Schon jetzt werden ihre Rechte in einer Reihe von EU-Mitgliedstaaten verletzt und massiv eingeschränkt. Das betrifft insbesondere das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren und die menschenwürdige Aufnahme und Versorgung Schutzsuchender. Es gibt zahlreiche Berichte, dass Asylsuchende gewaltsam ohne Prüfung ihrer Asylgründe über die Grenze in die Anrainerstaaten der EU gebracht werden. In anderen Fällen werden Menschen über Wochen in gefängnisähnlichen Lagern umgeben von Stacheldraht und Wachtürmen untergebracht, darunter auch Familien und Kinder. Menschen mit traumatischen Fluchterlebnissen brauchen einen sicheren Ort, um zur Ruhe zu kommen und sich mithilfe von rechtlichem und psychologischem Beistand auf das Asylverfahren vorzubereiten.
Die geplante Reform schafft in Bezug auf diese Missstände keine Abhilfe, sondern entfernt sich weiter von menschenrechtlichen Grundprinzipien und droht die Aushöhlung des europäischen Flüchtlingsschutzes weiter voranzutreiben, etwa durch beschleunigte Asylverfahren an den Außengrenzen der EU.
Beschleunigte Asylverfahren an den EU-Außengrenzen sind tatsächlich ein Kernstück der Reform. Warum ist dies aus menschenrechtlicher Sicht so bedenklich?
Suerhoff: Menschen aus Herkunftsländern, denen im europäischen Durchschnitt in weniger als 20 Prozent der Fälle eine Flüchtlingsanerkennung oder ein subsidiärer Schutzstatus zugesprochen wird, sollen ein beschleunigtes Grenzverfahren durchlaufen. Die Vorschläge sehen vor, dass Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen zunächst als nicht eingereist gelten, obwohl sie bereits europäischen Boden betreten haben. Auch wenn der Verordnungsentwurf nicht explizit von Haft spricht, ist nicht ersichtlich, wie das Einreiseverbot während der Grenzverfahren ohne geschlossene Aufnahmezentren oder erhebliche Freiheitsbeschränkungen durchzusetzen ist. Selbst Familien mit Kindern oder besonders vulnerable Geflüchtete sollen nicht per se ausgenommen werden.
Ein systematischer Freiheitsentzug allein aufgrund eines Asylantrags widerspricht der Genfer Flüchtlingskonvention. Zudem zeigen die bisherigen Erfahrungen mit Aufnahmelagern und Transitzonen an den EU-Außengrenzen, dass eine menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung sowie Zugang zu Rechtsberatung unter diesen Bedingungen in der Regel nicht gewährleistet ist.
Die EU-Innenminister*innen haben sich auch darauf geeinigt, das Konzept der sicheren Drittstaaten auszuweiten. Was bedeutet das für Asylsuchende und wie positioniert sich das Institut dazu?
Suerhoff: Reist eine schutzsuchende Person über einen von der EU oder einem Mitgliedstaat als sicher deklarieren Drittstaat ein, so kann der Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Person ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylgründe in diesen Drittstaat abgeschoben werden. Der vorliegende Ratsentwurf senkt die Anforderungen an die Einstufung nun erheblich: Staaten können demnach als sicher erklärt werden, obwohl bestimmte Regionen oder Personengruppen innerhalb des Landes nicht sicher sind.
Inhaltliche Asylprüfungen können in der Folge in Drittstaaten ausgelagert werden, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben und in denen deutlich geringere Standards im Aufnahme- und Asylsystem gelten. Als Folge könnten sogenannte Kettenabschiebungen in die Herkunftsländer drohen, was einen Verstoß gegen den Non-Refoulement-Grundsatz bedeuten würde. Dieser Grundsatz besagt, dass Menschen nicht in Länder zurückgeschickt werden dürfen, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Unter dem Stichwort „Solidaritätsmechanismus“ soll künftig die Verantwortung bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen zwischen den EU-Außenstaaten und den anderen EU-Mitgliedstaaten geteilt werden. Werden die Rechte von Geflüchteten bei diesem Mechanismus mitgedacht?
Suerhoff: Die EU hält im Grundsatz am geltenden Verteilungssystem fest. Es gilt weiterhin das Prinzip des Ersteinreisestaates. Das heißt in der Praxis, dass die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen weiterhin für die Durchführung der Asylverfahren zuständig sind. Zwar sollen die anderen Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht genommen werden. Allerdings muss ihre „Solidarität“ nicht unbedingt in der Übernahme von Asylsuchenden aus Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen liegen, sondern kann auch aus Kompensationszahlungen bestehen. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen entlastet werden, so dass weiterhin mit überlasteten Aufnahmezentren und völkerrechtswidrigen Pushbacks zu rechnen ist.