Mitteilung Nr. 1852/2008
CCPR, Auffassung vom 01.11.2012, Mitteilung Nr. 1852/2008, Bikramjit Singh gegen Frankreich
1. Sachverhalt
Der 18-jährige Sikh Bikramjit Singh (B. S.) besuchte in Frankreich ein öffentliches Gymnasium und trug dabei zunächst die Kopfbedeckung "Patka" und seit seinem 18. Lebensjahr den "Keski", einen kleinen Turban aus dunklem, leichten Stoff, der sein ungeschnittenes langes Haar bedeckte. Das Bedecken der Haare ist für männliche Sikhs eine religiöse Pflicht; die Aufforderung, die Kopfbedeckung abzulegen, wird gleichbedeutend mit der Aufforderung empfunden, etwas Unmögliches zu tun. Im März 2004 trat im laizistischen Frankreich ein Gesetz in Kraft, das das Tragen deutlich sichtbarer Symbole, die die Zugehörigkeit zu einer Religion zum Ausdruck bringen, in öffentlichen Schulen verbietet. Auf der Grundlage des Gesetzes soll zunächst der Dialog mit den Betroffenen gesucht werden ("Dialogphase"). Danach kann es zum Disziplinarverfahren bis hin zum Schulverweis kommen.
Im September 2004 begann für B. S. das Abschlussjahr. Bei Schulbeginn verbot ihm der Schulleiter ohne Anhörung des Disziplinarausschusses den Zutritt zu seinem Klassenraum, da B. S. sich weigerte, den "Keski" abzulegen. Am 11. Oktober erhielt er die Erlaubnis, während der Dialogphase in der Schulkantine ein Selbststudium zu betreiben. Während drei Wochen unterrichtete ihn keine Lehrkraft; ein Schuldiener brachte ihm auf Anfrage Bücher.
Am 18. Oktober 2004 beantragte B. S. eine einstweilige Verfügung, wieder am Unterricht teilnehmen zu dürfen, hilfsweise, vor dem Disziplinarausschuss erscheinen zu dürfen. Das französische Verwaltungsgericht verurteilte die Schule, den Disziplinarausschuss einzuberufen. Im November 2004 trat dieser zusammen und verwies B. S. mit sofortiger Wirkung der Schule, da er nach Ende der Dialogphase ablehnte seine Kopfbedeckung abzulegen. Seinen Widerspruch hiergegen wies der Leiter der örtlichen Schulbehörde unter Berufung auf das Gesetz zurück. Klage und Berufung gegen den Widerspruchsbescheid waren erfolglos. B. S. absolvierte seinen Schulabschluss per Fernstudium und begann dann ein Studium an einer Universität, die das Tragen des "Keski" erlaubte.
Im Dezember 2007 wies der oberste Gerichtshof in Frankreich die Revision zurück, die sich unter anderem auf Artikel 9 (Recht auf Religionsfreiheit), 8 (Recht auf Privatleben) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stützte. Artikel 9 EMRK sei nicht verletzt, da ein Schulverweis wegen der Bedeutung des Laizismus‘ in Frankreich nicht unverhältnismäßig sei. Ziel des Schulverweises sei es, die Einhaltung der Grundsätze des Laizismus‘ unabhängig von der jeweiligen Religion an Schulen zu fördern, weshalb keine Diskriminierung vorliege. Artikel 8 und 14 EMRK hinsichtlich der Glaubensgemeinschaft der Sikhs seien erstmals im Kassationsverfahren vorgebracht worden, sodass die hierauf gerichtete Revision unzulässig sei.
2. Verfahren vor dem UN-Menschenrechtsausschuss
B. S. legte 2008 vor dem UN-Menschenrechtsausschuss Mitteilung ein. Er stützte sich dabei auf Artikel 17 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und 18 (Recht auf Religionsfreiheit) allein und in Verbindung mit Artikel 2 und 26 (Diskriminierungsverbot) des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt, CCPR; BGBl. 1973 II, 1533).
Artikel 18 des Zivilpaktes sei verletzt, da der Schulverweis einen ungerechtfertigten Eingriff in seine Religionsfreiheit darstelle. Keiner der legitimen Zwecke aus Artikel 18 Absatz 3 Zivilpakt sei erfüllt. Die Maßnahme sei zudem unverhältnismäßig, da weder von der kleinen Sikh-Gemeinde in Frankreich noch von B. S. selbst Spannungen ausgingen, vor denen andere Schülerinnen und Schüler geschützt werden müssten. Es gebe auch – anders als bei muslimischen Schülerinnen – keine Beweise dafür, dass Sikhjungen unter Druck gesetzt würden, wenn andere den "Keski" tragen. Der "Keski" sei bereits die unauffälligere Variante des Turbans. Sikhs seien auch ohne Kopfbedeckung an ihren langen, ungeschnittenen Haaren zu erkennen. Die Behörde habe keinen konstruktiven Dialog mit Sikh-Gemeinschaften gesucht und auch ihm gegenüber keine Kompromissvorschläge gemacht.
B. S. wendet sich gegen die Wirkung des Gesetzes von 2004 und gegen seine Anwendung. Faktisch würden dadurch Minderheiten gedemütigt und aufgebracht.
Sikhs seien zudem vom Gesetzeszweck nicht erfasst. Ziel des Gesetzes sei vor allem, junge Musliminnen davor zu schützen, dass ihnen das Kopftuch gegen ihren Willen aufgedrängt wird. Ferner werde das Gesetz in unangemessener Weise angewendet. Dies habe sehr schwere Folgen für B. S. gehabt, der sich ohne seine Kopfbedeckung nackt und gedemütigt fühle.
Eine Verletzung von Artikel 17 des Zivilpaktes liege vor, da B. S. durch das Verbot wichtige Aspekte seiner religiösen Identität als Mitglied der Sikh-Gemeinschaft nicht ausdrücken dürfe und deshalb in seiner Privatsphäre und Ehre sowie in seinem Ruf verletzt sei.
Artikel 2 und 26 des Zivilpaktes in Verbindung mit Artikel 17 und 18 seien verletzt, da B. S. aufgrund seiner Religion und seiner ethnischen Identität Opfer direkter und indirekter Diskriminierung geworden sei. Die Haltung der französischen Behörden sei indirekt diskriminierend. B. S. trage ein diskretes Religionssymbol, so wie andere ein Kreuz mittlerer Größe tragen. Er werde ferner weniger günstig behandelt als andere, die andere (nicht-religiöse) Symbole trügen.
Die Beweislast für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung obliege jedoch dem Staat. Frankreich habe den Beweis für die Erforderlichkeit eines "Keski"-Verbots für Sikhs nicht erbracht.
Ferner liege eine indirekte Diskriminierung vor, weil der Staat versäumt habe, angemessene Ausnahmen für Sikhs zu schaffen. Menschen in unterschiedlichen Situationen müssten auch anders behandelt werden. Obwohl das Gesetz nicht auf Sikhs abziele, habe es auf diese eine unverhältnismäßig schädliche Auswirkung, wenn es so ausgelegt werde, dass es Sikhs das Tragen des "Keski" in der Schule verbiete. Der "Keski" stelle bereits einen Kompromiss dar.
Abschließend beruft sich der Beschwerdeführer auf die Schlussfolgerungen zu französischen Staatenberichten vor dem Menschen- und Kinderrechtsausschuss sowie die Allgemeine Bemerkung Nr. 22 des Menschenrechtsausschusses zu Religionsfreiheit (1993; CCPR/C/21/Rev.1/Add.4) (Rz. 3.1-3.18; 6.1-6.10).
Die französische Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.
Die Beschwerde sei unzulässig, da sich der Beschwerdeführer erstmals auf den Zivilpakt berufe und sich vorher nur auf die EMRK bezogen habe. Ferner habe er sich zuvor nicht auf seine Rechte auf Schutz des Privatlebens und auf Bildung gestützt. Zudem habe er vor den staatlichen Gerichten keinen Schadenersatzanspruch geltend gemacht. Deshalb habe er den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft (Rz. 4.1-4.4).
Die Beschwerde sei unbegründet, da die Rechte aus dem Zivilpakt nicht verletzt seien. Artikel 18 Zivilpakt (Recht auf Religionsfreiheit) sei nicht verletzt, da der Eingriff auch nach Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Menschenrechtsausschusses selbst (Staatenberichte) gerechtfertigt sei. Das Gesetz und seine Anwendung erfüllten einen legitimen Zweck; beides sei wegen des großen Stellenwerts des Laizismus‘ in Frankreich verhältnismäßig. Das neue Gesetz sei milder als das alte und biete mehr Rechtssicherheit. Es stelle das Verhalten des Schülers oder der Schülerin und die Bedrohung der öffentlichen Ordnung in den Vordergrund, sei nur auf öffentliche Schulen anwendbar und sehe einen Dialog vor, der auch stattgefunden habe. Der Schulverweis sei der letzte Schritt gewesen, da der Beschwerdeführer auf seiner Kopfbedeckung bestand und die Dialogphase selbst mit Anrufung des Gerichts beendete. Von etwa 100 Sikhs in der Region seien nur drei weitere von der Schule verwiesen worden. B. S. hätte eine Privatschule besuchen oder seinen Abschluss per Heimstudium mit Fernunterricht erlangen können.
Artikel 17 Zivilpakt (Recht auf Achtung des Privatlebens) sei nicht verletzt, weil die Maßnahme nicht illegal oder willkürlich gewesen sei. Die Behörden hätten lediglich eine objektive Einschätzung getroffen. Eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Religionszugehörigkeiten verstieße im Übrigen gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, verletzte die staatliche Neutralitätspflicht und sei deshalb diskriminierend.
Aus den gleichen Gründen liege auch kein Verstoß gegen Artikel 2 und 26 Zivilpakt (Diskriminierungsverbot) vor (Rz. 5.1-5.12).
3. Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses
Der Fachausschuss stellt eine Verletzung von Artikel 18 (Recht auf Religionsfreiheit) durch den Schulverweis des Schülers fest, da Frankreich nicht nachgewiesen habe, dass das Zurückstellen der Rechte des Einzelnen verhältnismäßig (erforderlich und angemessen) gewesen sei.
Eine eigenständige Prüfung des Artikels 26 (Diskriminierungsverbot) hält er unter Berufung auf "Ranjit Singh gegen Frankreich" (Mitteilung Nr. 1876/2009) nicht für angezeigt.
Der Ausschuss empfiehlt effektive Abhilfe und eine angemessene Entschädigung. Er schlägt Frankreich eine Gesetzesänderung vor, um ähnlichen Verletzungen vorzubeugen.
3.1 Zulässigkeit
Der Fachausschuss erklärt die Beschwerde unter Artikel 18 und 26 Zivilpakt für zulässig, hinsichtlich Artikel 17 Zivilpakt für unzulässig. Der innerstaatliche Rechtsweg sei erschöpft, da B. S. die relevanten Argumente zur Religionsfreiheit und zum Diskriminierungsverbot vor den innerstaatlichen Gerichten vorgebracht habe. Die Nennung konkreter Artikel sei nicht erforderlich. Dagegen sei der Rechtsweg in Hinblick auf Artikel 17 Zivilpakt nicht ausgeschöpft, da sich der Beschwerdeführer erst im Revisionsverfahren auf seine Privatsphäre berufen habe.
3.2 Eröffnung des Schutzbereiches der Religionsfreiheit: Kundgabe einer Religionszugehörigkeit durch das Tragen religiöser Symbole (Rz. 8.3)
Unter Berufung auf seine Allgemeine Bemerkung Nr. 22 zu Religionsfreiheit (1993) stellt der Fachausschuss fest, dass der Schutzbereich der Religionsfreiheit eröffnet ist. Artikel 18 des Zivilpaktes erfasse die Freiheit, seine Religion durch besondere Kleidung oder Kopfbedeckungen kundzutun. Es sei unbestritten, dass das Tragen eines Turbans in der Öffentlichkeit für männliche Sikhs eine religiöse Pflicht darstelle, die mit der persönlichen Identität verbunden sei. Daraus schließt der Ausschuss, dass das Tragen eines Turbans oder eines "Keski" eine religiöse Handlung darstelle und dass das französische Verbot einen Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit bedeute.
3.3 Rechtfertigung des Schulverweises: Verhältnismäßigkeit (Rz. 8.5-8.7)
Nach Ansicht des Fachausschusses ist der Schulverweis auch nicht verhältnismäßig, da der französische Staat die Belange des Einzelfalles nicht hinreichend berücksichtigt habe.
Prüfungsmaßstab (Rz. 8.5)
Der Fachausschuss prüft, ob die staatliche Maßnahme im Rahmen des Artikels 18 Absatz 3 Zivilpakt gerechtfertigt ist, wonach der Staat zu einer Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Gesundheit, Sitten oder des Schutzes der Grundrechte und –freiheiten anderer berechtigt ist. Der Menschenrechtsausschuss führt aus, dass ihm die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit – der Erforderlichkeit und Angemessenheit – der Maßnahme obliegt.
Legitimer Zweck im Sinne des Artikel 18 Absatz 3 des Zivilpaktes (Rz. 8.6)
Der Ausschuss erkennt den Grundsatz des Laizismus’ als legitimen Zweck zum Schutz der (negativen) Religionsfreiheit der Gesamtbevölkerung an. Er betont, dass das französische Gesetz als Reaktion auf konkrete Vorfälle an Schulen diesem Zweck und damit dem legitimen Ziel diene, Rechte anderer an einem Ort zu schützen, an dem sie bedroht seien.
Unverhältnismäßigkeit des Schulverweises (Rz. 8.7)
Der Menschenrechtsausschuss stellt fest, dass der Schulverweis gegen B. S. unverhältnismäßig und insbesondere nicht erforderlich gewesen ist.
Er stellt zunächst die Belange des Staates und des Beschwerdeführers gegenüber: Für männliche Sikhs stelle das Tragen einer Kopfbedeckung unstreitig eine Pflicht und einen wesentlichen Bestandteil ihrer Identität dar. Dagegen vereinfache das umfassende Verbot die Rechtsanwendung für die Behörden, die zudem diskrete religiöse Symbole in Einzelfallentscheidungen von dem Verbot ausnähmen.
Die französischen Behörden hätten keinen zwingenden Beweis erbracht, dass der Beschwerdeführer allein durch das Tragen des "Keski" eine Bedrohung für die Rechte anderer Schülerinnen und Schüler oder für die Einhaltung der Ordnung an der Schule darstelle. Sein endgültiger Schulverweis sei zudem eine unverhältnismäßige Strafe, die schwere Auswirkungen auf sein Recht auf Bildung hatte, das ihm wie jedem Menschen seines Alters in Frankreich zustand. Der Schulverweis sei nicht erforderlich gewesen. Der Dialog zwischen B. S. und den Behörden habe seine besonderen Interessen und Umstände nicht hinreichend berücksichtigt. Die schmerzhafte Sanktion sei B. S. nicht aufgrund seines Verhaltens, sondern allein aufgrund der Zuordnung zu einer weiten Gruppe von Menschen auferlegt worden, die durch ihr religiös bedingtes Verhalten definiert werde. Diesen Eingriff könne der Staat nicht mit verwaltungstechnischen Vereinfachungen rechtfertigen. Er müsse den Beweis führen, dass die Zurückstellung der Rechte des Einzelnen im Verhältnis zu den Vorteilen erforderlich oder angemessen sei. Dies habe Frankreich nicht nachgewiesen. Daraus schließt der Menschenrechtsausschuss, dass der Schulverweis nicht erforderlich gewesen sei.
3.4 Empfehlungen (Rz. 10)
Der Fachausschuss empfiehlt effektive Abhilfe einschließlich einer angemessenen Entschädigung. Er weist die Regierung darauf hin, dass Frankreich verpflichtet ist, ähnliche Verletzungen in Zukunft zu vermeiden. Deshalb solle Frankreich das Gesetz unter Berücksichtigung des Zivilpaktes, insbesondere von Artikel 18, ändern.
4. Bedeutung des Verfahrens für die Rechtspraxis
Bemerkenswert ist die Abweichung zur Rechtsprechung des EGMR. Im Gegensatz zum Menschenrechtsausschuss erklärt der EGMR in ständiger Rechtsprechung seit "Dogru gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 27058/05) und "Kervanci gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 31645/04) – beide zum Tragen eines Kopftuches im Sportunterricht – Beschwerden gegen das Verbot deutlich sichtbarer religiöser Symbole an Schulen für offensichtlich unzulässig. Der EGMR nimmt dabei die Perspektive des Staates ein. Die Entscheidung des Staates sei vom Beurteilungsspielraum gedeckt. Laizismus sei in Frankreich ein wesentlicher Verfassungsgrundsatz, dem die gesamte Bevölkerung zustimme ("Dogru gegen Frankreich", Rn. 72). Deshalb müsse der französische Staat (unter Beachtung des Pluralismus‘ und der Rechte anderer) dafür sorgen, dass das Tragen religiöser Symbole auf dem Schulgelände nicht zum Ausschluss anderer oder zu Druck gegenüber anderen führe ("Dogru gegen Frankreich", Rn. 71).
Diese Argumentation verfolgt der EGMR in zahlreichen Entscheidungen auch im Hinblick auf das neue französische Gesetz ("Ranjit Singh gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 27561/08), "Jasvir Singh gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 25463/08) in Bezug auf die Sikh-Gemeinschaft, "Aktas gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 43563/08), "Bayrak gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 14308/08), "Gamaleddyn gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 18527/08) und "Ghazal gegen Frankreich" (Beschwerde-Nr. 29134/08)). Schulverweise rechtfertigt er mit der Bedeutung des Laizismus‘, da auch diskretere Kopfbedeckungen Rückschlüsse auf die Religionszugehörigkeit zuließen. Es genüge, wenn der Staat den Beschwerdeführenden Privatschulen oder Fernstudium als Alternativen anbiete. Eine Diskriminierung liege nicht vor, da das französische Gesetz unterschiedslos auf alle religiösen Symbole anwendbar sei und sich nicht gegen die Religion der Beschwerdeführenden richte.
Dagegen nimmt der Menschenrechtsausschuss die Perspektive der betroffenen Schülerinnen und Schüler ein. Nach seiner Auffassung ist auch ein wesentlicher Grundsatz wie der Laizismus nicht so wichtig, dass die Behörden einfach eine Vorschrift anwenden können, ohne die Rechte der Betroffenen im Einzelfall zu prüfen.
Damit ergeben sich zwischen den Spruchkörpern auch beim Prüfungsumfang und bei der Beweislastverteilung Unterschiede: Während der EGMR einen weiten Beurteilungsspielraum annimmt, der seiner Überprüfung entzogen sei, solange keine Überschreitung der Grenzen ersichtlich ist, erlegt der Menschenrechtsausschuss dem Staat im Rahmen der Verhältnismäßigkeit teilweise die Beweislast auf und nimmt eine vollständige Überprüfung vor.
Die Argumentation des Menschenrechtsausschusses kann auch in gerichtlichen Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Deutsche Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwender müssen aber berücksichtigen, dass Deutschland kein laizistischer Staat ist, sodass sich Unterschiede bei der Abwägung ergeben können. Die Argumentation ist für Fragen besonders interessant, die das Tragen religiöser Symbole im öffentlichen Raum betreffen, sowie Fragen der Beweislastverteilung. Ob die Frage der Rechtmäßigkeit von Kopftuchverboten vor diesem Hintergrund eine Weiterentwicklung erfährt, bleibt abzuwarten. Generelle Verbote dürften unzulässig sein.
5. Follow up
In seinem "Follow-up Progress Report on Individual Communications" von 2013 (108. Sitzung, S. 13, "Ranjit Singh, 1852/2008") erklärt der Ausschuss, dass der Dialog fortgesetzt werde, da Frankreich die Empfehlungen nicht befolgt habe. Frankreich hatte in seinem Schriftsatz angekündigt, das Gesetz nicht zu ändern. Unter Verweise auf die Rechtsprechung des EGMR führte die Regierung aus, dass das Gesetz beiden Seiten angemessen Rechnung trage. Wegen des Gesetzes trugen nunmehr deutlich weniger Schülerinnen und Schüler religiöse Symbole; die Regelung werde durchgehend akzeptiert. Seit dem Schuljahr 2008/2009 habe es keine Beschwerden über Schulverweise mehr gegeben.
Siehe weiterführend auch:
Saïla Ouald Chaib, "Freedom of Religion in Public Schools: Strasbourg Court v. UN Human Rights Committee", 14.02.2013
Entscheidung im Volltext: