75 Jahre Europarat
Europarat muss Motor des Menschenrechtsschutzes bleiben
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Meldung
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schützen ist Aufgabe des Europarats. 75 Jahre nach seiner Gründung ist Europa geprägt durch einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, zunehmenden Autoritarismus in vielen Mitgliedstaaten und eine restriktive Politik gegen Menschen, die Schutz suchen. Wie sieht die Zukunft des Menschenrechtsschutzes in Europa aus? Ein Interview mit Institutsdirektorin Beate Rudolf.
Der Europarat wurde am 05. Mai 1949 gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Europa zu fördern und zu schützen. Erfüllt der Europarat seinen Auftrag?
Beate Rudolf: 1949 wurde der Europarat als die Organisation des demokratischen Europas gegründet. Die Bundesrepublik Deutschland wurde bereits 1950, nur fünf Jahre nach Kriegsende, aufgenommen – übrigens drei Monate nach der Türkei. Heute schützt der Europarat die Menschenrechte von über 700 Millionen Menschen in 46 Mitgliedstaaten durch die Europäische Menschenrechtskonvention und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Allein das ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte: Wenn die Parlamente, Behörden und Gerichte eines Staates die Menschenrechte nicht beachten, können Betroffene dagegen vor einem internationalen Gericht vorgehen. Der Menschenrechtsschutz hat in den Staaten des Europarats durch die Rechtsprechung des EGMR wichtige Impulse erhalten. Das gilt auch für Deutschland, zumal das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der Menschenrechtskonvention auszulegen sind.
Wo sehen Sie Rückschritte?
Rudolf: Ein schwerer Rückschlag für den Menschenrechtsschutz in Europa war und ist der russische Angriff auf die Ukraine, der mithilfe schwerster Menschenrechtsverletzungen geführt wird und leider, wenn auch zu Recht, zum Ausschluss der Russischen Föderation aus dem Europarat führte. Dies ist allerdings – anders als manche meinen – kein Anzeichen für ein Versagen des Europarats, sondern war nur die zwingende Konsequenz des Angriffskriegs, der das Statut des Europarats und die Fundamente der rechtsbasierten internationalen Ordnung in flagranter Weise verletzt. Und man darf nicht vergessen: Zuvor hatte die russische Regierung hartnäckig Urteile des EGMR ignoriert, indem es systematische Menschenrechtsverletzungen wie etwa die unmenschlichen Verhältnisse in Gefängnissen nicht beseitigt hat.
Große Sorgen macht es mir, wenn Politiker*innen den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention fordern, weil der EGMR eine ihnen nicht genehme Entscheidung gefällt hat. Das haben wir zuletzt wieder im Vereinigen Königreich erlebt, nachdem der EGMR sich klar dem Versuch, Schutzsuchende nach Ruanda „auszulagern“, entgegengestellt hat, und in der Schweiz, nachdem der Gerichtshof auf die Beschwerde der „Klimaseniorinnen“ hin das Land wegen unzureichenden Schutzes vor den Folgen des Klimawandels verurteilt hat.
Inwiefern hat sich die Rolle des Europarats angesichts der aktuellen geopolitischen Veränderungen und der wachsenden Bedrohungen für die Menschenrechte in Europa verändert?
Rudolf: Angesichts der Zunahme autoritärer Regierungen in den Staaten des Europarates hat der EGMR in den vergangenen Jahren eine unschätzbare Funktion bei der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in Europa gehabt. In zahlreichen Urteilen hat er die Einschränkung und Unterminierung der richterlichen Unabhängigkeit als Menschenrechtsverletzungen festgestellt. Die Venedig-Kommission, das Expert*innengremium des Europarats zur Beratung der Mitgliedstaaten in verfassungsrechtlichen Fragen, konnte hierauf ebenso aufbauen wie die EU-Kommission bei der Frage der Sanktionierung von Staaten wegen Verstoßes gegen die Verfassungsgrundsätze der Union. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, bestehend aus Abgeordneten der Parlamente aller Mitgliedstaaten, leistet durch ihr Ländermonitoring wichtige Aufklärungsarbeit.
Allerdings ist es hochproblematisch, wenn einzelne Staaten durch „Kaviar-Diplomatie“ klare Positionierungen der Versammlung verhindern, wie dies beispielsweise Aserbaidschan gelungen ist. Die Versammlung und die Parlamente der Mitgliedstaaten müssen rigoros gegen solche Korruption in den eigenen Reihen vorgehen und die verantwortlichen Staaten sanktionieren.
Worin bestehen die drängendsten Herausforderungen, denen der Europarat derzeit gegenübersteht?
Rudolf: Als drängendste Herausforderung im Bereich des Menschenrechtsschutzes sehe ich das geplante Übereinkommen über Künstliche Intelligenz. Der gegenwärtig vorliegende Entwurf ist hochproblematisch, insbesondere da er den Privatsektor nicht von vornherein erfasst, den Bereich der nationalen Sicherheit und der Verteidigung ganz ausblendet und die notwendigen Überwachungsmechanismen nicht hinreichend stark ausgestaltet. Hier ist dringend Nacharbeit erforderlich.
Weiterhin dringlich ist auch die Ratifikation der Istanbul-Konvention, des Übereinkommens zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Derzeit sind Frauen in acht Mitgliedstaaten des Europarats nicht durch dieses Abkommen geschützt: in Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Litauen, der Slowakei, Tschechien, der Türkei und in Ungarn. In vielen dieser Staaten haben sich autoritäre, frauenfeindliche und fundamentalistische religiöse Strömungen unter dem Vorwand eines Kampfes gegen eine angebliche Gender-Ideologie zusammengetan, um den bereits durch die Menschenrechtskonvention erreichten Fortschritt im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt zunichtezumachen. Dem müssen die übrigen Staaten des Europarats entschlossen entgegentreten. Frauenrechte sind Menschenrechte!
Seit dem Ausschluss Russlands ist die Finanzierung des Europarats wieder finanziell prekärer geworden. Die notwendigen Kürzungen dürfen aber nicht auf Kosten der unabhängigen menschenrechtlichen Überwachungsmechanismen erfolgen. Der Gerichtshof, der Menschenrechtskommissar, die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), die Expert*innengruppen zur Istanbul-Konvention und zur Konvention gegen Menschenhandel, GREVIO und GRETA, sowie der europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter (CPT) – sie alle müssen vorrangig abgesichert werden.
Was ist die Zukunft des Menschenrechtsschutzes in Europa?
Rudolf: Der Europarat muss ein Motor des Menschenrechtsschutzes bleiben. Hierfür wird sich das Institut weiter gemeinsam mit seinen Schwesterinstitutionen im Europäischen Netzwerk der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen engagieren. Wir setzen uns für die Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch ein Fakultativprotokoll zum Recht auf saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt ein und für einen Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Denn dadurch würde ein einheitlicher Grundrechtsschutz in der EU gewährleistet – unabhängig davon, ob ein Mitgliedstaat oder ein EU-Organ gehandelt hat. Gerade in Zeiten, in denen rechtsextreme Parteien in ganz Europa die Geltung der Grund- und Menschenrechte leugnen, wäre das ein starkes Signal: Alle Hoheitsgewalt – ob staatlich oder supranational – ist an die Menschenrechte gebunden.
Und auch für Deutschland bleibt noch einiges zu tun: Nach wie vor steht die Ratifikation des 12. Fakultativprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention aus, das ein generelles Diskriminierungsverbot enthält. Ebenso sollte Deutschland endlich das Verfahren der Kollektivbeschwerde im Rahmen der Europäischen Sozialcharta anerkennen. Denn in Zeiten, in denen Wohnen zur zentralen sozialen Frage geworden ist, Kinderarmut verbreitet und Menschen in Sorge vor Altersarmut und Pflegenotstand sind, sind soziale Menschenrechte und ihre Durchsetzungsmechanismen wichtiger denn je.
Zur Person
Prof. Dr. Beate Rudolf ist seit 2010 Direktorin des Instituts. Sie ist Mitglied im Vorstand des Europäischen Netzwerks der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen und war Vorsitzende des Weltverbands der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen.
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