Das Institut hat im Rahmen eines vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Projekts zwischen Februar 2019 und Juli 2020 eine Studie zur Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt durchgeführt. Auf der Basis von Recherchen und Gesprächen mit mehr als 100 Expert*innen aus den verschiedenen an der Akutversorgung beteiligten Bereichen hat das Institut Handlungsempfehlungen abgeleitet. Wir befragten Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, zu den Ergebnissen der Untersuchung.
Frau Rudolf, Studien zufolge erfahren 35 bis 40 Prozent der Frauen in Deutschland im Laufe ihres Lebens körperliche oder sexualisierte Gewalt. Die sogenannte Istanbul-Konvention, die seit 2018 in Deutschland geltendes Recht ist, verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, eine kostenfreie und flächendeckende Akutversorgung nach sexualisierter oder körperlicher Gewalt sicherzustellen. Was alles gehört zu einer umfassenden Akutversorgung?
Beate Rudolf: Wenn Frauen körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, brauchen sie zunächst einmal ärztliche Versorgung: Ihre Verletzungen müssen diagnostiziert und behandelt werden; im Fall von sexualisierter Gewalt besteht zudem die Gefahr, dass die Frauen mit einer sexuell übertragbaren Krankheit infiziert wurden oder dass sie schwanger werden. Auch die oft lang anhaltenden psychischen Folgen solcher Gewalttaten sind im Blick zu behalten. Dazu braucht es ein gutes Netz von Anlaufstellen, in denen die betroffenen Frauen Beratung und Unterstützung bekommen. Wichtig, besonders im Hinblick auf eventuell folgende Gerichtsverfahren, sind außerdem die Dokumentation der Verletzungen und die Spurensicherung, die in der Regel von rechtsmedizinischen Expert*innen durchgeführt wird. All dies braucht es unabhängig davon, ob eine Frau unmittelbar nach der Tat Anzeige erstattet oder nicht. Die Istanbul-Konvention macht klar: Eine solche ganzheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht!
Laut den Empfehlungen des Europarates soll die Akutversorgung in sogenannten Versorgungszentren stattfinden, um medizinische und psychosoziale Versorgung sowie Spurensicherung an einem Ort zu bündeln. Solche Zentren sind in Deutschland eher die Ausnahme. Was bedeutet das in der Praxis für betroffene Frauen?
Rudolf: Erste Anlaufstellen für betroffene Frauen sind häufig niedergelassene Ärzt*innen, Kliniken oder Fachberatungsstellen in unmittelbarer Nähe. Diese sind jedoch nicht auf eine umfassende Akutversorgung ausgelegt, manchmal fehlt es an rechtsmedizinischem Fachwissen oder einige der notwendigen Untersuchungen oder Behandlungen können vor Ort nicht durchgeführt werden. Das bedeutet für die betroffenen Frauen, dass sie häufig von einer Stelle zur anderen weiterverwiesen werden, lange Anfahrtswege und/oder Wartezeiten in Kauf nehmen müssen und dabei immer wieder mit neuen Ansprechpersonen zu tun haben, denen sie über die erlebte Gewalt berichten sollen. Das alles ist in dieser Notfallsituation für die Frauen sehr belastend, zumal so kurz nach der Gewalttat. Sie brauchen zumindest eine Begleitung, die sie auf allen Stationen der Akutversorgung unterstützt. Aber auch mit einer engagierten und kompetenten Begleitung brechen viele Frauen den beschwerlichen Weg durch die Versorgungsstrukturen frühzeitig ab, so ein Ergebnis der vorliegenden Analyse. Unterbliebene Untersuchungen oder Behandlungen können aber schwerwiegende körperliche und seelische Konsequenzen für die betroffenen Frauen haben und nehmen ihnen die Entscheidung darüber, ob sie eine strafrechtliche Verfolgung des Täters in Gang setzen wollen.
Welche Hindernisse sind es vor allem, die in Deutschland einer umfassenden Akutversorgung „aus einer Hand“ entgegenstehen?
Rudolf: Deutschland ist ein Flickenteppich, was die Akutversorgung nach körperlicher oder sexualisierter Gewalt gegen Frauen betrifft. Es gibt regional sehr große Unterschiede. Engagierte Fachärzt*innen, Fachberatungsstellen und Rechtsmediziner*innen haben bereits Netzwerke aufgebaut und arbeiten weiter daran, Kooperationen zwischen allen beteiligten Akteuren zu etablieren, um die Situation zu verbessern. Es gibt allerdings einige strukturelle Hürden, die von Bund, Ländern und Gesundheitswesen abgebaut werden müssten. Die chronische Überlastung und Unterfinanzierung im Gesundheitswesen ist eine dieser Hürden. Eine Akutversorgung stellt Krankenhäuser vor Probleme, denn sie haben kaum Kapazitäten, um zusätzlich zum Regelbetrieb rund um die Uhr Akutversorgung durch speziell fortgebildetes medizinisches Personal vorzuhalten. Zudem ist es generell oft schwierig, rechtsmedizinische Expertise in die Akutversorgung einzubinden, die in der Regel an rechtsmedizinische Institute angegliedert und weder flächendeckend noch in Akutsituationen immer verfügbar ist. Ein weiteres strukturelles Hindernis bilden die unterschiedlichen Regelungen zur Vergütung ärztlicher Leistungen. Beispielsweise können Kliniken in der Notfallversorgung Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten nicht abrechnen oder die „Pille danach“ verordnen, das ist nur in der ambulanten Versorgung vorgesehen.
Die Bedeutung einer „gerichtsfesten“ Spurensicherung für ein Gerichtsverfahren haben Sie bereits angesprochen. Im März dieses Jahres sind Neuregelungen zur sogenannten vertraulichen Spurensicherung in Kraft getreten. Warum waren diese Neuregelungen notwendig und wie verbessern sie die Situation betroffener Frauen?
Rudolf: Bisher wurden Verletzungsdokumentation und Spurensicherung nur vergütet, wenn eine Strafanzeige vorliegt. Viele Frauen erstatten jedoch keine Anzeige, oder erst später – oft aus Angst vor weiteren Übergriffen oder weil sie unmittelbar nach der Tat gar nicht in der Verfassung sind zu entscheiden, ob sie einen Strafprozess auf sich nehmen wollen. In einem solchen Fall mussten betroffene Frauen die Kosten für eine rechtsmedizinische Untersuchung oder Laborleistungen, etwa um K.-o.-Tropfen nachweisen zu können, aus eigener Tasche bezahlen. Verfahrensunabhängige Angebote – also wenn keine Strafanzeige gestellt wird – waren weder Kassenleistung noch über das Justizvergütungsgesetz finanzierbar. Diese Lücke schließen nun – jedenfalls für gesetzlich Versicherte – die Neuregelungen, die jetzt von Ländern und Krankenversicherungen umgesetzt werden müssen. Der Handlungsspielraum betroffener Frauen wird damit erweitert: Sie können sich auch noch lange nach der Tat für eine Anzeige entscheiden, wenn ihre Verletzungen und relevante Beweismittel im Rahmen der vertraulichen Spurensicherung langfristig dokumentiert sind. Das Institut empfiehlt insoweit eine gesetzliche Regelung, wonach das Spurenmaterial so lange aufbewahrt werden muss, wie die Tat noch nicht straf- oder zivilrechtlich verjährt ist. Die Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung zur verfahrensunabhängigen Spurensicherung sollte genutzt werden, um insgesamt eine flächendeckende und qualitativ hochwertige Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt für alle sicherzustellen.
(H. Gläser, November 2020)