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„Unverzichtbar ist, auf die Erfahrungen jüdischer Menschen in Deutschland zu hören und sie ernst zu nehmen“

„Mich besorgt der weit verbreitete Antisemitismus, der sich in Reaktionen auf den Terrorangriff zeigt.“ Beate Rudolf, Institutsdirektorin. © DIMR/A. Illing

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Gespräch mit Institutsdirektorin Beate Rudolf anlässlich des Jahrestags des Überfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.

Vor einem Jahr überfiel die Terrororganisation Hamas Israel, ermordete über 1.200 Menschen und verschleppte mehr als 230 Menschen in den Gazastreifen. Der Angriff und seine Folgen beschäftigen seitdem Politik und viele Menschen weltweit. Welche Reaktionen haben Sie in Deutschland beobachtet?

Beate Rudolf: Ich beobachte mit Sorge, dass das Schicksal der Geiseln angesichts des Leids in Gaza sehr schnell in der breiten Öffentlichkeit in den Hintergrund getreten ist. Mitgefühl und menschenrechtliche Solidarität gebühren aber allen Opfern – den Ermordeten, den Vergewaltigten, den Geiseln und denen, die infolge von Raketenbeschuss und anderen militärischen Maßnahmen getötet oder verletzt wurden, sowie ihren Angehörigen – in Israel, in Gaza und im Libanon.

Aus menschenrechtlicher Sicht ist ganz klar: Der gezielte Angriff der Hamas auf Zivilist*innen ist ein Kriegsverbrechen, dabei sind sexualisierte Gewalt und Geiselnahmen besonders verwerflich, und alle diese Taten können völkerrechtlich durch nichts gerechtfertigt werden. Deshalb ist es auch richtig, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Haftbefehle gegen die Spitze der Hamas beantragt hat.

Mich besorgt der weit verbreitete Antisemitismus, der sich in Reaktionen auf den Terrorangriff zeigt. Denn antisemitisch ist es, jüdische Menschen in Deutschland für das Handeln der israelischen Regierung und des israelischen Militärs verantwortlich zu machen, sei es durch Worte oder durch Gewalttaten. Antisemitisch ist es auch, alle militärischen Aktionen des israelischen Militärs pauschal als Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu brandmarken und damit Israel als Staat zu delegitimieren. Das humanitäre Völkerrecht verlangt eine genaue Betrachtung jeder einzelnen militärischen Aktion. Wer das ausblendet, dem geht es nicht um die Verteidigung des Rechts. Wir brauchen mehr Differenzierung in der öffentlichen Debatte.

Was hat der 7. Oktober 2023 in Deutschland verändert?

Rudolf: Für viele Jüdinnen und Juden auch in Deutschland löste der Hamas-Überfall in mehrfacher Hinsicht eine fundamentale Erschütterung aus: Er weckte traumatische familiäre Erinnerungen an Pogrome und genozidale Verfolgung, erschütterte das Gefühl der Sicherheit, dass Israel jüdischen Menschen jederzeit Schutz bietet, und löste bei ihnen im Fortgang der militärischen Auseinandersetzung die tiefe Sorge über die Zukunft, wenn nicht gar das Überleben, des Staates Israel aus. Hinzu kamen die Sorge über das Schicksal der Geiseln und das Mitleiden mit Familie und Freund*innen der Opfer. Zugleich wurden und werden Jüdinnen und Juden für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich gemacht und angefeindet. Zahlreiche Organisationen und Institutionen berichten über eine starke Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober. Dennoch erfuhren Juden und Jüdinnen zu Beginn wenig Solidarität aus der Zivilgesellschaft. Das erschüttert das Vertrauen jüdischer Deutscher in das Schutzversprechen ihres Staates und in ihre Mitbürger*innen – ein Vertrauen, das schon vor dem 7. Oktober 2023 prekär war, weil jüdisches Leben in Deutschland in zentralen Bereichen nur unter Polizeischutz möglich war und ist. Vergessen wir nicht, dass am 9. Oktober vor fünf Jahren ein deutscher Rechtsextremist die Synagoge in Halle überfiel, die trotz Bitten der Gemeinde selbst am höchsten jüdischen Feiertag keinen Polizeischutz erhalten hatte.

Für viele Menschen in Deutschland, die palästinensischer Herkunft sind, steht die militärische Reaktion Israels und das Schicksal von Familienangehörigen und Freund*innen im Zentrum. Wir sehen zahlreiche Demonstrationen für die Rechte der Palästinenser*innen, leider auch Demonstrationen für die Terrororganisation Hamas. Das stellt den Staat vor große Herausforderungen. Denn es muss den Menschen möglich sein, ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Opfern in Gaza auszudrücken. Zugleich darf der Staat Volksverhetzung und die Billigung von Straftaten nicht zulassen.

In Deutschland werden seit dem 7. Oktober immer wieder pro-palästinensische Demonstrationen verboten. Waren diese Verbote angemessen? Unter welchen Umständen sollte die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden, um vor Antisemitismus zu schützen?

Rudolf: Es ist bedenklich, dass „pro-palästinensisch“ vielfach pauschal mit „pro Hamas“ gleichgesetzt wurde und wird. Die Versammlungsfreiheit und die Meinungsfreiheit sind im demokratischen Rechtsstaat hohe Güter. Sie finden ihre Grenzen in den vom Strafrecht gezogenen Grenzen, insbesondere dem Verbot der Billigung von Straftaten und von Volksverhetzung. Es ist Aufgabe der Polizei, Versammlungen zu schützen und zu ermöglichen. Daher sind pauschale Verbote „pro-palästinensischer“ Demonstrationen, wie sie etwa in Berlin und Hamburg nach dem 7. Oktober 2023 ausgesprochen wurden, wenn überhaupt nur als allerletztes Mittel zulässig. Zuvor muss die Polizei vielmehr Maßnahmen gegen einzelne Personen ergreifen, die Straftaten begehen, und auf die Versammlungsleitung einwirken, um solche Störer*innen auszuschließen. Hier hat die Polizei eine große Verantwortung, denn Äußerungen sind immer in ihrem konkreten Kontext zu verstehen. So kommt es auch, dass Gerichte in Deutschland sehr unterschiedliche Entscheidungen in der Frage gefällt haben, ob „From the river to the sea…“ als Volksverhetzung anzusehen ist.

Was muss die Politik unternehmen, um Jüdinnen und Juden in Deutschland besser zu schützen?

Rudolf: Unverzichtbar ist: Auf die Erfahrungen jüdischer Menschen in Deutschland zu hören und sie ernst zu nehmen. Ich habe das Beispiel des unzureichenden Schutzes jüdischer Einrichtungen schon genannt. Antisemitische Straftaten müssen wirksam verfolgt werden; dafür braucht es jedoch keine Verschärfung des Strafrechts, sondern die Stärkung der Strafjustiz darin, Antisemitismus zu erkennen und strafrechtlich zu ahnden. Ein weiteres wichtiges Schutzinstrument ist das Antidiskriminierungsrecht. 2022 hat sich die Bundesregierung in ihrer Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben zum Ziel gesetzt, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) entsprechend zu überarbeiten; geschehen ist bislang jedoch noch nichts. Auch Landesantidiskriminierungsgesetze, die den staatlichen Bereich betreffen – Behörden, Schulen, Hochschulen – stärken den Schutz vor Antisemitismus; hier sind noch zahlreiche Bundesländer säumig. Viel zu wenig wird in der politischen Debatte die Stärkung der Radikalisierungsprävention und der Strukturen für Deradikalisierung in den Blick genommen.

Welchen Beitrag können die Menschenrechte zur Antisemitismusbekämpfung leisten?

Rudolf: Allzu oft werden historisch-politische Bildung, Demokratiebildung und Menschenrechtsbildung als schnelles Mittel zur Radikalisierungsprävention missverstanden. Sie haben aber jeweils eigene Zielsetzungen – sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und aus ihr zu lernen, Erfahrung mit der Demokratie zu machen und Begeisterung für sie zu wecken, und die Befähigung zum Einsatz für die eigenen Rechte und die anderer Menschen. Gerade Menschenrechtsbildung vermag einen wichtigen Beitrag zur Antisemitismusbekämpfung zu leisten. Denn Menschenrechte gründen auf der gleichen Würde aller Menschen und verlangen daher, dass alle Menschen einander als Gleiche anerkennen. Menschenrechtsbildung vermittelt daher, welche Unrechtserfahrungen einzelne Bevölkerungsgruppen machen und trägt so dazu bei, Verständnis für andere zu entwickeln und Ablehnung zu überwinden. Menschenrechtsbildung umfasst zudem Lernen durch Menschenrechte, das heißt ein von Menschenrechten geprägtes Umfeld. Lehrkräfte müssen daher befähigt werden, Antisemitismus zu erkennen und zu adressieren. Es braucht Beschwerdestellen, die wirksame Abhilfe leisten können. Und schließlich braucht es nachhaltige Ansätze, um die Medienkompetenz von Schüler*innen zu stärken. Gerade seit dem Krieg in Gaza beobachten wir, dass soziale Medien Radikalisierungstreiber sind.

Welche Aufgaben sehen Sie für Politiker*Innen bei der Bekämpfung des Antisemitismus?

Rudolf: Rechtsextreme Parteien und Akteure befeuern unter dem Deckmantel der Antisemitismusbekämpfung antimuslimischen Rassismus. Deshalb ist es auch höchst gefährlich, wenn Politiker*innen etablierter Parteien in ihren Vorschlägen zur Antisemitismusbekämpfung auf die Zuwanderung aus muslimischen Ländern fokussiert sind. Vielmehr müssen sie Antworten auf die Frage finden, wie Erwachsene erreicht werden können, die hierzulande gefestigte antisemitische Weltbilder entwickelt haben oder diese aus ihren Herkunftsländern mitgebracht haben. Hier sind bürgerschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus, gegen Diskriminierung und gegen die Verbreitung von Desinformation zu stärken und die Löschung und Strafverfolgung von antisemitischen Straftaten online zu intensivieren.

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