Interview mit Barbara Lochbihler zum Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens
Weltweit werden Menschen im Auftrag oder mit Duldung von Regierungen entführt und an geheimen Orten gefangen gehalten oder getötet. Ihr Schicksal bleibt oft ungeklärt. Dieses sogenannte Gewaltsame Verschwindenlassen ist völkerrechtlich seit 2010 mit der UN-Konvention gegen das Gewaltsame Verschwindenlassen geächtet.
Zum Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens am 30. August haben wir mit der Menschenrechtsexpertin Barbara Lochbihler gesprochen. Sie ist seit dem 1. Juli 2019 Mitglied in dem UN-Ausschuss, der die Einhaltung der Konvention überwacht.
Frau Lochbihler, vor Ihnen liegen vier Jahre, in denen Sie die Arbeit des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen mitgestalten werden. Wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte?
Barbara Lochbihler: Als eine von zehn Expert_innen im UN-Ausschuss werde ich mich an den generellen Debatten beteiligen und die anstehenden Länderberichte begleiten. Bereits jetzt arbeite ich im Team des Ausschusses mit, das sich mit den Eilaktionen befasst. Eilaktionen können von Personen gestartet werden, die den Ausschuss bitten, sie bei der Suche nach einer verschwundenen Person zu unterstützen. Hier gilt es schnell zu handeln: Koordiniert vom Sekretariat des Ausschusses in Genf, wird der zuständige Staat kontaktiert und gebeten, Auskunft über das Schicksal der verschwundenen Person zu geben und Suchmaßnahmen einzuleiten. Regional würde ich mich gerne auf Asien und die Arabische Welt konzentrieren, da dort zwar viele Menschen verschwinden, aber vergleichsweise wenig darüber berichtet wird. Die Verteilung der Regionen auf die Ausschussmitglieder ist Thema auf meiner ersten Ausschusssitzung im Oktober.
Die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ist seit Dezember 2010 in Kraft, bisher haben nur 60 der 193 UN-Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Auffällig ist der geringe Prozentsatz asiatischer Vertragsstaaten. Woran liegt es, dass in Asien dieser Menschenrechtsvertrag bislang so wenig Unterstützung findet?
Lochbihler: Die Konvention ist ja vergleichsweise „jung“. In Latein- und Zentralamerika sind viele Staaten beigetreten, in denen das Verschwindenlassen während der Zeit der Militärdiktaturen systematisch betrieben wurde. Diese Geschichte prägt manche Länder bis heute. Die Region Asien ist dagegen sehr heterogen. Staaten wie der Irak, Kambodscha oder Sri Lanka haben die Konvention zu einem Zeitpunkt ratifiziert, als der internationale Druck auf sie sehr hoch oder das Verschwindenlassen in ihren Ländern nicht mehr zu ignorieren war. Daneben gibt es in Asien viele autoritäre Regierungen, die internationalen Abkommen insgesamt kritisch gegenüberstehen. In Regionalverbünden wie ASEAN ist zudem die Haltung verbreitet, Menschenrechtsverletzungen in anderen asiatischen Staaten nicht zu thematisieren. Und nicht zuletzt konzentriert sich die Zivilgesellschaft in vielen asiatischen Staaten auf die Bekämpfung anderer schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, wie Folter oder Gewalt gegen Frauen, und nicht prioritär auf die Ratifizierung dieser Konvention.
Welche Möglichkeiten hat der Ausschuss, um Staaten zum Beitritt zu bewegen?
Lochbihler: Der Ausschuss hat in den acht Jahren seines Bestehens viel Wissen darüber gesammelt, wie die Konvention in den Vertragsstaaten umgesetzt wird und welche Schwierigkeiten dabei bestehen. Das können politische Widerstände sein, Probleme bei der Anpassung des nationalen Strafrechts, Vorbehalte oder fehlende Kompetenzen bei Justiz- und Vollzugsbehörden – oder schlicht mangelnde Ressourcen. Der Ausschuss kann seine Erfahrungen weitergeben und technische oder finanzielle Unterstützung aus anderen Vertragsstaaten vermitteln, letztlich müssen aber die Vertragsstaaten selbst diplomatische Überzeugungsarbeit leisten, um andere Staaten zum Beitritt zu bewegen.
Es ist entscheidend, die politischen Veränderungen in einzelnen Ländern zu beobachten und darauf gezielt zu reagieren. Wenn sich Regierungen positiv zum Menschenrechtsschutz bekennen, zum Beispiel nach Regierungswechseln wie in Malaysia und auf den Malediven, kann die UN, können Regionalorganisationen und die nationale und internationale Zivilgesellschaft intensiv für die Ratifizierung der Konvention werben und Unterstützung bei der praktischen Umsetzung der Konvention in nationales Recht anbieten.
Im April 2019 hat der UN-Ausschuss neue Leitlinien zur Suche nach Verschwundenen verabschiedet. Unter anderem sehen diese vor, dass die Angehörigen aktiv in die Suche eingebunden und laufend über deren Ergebnisse informiert werden. Ein Großteil dieser Angehörigen sind Frauen, viele von ihnen sind als direkt Betroffene zu politischen Aktivistinnen geworden. Welche Rolle spielen Frauen für die Arbeit des Ausschusses?
Lochbihler: Die große Mehrheit der direkten Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen sind Männer. Es sind vor allem ihre Ehefrauen, Mütter und Schwestern, die Aufklärung fordern und Öffentlichkeit herstellen, die über Monate oder gar Jahre hinweg gegen bürokratische Hürden und das Schweigen staatlicher Stellen ankämpfen. Bei ihrer Suche werden sie oftmals eingeschüchtert, bedroht oder gar selbst verfolgt. Diese Frauen haben sehr viel Wissen darüber, welche Schwierigkeiten und Widerstände überwunden werden müssen, um Gewissheit über das Schicksal der Verschwundenen zu erlangen.
Frauen sind als Angehörige aber auch selbst Opfer im Sinne der Konvention. Sie können einschätzen, wie eine Entschädigung für die Opfer, also auch für die Hinterbliebenen, aussehen muss. Dies ist ja ebenfalls in der Konvention vorgesehen. Das Wissen der oft weiblichen Angehörigen ist für die Arbeit des Ausschusses also unverzichtbar.
Die neuen Leitlinien sollen vor allem dazu beitragen, die Aufklärungsquote in Fällen von Verschwindenlassen deutlich zu erhöhen. Die jeweilige Situation in den einzelnen Staaten ist aber höchst unterschiedlich. – Wie kann der Ausschuss nun konkret die Leitlinien nutzen, um die Suche nach Verschwundenen wirksamer zu machen?
Lochbihler: Der Ausschuss hat, vor allem bei der Prüfung von Eilaktionen, bereits früher auf die Erfahrungen von Betroffenen, zivilgesellschaftlichen Akteuren und staatlichen Stellen zurückgegriffen. Das Wissen, das bei der Suche nach Verschwundenen in unterschiedlichen Staaten gesammelt wurde, ist nun zu großen Teilen in die Leitlinien eingeflossen. Unsere Aufgabe ist es, die Leitlinien bei Staaten und Zivilgesellschaft bekannt zu machen. Im August hat der Ausschuss begonnen, in Berichten und auch bei Eilaktionen auf die Leitlinien hinzuweisen und deren Umsetzung einzufordern. Generell muss in allen Gesprächen mit Vertreter_innen von Regierungen und der Zivilgesellschaft intensiv und regelmäßig über die Leitlinien informiert werden.
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