner habe V. K. keine ausreichenden Beweise vorgebracht, die eine dauerhafte Schutzanordnung rechtfertigten. Deshalb sei davon auszugehen gewesen, dass das Geschehen im Kindergarten ein isolierter Konflikt gewesen sei.

Einstweilige Maßnahmen

Im Februar 2009 ersuchte der Fachausschuss Bulgarien, einstweilige Maßnahmen zu erlassen, um irreparable Schäden von V. K. und ihren Kindern abzuwenden. Ferner forderte er Bulgarien auf, den Schutz und der körperliche Unversehrtheit von V. K. und ihrer Kinder zu gewährleisten.

3. Entscheidung des Fachausschusses zur UN-Frauenrechtskonvention

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung der Artikel 2 (c) bis (f) und 5 (a) CEDAW in Verbindung mit den Artikeln 1 und 16 CEDAW und den Allgemeinen Empfehlungen Nrn. 19 und 21 fest, da Bulgarien die Beschwerdeführerin nicht effektiv gegen häusliche Gewalt geschützt habe. Die Ablehnung einer dauerhaften Schutzanordnung sei willkürlich und diskriminierend gewesen. Das Gericht habe unangemessene Beweisanforderungen an V. K. gestellt, die frühere Gewalt ausgeblendet und häusliche Gewalt im Wesentlichen als Privatsache betrachtet. Ferner stelle das Fehlen ausreichender Schutzunterkünfte einen Verstoß der Verpflichtung dar, sofortigen Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewähren.

3.1 Verstoß gegen die Staatenverpflichtung, Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu schützen (Rz. 9.4 ff.)

Der Fachausschuss stellte vorab fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen eine Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sei, die die Staaten beseitigen müssten, und dass Staaten auch für Handlungen von Privatpersonen verantwortlich gemacht werden könnten, wenn sie ihre Sorgfaltspflicht verletzten. Dies sei der Fall, wenn sie Rechtsverletzungen nicht vorbeugten, Gewalttaten nicht ermittelten, nicht bestraften oder keine Entschädigung dafür gewährleisteten (siehe dazu Allgemeine Empfehlung Nr. 19 und Artikel 2 (e) CEDAW).

Willkürliche und diskriminierende Abweisung des Antrags auf Erlass einer dauerhaften Schutzanordnung

Zwar sehe das bulgarische Gesetz Schutzmaßnahmen vor häuslicher Gewalt vor, in der Praxis müsse aber der entsprechende gesetzgeberische Wille auch durch diejenigen unterstützt werden, die das Gesetz umsetzten, inklusive der Gerichte.

Durch die Weigerung der Gerichte, eine dauerhafte Schutzanordnung zu erlassen, und das Fehlen von Schutzunterkünften sei der Anspruch von V. K. auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden. Hierbei überprüfe der Fachausschuss nur, ob die bulgarischen Behörden und Gerichte willkürlich oder auf andere Art und Weise diskriminierend gehandelt hätten. Dies sei hier der Fall. Die Abweisung des Antrags beruhte auf der Annahme, dass V. K. und ihre Kinder keiner unmittelbaren Gefahr für Leben oder Gesundheit ausgesetzt gewesen seien, weil sie in dem Monat vor der Antragstellung keine häusliche Gewalt erlitten hatten.

Weite Definition des Begriffs „Gewalt“ bei häuslicher Gewalt

Der Fachausschuss betonte, dass CEDAW keine unmittelbare Gefahr für Leben oder Gesundheit fordere und dass der Begriff „Gewalt“ nicht auf körperliche Gewalt beschränkt sei, sondern auch seelisches oder sexuelles Leid, Drohungen mit solchem Leid, Zwang oder andere Freiheitsberaubungen umfasse. Das bulgarische Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt setze demgegenüber aber voraus, dass die betroffene Person Belege über direkte, unmittelbare oder bevorstehende Bedrohung des Lebens oder der Gesundheit vorlegen müsse, um dauerhafte Schutzmaßnahmen zu erhalten. Der Ausschuss folgerte daher, dass das Bezirksgericht von Plovdiv eine zu restriktive Definition von häuslicher Gewalt angewandt habe, die nicht mit den Verpflichtungen des Staates unter Artikel 2 (c) und (d) der Konvention übereinstimme. Es habe das seelische und emotionale Leid von V. K. und die Vorgeschichte der erlittenen (auch körperlichen) Gewalt vollständig ausgeblendet.

Beweisanforderungen und -erleichterungen in Zivilverfahren wegen häuslicher Gewalt

Ferner hätten die Gerichte viel zu hohe Beweisanforderungen („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“) angenommen und verkannt, dass dieser Standard in Fällen häuslicher Gewalt weder mit CEDAW noch mit derzeitigen Antidiskiminierungsstandards vereinbar sei. Diese sähen in Zivilverfahren Beweiserleichterungen für Anträge im Bereich häuslicher Gewalt vor. Zudem hätten die bulgarischen Gerichte die Beweislast einseitig der Beschwerdeführerin auferlegt und seien zu dem Schluss gekommen, dass die vorgelegten Beweise keinen spezifischen Gewaltakt erkennen ließen.

3.2 Verstoß gegen das Recht, keinen ungerechtfertigten geschlechtsbezogenen Stereotypen ausgesetzt zu sein (Rz. 9.11 ff.)

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung der Artikel 5 und 16 Absatz 1 sowie des Artikels 2 (d) und (f) CEDAW fest. Er griff auf seine Allgemeinen Empfehlungen Nrn. 19 und 21 sowie auf seine Auffassungen in „Karen Tayag Vertido gegen die Philippinen“ (Mitteilung Nr. 18/2008) zurück und führte aus, dass traditionelle Auffassungen, wonach Frauen Männern untergeordnet seien, zu Gewalt gegen Frauen beitragen könnten. Er untersuche deshalb, ob die Entscheidungen der Gerichte von geschlechtsbezogenen Stereotypen beeinflusst worden seien, und stelle klar, dass Staaten für ihre Gerichtsentscheidungen verantwortlich gemacht werden könnten. Stereotypen beeinträchtigten das Recht von Frauen auf ein faires Verfahren. Gerichte müssten sich vorsehen, keine unflexiblen Standards zu schaffen, die auf vorgefassten Auffassungen davon beruhten, was häusliche Gewalt sei.

Der Fachausschuss stellte fest, dass die Verweigerung einer dauerhaften Schutzanordnung auf geschlechtsbezogenen Stereotypen beruhe und deshalb die Verpflichtung des Staates, diskriminierende Normen, Praktiken und Bräuche zu ändern oder abzuschaffen, ebenso verletzt worden sei, wie die Verpflichtung, angemessene Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung in der Ehe und in Familienbeziehungen zu schaffen. Zudem habe die Anwendung dieser Stereotypen zu einer Reviktimisierung von V. K. im Gerichtsverfahren geführt.

Anwendung von stereotypen Geschlechterrollen

In den Urteilen sei die vorgefasste Auffassung erkennbar, dass häusliche Gewalt zuallererst eine Privatangelegenheit sei, die in der Regel keiner staatlichen Kontrolle bedürfe. Ferner hätten die Gerichte eine zu enge und von Stereotypen bestimmte Auffassung des Begriffs „häusliche Gewalt“ vertreten, indem sie allein auf körperliche Gewalt und unmittelbare Lebensgefahr abstellten. Dies zeige sich unter anderem darin, dass die Gerichte - nach Ausführungen darüber, dass Schläge nicht automatisch Gewalt bedeuteten -, genaue Beschreibungen und den Beweis einforderten, inwiefern die Schläge „die Unversehrtheit von V. K. berührt hätten“. Weitere traditionelle Stereotypen über die Rolle der Frau in der Ehe seien aus dem Scheidungsurteil abzulesen („anmaßende Sprache gegenüber ihrem Ehemann“; Anordnung, nach der Scheidung den Geburtsnamen anzunehmen).

3.3 Fehlen ausreichender Schutzunterkünfte für Betroffene von häuslicher Gewalt (Rz. 9.13)

Unter Berufung auf die Allgemeine Empfehlung Nr. 19 stellte der Fachausschuss fest, dass der Umstand, dass V. K. und ihre Kinder keinen Platz in einer Schutzunterkunft erhalten konnten, eine Verletzung der Staatenverpflichtung unter Artikel 2 (c) und (e) auf sofortigen Schutz von Frauen gegen jede Form von Gewalt - also auch häusliche Gewalt - darstelle.

3.4 Feststellungen zum erlittenen materiellen und immateriellen Schaden (Rz. 9.14)

Abschließend stellte der Fachausschuss fest, dass V. K. einen materiellen und immateriellen Schaden erlitten habe. Selbst wenn sie nach der Ablehnung der dauerhaften Schutzanordnung nicht weiter direkter Gewalt ausgesetzt gewesen sein sollte, habe sie weiterhin Leid und Angst erfahren, da sie ohne staatlichen Schutz geblieben und zudem durch die geschlechtsbezogenen Stereotypen im Urteil reviktimisiert (erneut zum Opfer gemacht) worden sei.

3.5 Empfehlungen des Fachausschusses (Rz. 9.16)

Der Fachausschuss empfahl, V. K. eine Entschädigung zu zahlen, die der Schwere der Verletzung angemessen sei. Allgemein riet er:

(a) die Einmonatsfrist abzuschaffen und sicherzustellen, dass Antragstellenden bei Schutzanordnungen keine übermäßigen gesetzlichen und verwaltungstechnischen Hürden entgegenstünden;

(b) die Beweislast im Gesetz gegen häusliche Gewalt zugunsten der Antragstellenden zu verändern;

(c) eine ausreichende Zahl an staatlich finanzierten Unterkünften für Betroffene von häuslicher Gewalt bereitzustellen;

(d) verpflichtende Fortbildungen für Rechtsprechende, Anwält*innen sowie Sicherheitskräfte zur Definition von häuslicher Gewalt und zu geschlechterbezogenen Stereotypen, unter Einbeziehung von CEDAW und des Fakultativprotokolls sowie der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19.

4. Entscheidung im Volltext

CEDAW_25.07.2010_V.K._v._Bulgaria_ENG (PDF, 150 KB, nicht barrierefrei)

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