CRPD, Mitteilung Nr. 2/2010 (Groeniger vs. Germany)
CRPD, Auffassungen vom 04.04.2014, Liliane Gröninger gegen die Bundesrepublik Deutschland
1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.9, 2.11)
Thomas Gröninger (T. G.), geboren 1979, hat eine Behinderung und ist der Sohn von Liliane Gröninger (L. G.). Er hat eine allgemeine Schule besucht, an der er die Fachoberschulreife erworben hat. Seit 2002 ist T. G. bei der Agentur für Arbeit als arbeitssuchend gemeldet. Er sieht sich durch die Agentur für Arbeit diskriminiert. Er sei nicht durch spezielle Maßnahmen unterstützt worden, die seine Eingliederung in den Arbeitsmarkt erleichtert hätten. So habe er keinen Zugang zu Berufsausbildungs- und Arbeitsvermittlungsprogrammen der Arbeitsagentur erhalten. Auch habe er die Kursgebühren für die Teilnahme an Fortbildungskursen selbst tragen müssen. Die Stellenausschreibungen, die ihm die Arbeitsagentur zugesendet habe, seien nicht geeignet gewesen.
Insbesondere sei sein Eingliederungsprozess erheblich erschwert worden, weil ihm die Arbeitsagentur keinen Eingliederungszuschuss bewilligt habe. Der Eingliederungszuschuss sei eine ergänzende Zahlung an den Arbeitgeber, die dieser beantragen könne, wenn er eine Person mit einer Behinderung beschäftigen möchte. Der Zuschuss betrage höchstens 70 Prozent des Arbeitsentgelts und werde maximal für 60 Monate gewährt. Nach § 219 des dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III Arbeitsförderung, alte Fassung) werde der Antrag aber nur dann bewilligt, wenn die volle Arbeitsfähigkeit innerhalb von drei Jahren wiederhergestellt werden könne. Dies und die Tatsache, dass der Antrag nur durch einen Arbeitgeber und nicht durch Betroffene selbst gestellt werden könne, habe T. G. daran gehindert, eine Beschäftigung zu finden.
Diesbezügliche Klagen vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht wurden abgewiesen beziehungsweise waren zum Zeitpunkt der Beschwerde noch anhängig.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
L. G. reichte 2010 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 3, 4, 8 und 27 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.
Die Beschwerde sei zulässig, so L. G. Kein deutsches Gericht oder eine andere Stelle habe die in der Beschwerde geltend gemachte Diskriminierung untersucht. Auch stünden T. G. keine Rechtsbehelfe hinsichtlich seiner Integration in den Arbeitsmarkt mehr zur Verfügung. Gegen die Ablehnung des Eingliederungszuschusses habe er geklagt, aber in der zweiten Instanz habe das Gericht gedroht, ihm eine Geldstrafe für den Fall aufzuerlegen, dass die Klage nicht zurückgezogen werde. Die hohen Kosten hätten ihn von der weiteren Rechtsverfolgung in dieser Sache abgeschreckt. Eine Klage mit dem Ziel, festzustellen, dass T. G. ein Recht habe, den Eingliederungszuschuss zu beantragen, sei durch das Berufungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen worden. Wegen der Erstattung der Kosten für den Weiterbildungskurs „Kassen- und Verkaufstraining“ habe L. G. ebenfalls Klage eingereicht. Diese Klage sei zum Zeitpunkt der Beschwerde seit mehr als drei Jahren anhängig gewesen. Der Grund dafür sei, dass Teile der Fallakte ihres Sohnes verloren gegangen seien und erst anhand von Gedächtnisprotokollen wiederhergestellt werden müssten.
Die Beschwerde sei auch begründet. Die Vorschriften der Artikel 3, 4, 8 und 27 BRK seien verletzt, da T. G. durch die Agentur für Arbeit diskriminiert worden sei, als er sich um Stellen beworben habe. Seine Eingliederung in den Arbeitsmarkt sei ihm durch die deutsche Gesetzgebung erschwert worden.
Seit T. G. sich 2002 bei der Arbeitsagentur als arbeitssuchend gemeldet habe, habe diese versucht, systematisch seine Inklusion zu verhindern. T. G. habe keinen Zugang zur allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratung, Stellenvermittlung oder Berufsausbildung und Weiterbildung gehabt. Diese habe er sich in Eigenregie organisieren und die damit verbundenen Kosten habe seine Familie tragen müssen. Dies habe zum Beispiel Sitzungen bei Sprach- und Physiotherapeuten als auch seine erfolgreiche Teilnahme an Weiterbildungskursen eingeschlossen. 2009 habe er den Kurs „Kassen- und Verkaufstraining“ und 2010/2011 einen Buchführungs- und Rechnungslegungskurs besucht. Die Arbeitsagentur habe die daraus resultierenden Kosten jedoch nicht erstattet, weil die Teilnahme an solchen Kursen nicht kosteneffektiv gewesen sei. T. G. habe auch keine Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche durch die Arbeitsagentur erhalten. Die Arbeitsagentur habe sich nicht bemüht, ihm adäquate Jobangebote zuzuschicken. Die Angebote seien entweder zu allgemein, veraltet oder nicht auf die Bedürfnisse von T. G. zugeschnitten gewesen.
Eine Berufsausbildung habe T. G. wegen der Versäumnisse der Arbeitsagentur nicht beenden können. Die Arbeitsagentur habe ihn einem Ausbildungsträger zugewiesen, der nicht für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen zugelassen gewesen sei. Dies bedeute, dass selbst wenn T. G. die Lehre beendet hätte, man ihm diese nicht anerkannt hätte. Als T. G. dann den Ausbildungsträger gewechselt und einen Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme gestellt habe, sei ihm diese durch die Arbeitsagentur nicht genehmigt worden.
Jede von der Arbeitsagentur ergriffene Maßnahme sei wegen § 219 SGB III zum Scheitern verurteilt gewesen, so L. G. weiter. T. G. habe jedes Mal, nachdem ein potenzieller Arbeitgeber Rücksprache mit der Arbeitsagentur gehalten habe, eine Absage auf seine Bewerbungen erhalten. Dies habe daran gelegen, dass die Arbeitsagentur es abgelehnt habe, für T. G. einen Eingliederungszuschuss zu zahlen. Die Vorschrift des § 219 SGB III solle die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt fördern. Der Eingliederungszuschuss sei dabei die einzige zur Verfügung stehende Fördermaßnahme, mit deren Hilfe T. G. in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden könne. Ihre Bewilligung erfolge aber nur dann, wenn Betroffene ihre volle Arbeitsfähigkeit innerhalb von drei Jahren wiederherstellen könnten. Dies bedeute, dass die Eingliederung von Personen wie T. G., deren Behinderung nicht nur vorübergehend ist, nicht durch einen Eingliederungszuschuss unterstützt werden könne. Jedoch gebe es für sie keine andere Leistung, die ihre Inklusion in den Arbeitsmarkt auf ähnliche Weise unterstütze. Im Ergebnis werde damit Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben praktisch unmöglich gemacht (Rz. 2.1-2.11).
Die deutsche Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.
Die Beschwerde sei unzulässig, da T. G. nicht die zur Verfügung stehenden innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft habe. Die Zahlung der Geldstrafe sei ihm zuzumuten gewesen. Dabei habe es sich auch um keine Strafe, sondern um Mutwilligkeitskosten gehandelt. Diese hätten sich auf 375 Euro belaufen. Daneben sei die Rechtsverfolgung im Wege der Feststellungsklage nur abgelehnt worden, weil es an einem rechtlichen Feststellungsinteresse gefehlt habe. Nur ein Arbeitgeber und nicht T. G. als potenzieller Arbeitnehmer sei laut Gesetz berechtigt gewesen, einen Eingliederungszuschuss zu beantragen. Auch habe die Arbeitsagentur nie die Bewilligung eines Eingliederungszuschusses in Abrede gestellt. Im Übrigen hätte in dieser Sache auch ein Bundesgericht oder das Bundesverfassungsgericht angerufen werden können. Die Beschwerde sei auch deshalb unzulässig, da das Verfahren hinsichtlich der Kosten für den Weiterbildungskurs noch anhängig sei. Gleiches gelte für die Klage von T. G. wegen Versagung einer Leistung in Form eines Persönlichen Budgets. T. G. habe zudem versäumt, die von ihm geltend gemachte Diskriminierung vor innerstaatlichen Gerichten einzubringen. Dies gelte auch für den Vorwurf, die Arbeitsagentur habe falsche Angaben in seinen Akten gemacht. T. G. hätte diesbezüglich zunächst einen Antrag auf Einsichtnahme stellen müssen. Schließlich habe er es versäumt, Rechtsbehelfe bei anderen relevanten Stellen einzulegen.
Die Beschwerde sei unbegründet, da T. G. alle für ihn relevanten Instrumente aus dem SGB hätte nutzen können.
Die Bundesregierung trug vor, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland einen Anspruch auf Auskunft und Rat etwa in Fragen der Berufswahl, der Möglichkeiten beruflicher Bildung sowie der Leistungen der Arbeitsförderung hätten. Die Eigenmächtigkeit von T. G. habe aber eine konzertierte und ganzheitliche Betreuung durch die Arbeitsagentur vereitelt. 2009 habe T. G. an einer für sechs Monate geplanten Maßnahme „Ganzheitlicher Vermittlungsansatz“ teilgenommen. Ihm sei dabei ein Betriebspraktikum vermittelt worden. Dieses habe er aber vorzeitig wegen seines Umzugs von Brühl nach Bonn abgebrochen. Der Umzug hätte aber nicht zwingend zum Abbruch der Maßnahme führen müssen, was ihm auch mitgeteilt worden sei. Als T. G. der Arbeitsagentur zum dritten Mal in Folge einen Beratungstermin abgesagt habe, habe man angenommen, dass er nicht länger für den Arbeitsmarkt verfügbar sei. Zu diesem Zeitpunkt habe er eine nicht mit der Arbeitsagentur abgestimmte und von dieser auch nicht genehmigte Weiterbildung besucht. Aus Gründen der effektiven Arbeitsvermittlung müssten arbeitslose Personen aber verfügbar sein. Sie dürften daher nicht ohne Zustimmung das geografische Gebiet verlassen, aus dem sie schnell auf Angebote antworten könnten. T. G. habe zudem einen Vermittlungsgutschein für die Betreuung durch den Integrationsfachdienst (IFD) erhalten. Wegen des Auslaufens seines Arbeitslosengeldes sei der Gutschein ungültig geworden. Deshalb sei ihm geraten worden, bei einer anderen Stelle einen Vermittlungsgutschein für die Betreuung durch den IFD zu beantragen. Gleichwohl habe T. G. einen entsprechenden Antrag nicht gestellt. Die Kosten des Weiterbildungskurses wären ihm erstattet worden, wenn er sich vor Beginn des Kurses einen Bildungsgutschein durch die Arbeitsagentur hätte ausstellen lassen. T. G. habe den Kurs aber ohne Absprache mit der Arbeitsagentur besucht und erst im Nachhinein eine Kostenerstattung beantragt. 2011 habe man T. G. vier Stellenangebote geschickt, aber er habe sich auf zwei dieser Angebote nicht beworben.
Bezugnehmend auf den Eingliederungszuschuss führte die Regierung aus, dass Menschen mit Behinderungen aufgrund in ihrer Person liegender Umstände den Anforderungen des jeweiligen Arbeitsplatzes nicht entsprechen könnten. Ziel des Eingliederungszuschusses sei es somit, ihre Einstellung zu fördern. 2009 habe die Arbeitsagentur auch für T. G. die Notwendigkeit eines Eingliederungszuschusses festgestellt. Eine Aussage zu Höhe und Dauer der Förderung sei zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht möglich gewesen, da diese den individuellen Eingliederungserfordernissen bezogen auf einen konkreten Arbeitsplatz geschuldet seien. Die Arbeitsagentur habe keine T. G. betreffende Förderanfrage erhalten.
Auch habe es keinen Anlass gegeben, eine Diskriminierung von T. G. zu untersuchen. Er habe laut Gesetz als Arbeitnehmer keinen Anspruch auf die Arbeitgeberleistung „Eingliederungszuschuss“ gehabt. Zwar hätten die Gerichte grundsätzlich die Vorschrift des § 219 SGB III auf ihre Verfassungsmäßigkeit im Wege eines konkreten Normenkontrollverfahrens überprüfen können. Ein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG), wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden solle, sei aber nicht erkennbar gewesen. § 219 SGB III sei eine Regelung, die für besonders betroffene schwerbehinderte Menschen höhere Förderleistungen vorsehe. Die Nachteile, die „besonders betroffene“ schwerbehinderte Menschen am Arbeitsmarkt hätten, sollten gerade mit dieser Förderleistung abgemildert werden. Deshalb könne hier von einer Benachteiligung im Sinne des Artikels 3 Absatz 3 Satz 2 GG keine Rede sein. Generell sei die staatliche Arbeitsförderung nach dem SGB III sehr ausdifferenziert und vielgestaltig. Dabei gelte der Grundsatz, dass arbeitslose Menschen mit Behinderungen nicht anders zu behandeln seien als arbeitslose Menschen ohne Behinderung. Erst wenn die Behinderung Anlass für einen besonderen Bedarf im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung ergebe, seien spezifische Leistungen vorgesehen. Insbesondere könnten, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erforderten, Leistungen zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben seien in allgemeine und besondere Leistungen gegliedert. Allgemeine Leistungen seien vorrangig in Anspruch zu nehmen. Diese seien nicht von vornherein auf die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zugeschnitten und stünden auch Menschen ohne Behinderung zur Verfügung. Besondere Leistungen seien insbesondere zur Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu erbringen. Die in diesem Rahmen möglichen spezialisierten Schulungs- und Ausbildungsprogramme orientierten sich an der individuellen Bedarfssituation des*der Einzelnen. Ein solcher Bedarf werde in einem individuellen Beratungsgespräch erörtert und festgestellt. Besondere Leistungen könnten auch vom zuständigen Leistungsträger oder von mehreren Leistungsträgern gemeinsam durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden. Das Persönliche Budget stelle keine eigenständige Leistung, sondern eine alternative Form der Leistungserbringung dar. Es solle die Berechtigten in die Lage versetzen, selbst zu entscheiden, welche Leistungen sie zu einem bestimmten Zeitpunkt in Anspruch nehmen wollen, wer die benötigte Leistung oder Hilfe erbringen und wie diese ausgestaltet sein solle. Persönliche Budgets seien in der Regel als monatliche Geldleistungen ausgeführt. Auch T. G. habe 2012 einen Antrag auf ein Persönliches Budget gestellt. Der Einladung zu einem Beratungsgespräch sei er aber nicht nachgekommen, weil T. G., wie er der Arbeitsagentur mitgeteilt habe, das Ergebnis dieser Beschwerde habe abwarten wollen (Rz. 3.1-3.31).
L. G. erwiderte, dass die Einlassungen zu T. G. falsch seien und das separate Sondersystem in der Arbeitsförderung, wie es das SGB vorsehe, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen erheblich erschwere.
Hinsichtlich der Zulässigkeit der Beschwerde führte L. G. aus, dass T. G. Diskriminierungsvorwürfe vor verschiedenen Gerichten geltend gemacht habe, etwa bei der Klage über Höhe und Dauer des Eingliederungszuschusses als auch bei der Klage auf Erstattung der Weiterbildungskosten.
Hinsichtlich der Begründetheit trug L. G. vor, dass viele der Leistungen, die von der Regierung in ihrer Einlassung angeführt worden seien, gar nicht auf T. G. anwendbar seien. Die Arbeitsagentur müsse nur dann Arbeitgebern finanzielle Unterstützung leisten, wenn festgestellt worden sei, dass die volle Arbeitsfähigkeit der betreffenden Person innerhalb von drei Jahren wiederhergestellt werden könne. Ob dies der Fall sei, liege allein im Ermessen der Arbeitsagentur, die dabei einen zu großen Ermessensspielraum habe. T. G. habe auch die Arbeitsagentur über seine Ausbildung informiert, diese habe aber auf seine Mitteilung nicht reagiert. Zudem habe T. G. einen Antrag auf ein Persönliches Budget gestellt. Die Behörde habe ihm dann jedoch das falsche Antragsformular übersandt. Außerdem führte L. G. an, die Agentur für Arbeit mache zu Unrecht geltend, dass T. G. ein Persönliches Budget in Verbindung mit einem Rehabilitationsprogramm beantragen könne. Ein solches Programm sei schon 2009 abgelehnt worden mit dem Argument, seine Rehabilitation sei bereits 2007 abgeschlossen gewesen. Bezugnehmend auf das Berufspraktikum führte L. G. an, dass man T. G. im selben Zeitraum eine Teilzeitarbeit angeboten habe. Der Arbeitgeber habe sein Angebot jedoch wieder zurückgezogen, nachdem die Arbeitsagentur ihm mitgeteilt habe, dass sie keinen Eingliederungszuschuss für die verminderte Arbeitsfähigkeit des T. G. zahle. Des Weiteren sei es die Arbeitsagentur gewesen, die das Berufspraktikum gekündigt habe, da die Firma angeblich für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen nicht qualifiziert gewesen sei. Schließlich bestätige ein psychologisches Gutachten, in Auftrag gegeben durch die Arbeitsagentur, dass T. G. ein kooperativer, aufgeschlossener und zuverlässiger Mensch sei und sein Berufsvorbereitungsjahr mit guten Ergebnissen abgeschlossen habe (Rz. 4.1-4.19).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)
Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Verpflichtungen aus Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben d und e (wirksamer Zugang zu allgemeinen fachlichen und beruflichen Beratungsprogrammen, Stellenvermittlung, Berufsausbildung und Weiterbildung, Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor) in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben a, b, c und e (Achtung der Menschenwürde, Nichtdiskriminierung, wirksame Einbeziehung in die Gesellschaft und Chancengleichheit) und Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a und b (Verpflichtung geeignete Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstige Maßnahmen zur Umsetzung der in der BRK anerkannten Rechte zu treffen sowie mit der BRK unvereinbare Gesetze zu beseitigen) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest.
Der Ausschuss hielt zudem eine Prüfung des Artikels 5 Absatz 1 BRK (Anspruch auf gleichen Schutz und Vorteile durch das Gesetz) für erforderlich (Rz. 1.1).
Der Ausschuss empfahl der deutschen Regierung, die Rechtsvorschriften zum Eingliederungszuschuss unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ausschusses erneut zu prüfen, T. G. angemessen zu entschädigen und Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden (Rz. 7).
3.1 Zulässigkeit (Rz. 5.1-5.3)
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig, da die Beschwerdeführer*in hinsichtlich der Artikel 3, 4, 5 und 27 BRK ihre Beschwerdebefugnis hinreichend begründet habe.
Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls zur UN-BRK zulässig. Die Frage der Diskriminierung von T. G. sei durch nationale Gerichte thematisiert worden, als es um eine verbindliche Entscheidung über die Höhe und Dauer des Eingliederungszuschusses gegangen sei. Hinsichtlich der Einlegung von Rechtsbehelfen bei Einrichtungen, die nicht Teil der Justiz seien, habe die deutsche Regierung nicht aufgezeigt, wie diese den behaupteten Menschenrechtsverletzungen des T. G. hätten abhelfen können. Für die Zulässigkeit der Beschwerde sei nicht relevant, dass zwei Verfahren vor innerstaatlichen Gerichten noch anhängig seien. Diese befassten sich mit der Kostenerstattung für einen Lehrgang des T. G. und seinen Anspruch auf ein Persönliches Budget. Dagegen betreffe die Beschwerde vor dem Ausschuss die Frage, ob Deutschland seine Verpflichtungen betreffend die Inklusion eines Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt gemäß den Artikeln 3, 4, 5 und 27 UN-BRK erfüllt habe.
3.2 Begründetheit (Rz. 6.1-6.3)
Der Ausschuss stellte eine Verletzung der Verpflichtungen des Vertragsstaates aus Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben d und e in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben a, b, c und e, Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a und b und Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben d, e, h BRK fest.
Der Ausschuss legte zunächst dar, dass die Absicht hinter den Eingliederungszuschüssen zu sein scheint, private Arbeitgeber zu ermutigen, Menschen mit Behinderungen einzustellen. In der Praxis müsse der Arbeitgeber jedoch ein zusätzliches Antragsverfahren durchlaufen, dessen Dauer und Ausgang ungewiss seien. Auch habe die behinderte Person keine Möglichkeit, an diesem Verfahren mitzuwirken. Dieses Konzept scheine auf das medizinische Behinderungsmodell abzustellen, weil es dazu neige, Behinderung als etwas zu betrachten, das vorübergehend sei und von daher im Laufe der Zeit „überwunden oder geheilt“ werden könne. Dieses Konzept stehe nicht im Einklang mit den in Artikel 3 der Konvention in Verbindung mit den Absätzen i und j der Präambel der BRK niedergelegten allgemeinen Grundsätzen.
Zudem seien die Vorschriften der Artikel 27 Absatz 1 Buchstabe h in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben a, b, c und e, Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a und Artikel 5 Absatz 1 BRK verletzt. Das Modell zur Gewährung von Eingliederungszuschüssen fördere nicht wirksam die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Die Schwierigkeiten, mit denen potenzielle Arbeitgeber konfrontiert würden, wenn sie den Eingliederungszuschuss beantragen, beeinträchtigten die Wirksamkeit des Systems der Eingliederungszuschüsse. Vorliegend habe dieses System Arbeitgeber eher abgeschreckt als ermutigt, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Verwaltungstechnische Komplexitäten würden die behinderten Bewerber*innen in eine nachteilige Lage bringen und so zu indirekter Diskriminierung führen.
Die von den Behörden ergriffenen Maßnahmen zur Unterstützung der Integration von T. G. in den Arbeitsmarkt entsprächen auch nicht den Verpflichtungen aus Artikel 27 Absatz 1 Buchstaben d und e in Verbindung mit Artikel 3 Buchstaben a, b, c und e, Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben a und b und Artikel 5 Absatz 1 BRK. Die Maßnahmen, welche die Behörden zur Förderung der Integration von T. G. in den Arbeitsmarkt durchgeführt hätten, hätten sich in Wirklichkeit darauf beschränkt, Leistungen bei Arbeitslosigkeit für einen nicht vorab festgelegten Zeitraum zu gewähren, Beratungsgespräche zu vereinbaren, zu überprüfen, ob er in dem ihm zugewiesenen geografischen Gebiet bleibe und ob er regelmäßig zu den Terminen erscheine. Die Behörden hätten T. G. auch Stellenangebote übermittelt, von denen manche veraltet gewesen seien, und hätten ihn in eine Maßnahme „Ganzheitlicher Vermittlungsansatz“ aufgenommen, die ihm von der Brühler Arbeitsagentur zugewiesen und nach seinem Umzug von der Bonner Arbeitsagentur wieder beendet worden sei. Zuletzt sei die Bandbreite der Maßnahmen, die im Falle von T. G. angewendet worden seien, begrenzt gewesen, verglichen mit der umfangreichen Liste der von der Bundesregierung beschriebenen zur Verfügung stehenden Maßnahmen.
3.3 Empfehlungen (Rz. 7)
Der Fachausschuss empfahl in Bezug auf T. G., dass Deutschland seine Verpflichtungen aus der BRK unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Ausschusses erneut überprüfen solle, und die Zahlung einer adäquaten Entschädigung, einschließlich der Rechtskosten, an T. G.
Allgemein sei Deutschland verpflichtet, ähnliche Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb müsse der Staat sicherstellen, dass seine Gesetze nicht das Ziel oder den Effekt haben, diese Rechtsauffassung des Ausschusses zu umgehen.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
In seiner Entscheidung machte der UN-CRPD deutlich, dass Staaten effektive Maßnahmen ergreifen müssen, um Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt bei ihrer Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen.
Die Argumentation des CRPD kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten mit deutschen Arbeitsagenturen an, die Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen nicht im erforderlichen Umfang fördern wollen.
5. Follow up (Stand: August 2017)
In ihrem Staatenbericht von Oktober 2014 versprach die deutsche Regierung, die Inklusion von T. G. in den Arbeitsmarkt zu fördern. Sie lehnte es allerdings ab, T. G. eine Entschädigung zu zahlen, da es dafür keine Rechtsgrundlage in der BRK beziehungsweise im Zusatzprotokoll gebe. In der 14. Sitzung des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD/C/14/3) bekräftigte der Ausschuss, dass der Dialog im Hinblick auf die Umsetzung der allgemeinen Empfehlungen weiterzuverfolgen sei.
6. Entscheidung im Volltext
CRPD_04.04.2014_Groeniger_v._Germany_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)