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„Wenn die Unabhängigkeit der Justiz in einem EU-Mitgliedstaat bedroht ist, dann sind die Menschenrechte in allen EU-Mitgliedstaaten in Gefahr“

© DIMR/A. Illing

· Meldung

Alle EU-Mitgliedstaaten haben sich in den EU-Verträgen zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bekannt. Doch vielerorts erstarken politische Strömungen, die rechtsstaatliche Institutionen und Verfahren aushebeln wollen und die Gewaltenteilung sowie die Bindung aller Staatsgewalt an die Grund- und Menschenrechte in Zweifel ziehen.

Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, erläutert im Interview, warum unabhängige Gerichte für die Bewahrung der Menschenrechte unverzichtbar sind.

Vielerorts in Europa erstarken autoritäre Strömungen, die rechtsstaatlichen Institutionen und Verfahren aushebeln wollen und die Menschenrechte in Zweifel ziehen. Wo sehen Sie die größten Gefahren?

Beate Rudolf: In Europa sehen wir mit großer Sorge, dass menschenverachtende Ideologien nicht nur von politischen Strömungen, sondern sogar von Regierungen einiger Staaten propagiert werden. Auf diese Weise greifen sie die Menschenrechte frontal an. Wer Diskriminierung, Ausgrenzung, Hass und Gewalt durch Worte und Taten fördert, unterminiert die Menschenrechte. Diese aber sind – wie es das Grundgesetz formuliert – „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Und wenn Regierungen die Unabhängigkeit der Justiz angreifen, dann versuchen sie, sich ihrer Rechenschaftspflichtigkeit für Menschenrechtsverletzungen zu entziehen.

„In Europa sehen wir mit großer Sorge, dass menschenverachtende Ideologien nicht nur von politischen Strömungen, sondern sogar von Regierungen einiger Staaten propagiert werden"

Die gegenwärtigen autoritären Strömungen agieren populistisch, das heißt sie propagieren eine absolute Herrschaft des Volkes und behaupten, das Volk sei homogen und nur sie würden den wahren Willen des Volkes vertreten. Oft greifen diese Strömungen auf völkische, rassistische Vorstellungen zurück. „Das Volk“ wird als ethnisch „rein“ imaginiert oder als eine Kulturgemeinschaft, an der bestimmte Gruppen von Menschen nicht teilhaben können, weil sie eine unabänderliche andere Kultur hätten. Damit wird die Individualität von Menschen geleugnet und Menschen werden in rassistischer Weise ausgegrenzt – indem gegen jüdische oder muslimische Menschen, gegen Sinti_zze und Rom_nja oder gegen geflüchtete Menschen gehetzt wird und der Gewalt das Wort geredet wird. Auch andere Gruppen von Menschen werden Ziel von Abwertung, Hetze und Gewalt – lesbische, schwule, transidente oder queere Menschen oder Menschen mit Behinderungen ebenso wie Frauen die sich gegen Geschlechterstereotype zur Wehr setzen und ihr Selbstbestimmungsrecht einfordern.

„Unabhängige Gerichte sind für die Bewahrung all dieser Menschenrechte unverzichtbar“

Autoritäre Strömungen leugnen, dass es Interessensgegensätze gibt, unterschiedliche politische Auffassungen und divergierende Wertvorstellungen. Schon dieses antipluralistische Verständnis ist zutiefst demokratiefeindlich. Demokratie bedeutet ja gerade, aus widerstreitenden Positionen in formalisierten Verfahren Mehrheiten für eine Entscheidung zu gewinnen. Menschenrechte, insbesondere Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Wahlrecht, sind hierfür eine wichtige Voraussetzung. Diese Rechte darf der Staat nicht willkürlich beschränken, und er muss wirksam davor schützen, dass politische Gruppen Menschen durch Drohungen und Gewalt davon abhalten, ihre Rechte auszuüben. Unabhängige Gerichte sind für die Bewahrung all dieser Menschenrechte unverzichtbar.

Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland ein?

Rudolf: Auch in Deutschland beobachten wir, dass populistische Strömungen erstarken. Sie säen Hass, verwenden gewalttätige Sprache und öffnen so die Schleusen für physische Gewalt. Sie verbreiten Verachtung gegenüber demokratischen Prozessen und pervertieren Menschenrechte, indem sie diese Rechte bestimmten Gruppen von Menschen absprechen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Vertreter_innen des Staates, die Spitzen der politischen Parteien und die Zivilgesellschaft dem unmissverständlich entgegentreten. Sie müssen sie die Verantwortlichkeit populistischer Strömungen für Gewalt klar benennen, wie dies nach den Anschlägen von Halle und Hanau geschehen ist. Und sie müssen ihren eigenen Worten Taten folgen lassen.

„Es bleibt eine wichtige Aufgabe in Deutschland, den scheinbar einfachen Lösungen der Populist_innen eine an den Menschenrechten orientierte Politik entgegenzusetzen“

Als Nationale Menschenrechtsinstitution finden wir es besonders besorgniserregend, dass die menschenfeindlichen und menschenrechtsfeindlichen Diskurse der Populist_innen hierzulande schleichend den Weg in den politischen Mainstream finden. Gegenüber Geflüchteten beobachten wir beispielsweise eine Rhetorik und Politik der Abschreckung – doch wer Menschen ertrinken lässt, um andere von der Flucht nach Europa abzuhalten, der macht Menschen zum Mittel zum Zweck. Genau das aber verbietet die Menschenwürde. Wer sich heute gegen Rassismus ausspricht, darf morgen nicht einfach Menschen aus bestimmten Ländern, für die Verbreitung von Corona verantwortlich machen. Wer sich zu den Menschenrechten bekennt, der darf nicht wirtschaftlich schwachen Menschen pauschal unvernünftigen Umgang mit staatlicher Unterstützungsleistung oder gar Sozialbetrug unterstellen, sondern muss sich dafür einsetzen, dass Menschen als selbstverantwortliche Individuen ernst genommen und entsprechend unterstützt werden. Es bleibt eine wichtige Aufgabe in Deutschland, den scheinbar einfachen Lösungen der Populist_innen eine an den Menschenrechten orientierte Politik entgegenzusetzen.

Das Institut veranstaltet am 25. Juni gemeinsam mit dem Ombudsmann der Republik Polen für Bürger- und Menschenrechte eine Konferenz, welche die Gefahren für Rechtsstaatlichkeit in Europa beleuchtet. Was ist Ziel der Konferenz?

Rudolf: Als unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitutionen Polens und Deutschlands können wir nicht schweigen, wenn die Rechtsstaatlichkeit in Staaten der EU bedroht ist. Menschenrechte und Rechtsstaat gehören untrennbar zusammen. Menschenrechte begrenzen und steuern das Handeln des Staates. Unabhängige Gerichte schützen die Menschenrechte, wenn Regierungen, Parlamente oder Verwaltungen sie verletzen. All das zeigt die Corona-Pandemie wie in einem Brennglas. Umgekehrt schützen die Menschenrechte auch den Rechtsstaat, weil sie Gesetzesklarheit, Gesetzesbindung der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz absichern.

„Wir sehen die Europäische Union in ihren Grundfesten bedroht“

Wir sehen die Europäische Union in ihren Grundfesten bedroht: Als Rechts- und Wertegemeinschaft basiert sie darauf, dass alle Mitgliedstaaten einzeln und gemeinsam die Grund- und Menschenrechte aller Menschen beachten und bewahren. Unabhängige Gerichte in allen Mitgliedstaaten sind hierfür eine Grundvoraussetzung. Wer sonst schützt unsere Rechte, wenn Regierungen, Parlamente oder Verwaltungen sie verletzen?

Wenn die Unabhängigkeit der Justiz in einem EU-Mitgliedstaat bedroht ist, dann sind die Menschenrechte in allen EU-Mitgliedstaaten in Gefahr. Deutsche Behörden müssen zum Beispiel die Urteile von Familiengerichten aus anderen EU-Staaten vollstrecken und einen europäischen Haftbefehl befolgen. Aber sie dürfen sich nicht zum Handlanger von Menschenrechtsverletzungen machen. Solange alle EU-Mitgliedstaaten Rechtsstaaten sind, funktioniert das. Dann, und nur dann, besteht berechtigtes gegenseitiges Vertrauen, dass die Gerichte des anderen Staates unabhängig entschieden haben, das heißt willkürfrei und unter Beachtung der Menschenrechte. Aus diesem Grund können nur Staaten, die Rechtsstaaten sind, Mitglieder der Europäischen Union werden und bleiben.

Deshalb wollen wir, die polnische und die deutsche Nationale Menschenrechtsinstitution, gemeinsam das Bewusstsein der Menschen in Deutschland, Polen und in ganz Europa für die Bedeutung der Unabhängigkeit der Justiz stärken. Wir wollen aufzeigen, welche europäischen Maßstäbe für die Unabhängigkeit der Justiz bestehen und wie die Unabhängigkeit der Justiz bedroht wird. Wir wollen fragen, wie die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten Rechtsstaatlichkeit in Europa sichern kann.

Am 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Wie kann die Bundesregierung hier zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Beachtung der Menschenrechte in Europa beitragen?

Rudolf: Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Bewahrung der Unabhängigkeit der Justiz, muss während der deutschen Ratspräsidentschaft oberste Priorität sein. Die Bundesregierung sollte sich daher mit allem Nachdruck dafür einsetzen, dass Polen die Urteile des Gerichtshofs der EU vollständig befolgt. Die Richterauswahl und die Zusammensetzung der Disziplinarkammer dürfen nicht länger von der Regierung kontrolliert werden, und der Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht muss sichergestellt sein. Es ist nicht hinnehmbar, dass Richter und Richterinnen sanktioniert werden, wenn sie unter Berufung auf Urteile des Gerichtshofs der EU-Recht sprechen oder Kritik an den Justiz-‚Reformen‘ äußern.

„Ein kontinuierliches Rechtsstaats-Monitoring aller EU-Mitgliedstaaten ist wichtig“

Die Bundesregierung sollte außerdem darauf hinwirken, dass nur Staaten mit unabhängiger Justiz Geld aus dem Haushalt der EU erhalten. Nur mit unabhängiger gerichtlicher Kontrolle wird sichergestellt, dass die Europäische Union weder direkt noch indirekt Regierungen unterstützt, die Rechtsstaat und Menschenrechte untergraben. Deshalb ist auch ein kontinuierliches Rechtsstaats-Monitoring aller EU-Mitgliedstaaten wichtig. Hierzu tragen wir als Nationale Menschenrechtsinstitutionen bei.

Zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der EU gehört schließlich auch, in allen Politikfeldern die Beachtung der Menschenrechte sicherzustellen. So muss etwa die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf der menschenrechtlichen Pflicht der EU-Staaten basieren, allen Schutzsuchenden Zugang zu einem fairen und individuellen Asylverfahren zu gewährleisten. Das umfasst auch wirksame Rechtsschutzverfahren und der Zugang zu anwaltlichem Rechtsbeistand. Bei den Maßnahmen, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der COVID‑19-Krise abzufedern, müssen Menschen in besonders vulnerablen Lebenslagen besonders berücksichtigt werden. Dazu gehören etwa Menschen in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen, Alleinerziehende, Menschen in Pflegeeinrichtungen, Menschen mit Behinderungen, Wohnungslose und Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften. Zudem ist bei den Maßnahmen zu berücksichtigen, dass Frauen überproportional und in besonderer Weise von den Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 betroffen waren und sind.

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