Jeder Mensch soll frei und selbstbestimmt über seinen Körper und seine Sexualität bestimmen können. Dazu gehören auch Fragen zur Verhütung und Familienplanung. Mädchen und Frauen mit Behinderungen erfahren hier jedoch häufig Diskriminierungen und haben mit Vorurteilen in der Gesellschaft zu kämpfen. Wie diese überwunden werden können, erläutert Sabine Bernot, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, im Interview.
Was sind sexuelle und reproduktive Rechte?
Sabine Bernot: Sexuelle und reproduktive Rechte sind Menschenrechte. Es geht darum, dass jede Person frei und selbstbestimmt über ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Fortpflanzung entscheiden kann. Dazu gehört zum Beispiel, dass sie wählen kann, ob sie eine sexuelle Beziehung eingehen möchte und ob sie Kinder haben will oder nicht. Zu den sexuellen Rechten gehört auch die Pflicht des Staates, Menschen vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Welchen besonderen Herausforderungen begegnen Frauen und Mädchen mit Behinderungen?
Bernot: Frauen und Mädchen mit Behinderungen erfahren aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Beeinträchtigung mehrfache Diskriminierung. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) haben sie das Recht auf einen gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung, auf barrierefreie Aufklärung über ihre eigene Sexualität und die Möglichkeit, Kinder zu bekommen und eine Familie zu gründen. Im Alltag beginnen die Probleme jedoch häufig bereits beim Zugang zur gynäkologischen Gesundheitsversorgung und den Informationen. Zum Beispiel gibt es bauliche Barrieren, wenn Arztpraxen für Rollstuhlfahrer*innen nicht zugänglich sind oder die Praxis nicht über barrierefreie Untersuchungsmöbel verfügt. Barrierefreiheit umfasst auch, dass Informationen, zum Beispiel über Verhütung oder medizinische Eingriffe, in verständlicher Weise bereit gestellt werden und Aufklärungsgespräche gegebenenfalls mithilfe unterstützter Kommunikation oder mit Dolmetscher*innen geführt werden.
Wie sieht es bei Verhütung und Familienplanung aus?
Bernot: Nach Artikel 23 UN-BRK haben Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht, über ihre Familiengründung und -planung sowie Elternschaft zu entscheiden wie andere auch. Entscheidungen über Verhütung setzen -wie jedes medizinische Handeln- stets eine freie und informierte Zustimmung der betroffenen Person voraus. Das erfordert einen barrierefreien Zugang zu Aufklärung und Beratung. Besonders wichtig ist dabei, dass kein Druck ausgeübt wird, beispielsweise bei der Frage, ob und wenn ja, welche Verhütung gewählt wird. Gerade Frauen in Einrichtungen erhalten häufig die sogenannte 3-Monats-Spritze, die starke Nebenwirkungen haben kann und deshalb von Frauen ohne Beeinträchtigung so gut wie gar nicht mehr genutzt wird. Im Bereich der Abtreibung und der Sterilisation gibt es große Dunkelfelder dahingehend, ob diese wirklich selbstgewählt stattfinden. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
Im Bereich der Elternschaft begegnen Menschen mit Behinderungen noch vielen Vorurteilen und es wird ihnen mitunter nicht zugetraut, dass sie gute Eltern sein können. Menschen mit Behinderungen haben das Recht, Eltern zu werden - gegebenenfalls mit gezielter Unterstützung. Mittlerweile ist ein entsprechender Anspruch auf Unterstützung auch im deutschen Sozialgesetzbuch verbrieft. Wichtig ist hier, dass vor Ort auch die entsprechenden Angebote vorgehalten werden. Momentan fehlt es vielerorts noch an Eltern-Kind-Wohnangeboten, Möglichkeiten zu Eltern-Assistenz beziehungsweise zu Unterstützter Elternschaft.
Was muss getan werden, um hier die Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu stärken?
Bernot: Zum einen geht es darum, eine flächendeckende und ortsnahe sowie inklusive Gesundheitsversorgung zu schaffen, auch in ländlichen Gebieten. Zum anderen ist es wichtig, dass medizinisches und pflegerisches Personal die Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen kennen und für ihre Bedarfe geschult sind. Am besten sollte das direkt in die Ausbildungs- und Studienpläne mit aufgenommen werden. Auch muss sichergestellt werden, dass keine Sterilisation und keine Abtreibung ohne freie und informierte Zustimmung erfolgt. Gerade in diesen Bereichen besteht ein dringender Bedarf nach Forschung. Weiter braucht es barrierefreie Beratung sowohl zu medizinischen Dienstleistungen als auch zu Unterstützungsangeboten, zum Beispiel mithilfe von Übersetzung in Leichte Sprache oder Gebärdensprache.
Was erwarten und fordern Sie von der neuen Regierung?
Bernot: Wir erhoffen uns, dass sie sich zügig den genannten Problembereichen annimmt. Der Koalitionsvertrag bietet dahingehend einige Anknüpfungspunkte. Zum Beispiel ist ein Bundesprogramm Barrierefreiheit angekündigt, das auch die Barrierefreiheit der Gesundheitsversorgung umfassen soll. Hier erwarten wir, dass auch die Barrieren in der gynäkologischen Gesundheitsversorgung abgebaut werden. Die Bundesregierung hat zudem vor, geschlechtsbezogene Unterschiede in der Gesundheitsversorgung und -förderung in den Blick zu nehmen und geschlechtsspezifische Diskriminierungen im Gesundheitswesen abzubauen. Auch hier sollte wiederum die Lage von Frauen und Mädchen mit Behinderungen berücksichtigt werden. Des Weiteren plant sie noch in diesem Jahr einen Aktionsplan für ein diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen zu entwickeln. Wir fordern, dass die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in diesem Aktionsplan als ein Schwerpunkt behandelt werden und dass die oben genannten Maßnahmen einfliessen. Der Aktionsplan sollte darüber hinaus unbedingt partizipativ mit Beteiligung von Menschen mit Behinderungen erarbeitet werden.
Wie sieht es auf UN-Ebene aus? Gibt es Empfehlungen für die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen?
Bernot: 2017 hat Catalina Devandas Aguilar, die damalige UN-Sonderberichterstatterin, eine groß angelegte internationale Studie veröffentlicht, in der sie auf die Herausforderungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte eingeht, denen sich Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen gegenübersehen. Dieser Bericht bietet eine Orientierungshilfe, wie Staaten dafür sorgen können, dass ihr rechtlicher und politischer Rahmen die Selbstbestimmung fördert und strukturelle Barrieren abgebaut werden. Der Bericht wurde kürzlich ins Deutsche übersetzt und die Monitoring-Stelle UN-BRK hat dazu eine Information veröffentlicht. Darin gehen wir auf die Lage weltweit und die menschenrechtlichen Vorgaben ein und richten auch den Blick auf die Situation in Deutschland.
(P. Carega, März 2022)