Beschwerdenummer 43134/05
EGMR, Urteil vom 1. Dezember 2009 , Beschwerdenummer 43134/05, G. N. und andere gegen Italien
1. Sachverhalt
Beschwerdeführende sind sieben italienische Staatsangehörige, darunter Herr G. N. Sechs von ihnen sind Angehörige von drei Personen, die sich während einer auf Bluttransfusionen basierenden Therapie in einem öffentlichen Krankenhaus mit HIV oder Hepatitis C infiziert hatten und an den Folgen dieser Infektionen verstorben waren. Die siebte Beschwerdeführerin ist die einzige Person aus dieser Gruppe von insgesamt vier infizierten Patienten, die überlebt hat. Die betroffenen Personen litten allesamt an Thalassämie, einer auf einem Gendefekt beruhenden Blutkrankheit, die mit regelmäßigen Bluttransfusionen behandelt wurde.
Im Jahr 1993 erhob eine Gruppe von ca. 100 Personen, darunter auch die Beschwerdeführenden, Schadenersatzklage gegen das italienische Gesundheitsministerium. Im Ergebnis - die letztinstanzliche Entscheidung fiel 2005 - wurde nur denjenigen Personen Schadenersatz zugesprochen, die sich erst nach einem bestimmten Zeitpunkt mit den jeweiligen Krankheiten infiziert hatten, und zwar mit Hepatitis B nach 1978, mit HIV nach 1985 und mit Hepatitis C nach 1988. Die Beschwerdeführenden gehörten nicht zu diesem Personenkreis, da sie bzw. ihre verstorbenen Angehörigen sich jeweils vor dem vom Gericht bestimmten Stichtag infiziert hatten. Sie profitierten auch nicht von einer zwischenzeitlich geschaffenen Regelung, auf deren Grundlage sich die übrigen klageführenden Parteien außergerichtlich mit dem Gesundheitsministerium auf einen Vergleich einigen konnten. Diese Möglichkeit war nur infizierten Personen eröffnet worden, die an der Bluterkrankheit (Hämophilie) gelitten hatten, nicht aber Personen, die - wie die Beschwerdeführenden bzw. deren verstorbene Angehörige – bei der Behandlung einer anderen Krankheit infiziert wurden.
2. Verlauf des Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die Beschwerdeführenden haben sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR auf das Recht auf Leben (Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) berufen. Sie argumentierten, dass der Staat nicht die notwendigen Kontrollen durchgeführt habe, um der Verabreichung von infiziertem Blut vorzubeugen. Darüber hinaus habe er Entschädigung für den erlittenen Schaden verweigert. Indem sie von der Entschädigung ausgeschlossen wurden, seien sie Opfer einer Diskriminierung geworden.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof erinnerte zunächst daran, dass Art. 2 EMRK nicht nur vor absichtlichen Tötungen schützt, sondern den Staaten außerdem positive Schutzverpflichtungen auferlegt, das heißt sie dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen um das Leben zu schützen. Dies beinhaltet auch, dass der Staat durch entsprechende Regelungen dafür sorgen muss, dass in Krankenhäusern angemessene Maßnahmen zum Schutz der Patientinnen und Patienten getroffen werden. Daneben, so der EGMR, beinhaltet Art. 2 EMRK auch Verfahrenspflichten, wie etwa die Verpflichtung, Todesursachen untersuchen zu lassen, um die Verantwortlichkeit des behandelnden Arztes bzw. der behandelnden Ärztin feststellen zu können.
3.1 Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) - positive Schutzverpflichtungen
Der EGMR ging zunächst den Argumenten der Beschwerdeführenden nach, dass der Staat seine Pflichten, das Leben der betroffenen Personen zu schützen, verletzt habe und dass er unterlassen habe, rechtzeitig Informationen über die Risiken einer Bluttransfusion zu Verfügung zu stellen. Der EGMR kam jedoch zu dem Ergebnis, dass der Staat seine diesbezüglichen Pflichten nicht verletzt habe. Entscheidend war nach Ansicht des Gerichtshofs, dass zum Zeitpunkt der Infizierung die Behörden noch nicht gewusst hatten, dass im Zuge der Transfusionsbehandlung eine echte und unmittelbare Gefahr für das Leben des betreffenden Individuums bestand. Erst mit dem medizinischen Fortschritt seien bestimmte Tests und Methoden entwickelt worden, die es ermöglichten, die Risiken der HIV- bzw. Hepatitis-Übertragung zu ermitteln. Die Daten, ab wann es tatsächlich möglich war, die Risiken zu kennen, seien nicht willkürlich oder unangemessen in dem innerstaatlichen Verfahren festgelegt worden. Daher habe der Staat seine Verpflichtung, das Leben der Betroffenen zu schützen, nicht verletzt.
3.2 Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) – Verfahrenspflichten
Der EGMR stellte hingegen die Verletzung von Verfahrenspflichten fest. Der Gerichtshof leitete die Verletzung aus der Tatsache ab, dass das innerstaatliche Verfahren über zehn Jahre dauerte. Damit habe es der Staat versäumt, angemessen und zügig auf die Klage wegen Verletzung von Art. 2 EMRK zu reagieren.
3.3 Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot)
In dem Umstand, dass ein außergerichtlicher Vergleich nur den Personen angeboten wurde, die an einer bestimmten Krankheit litten, und dass damit andere Gruppen kranker Personen - wie die Beschwerdeführenden bzw. ihre verstorbenen Angehörigen -, die sich ebenfalls während Bluttransfusionen infiziert hatten, ausgeschlossen wurden, sah der Gerichtshof eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot.
4. Bedeutung der Entscheidung
Das Diskriminierungsverbot in Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention bezieht sich auf eine unterschiedliche Behandlung wegen eines der dort ausdrücklich aufgezählten Merkmale oder wegen eines anderen personenbezogenen Kriteriums ("other status"). Eine Behinderung oder genetisch bedingte chronische Krankheiten sind als verbotener Diskriminierungsgrund nicht explizit genannt.
Der EGMR hat in seiner Entscheidung jedoch ausdrücklich festgestellt, dass auch Diskriminierungen wegen genetischer Charakteristika oder darauf beruhender Krankheiten nach Art. 14 EMRK verboten sind.
Zur Begründung hat der Gerichtshof unter anderem (unter Verweis auf sein Urteil vom 30. April 2009, Beschwerdenummer 13444/04, "Glor gegen Schweiz") daran erinnert, dass Diskriminierungen wegen einer Behinderung ebenfalls in den Anwendungsbereich des Art. 14 EMRK fallen und damit verboten sind.
Außerdem verdeutlicht die Entscheidung, dass es auch einer Rechtfertigung bedarf, verschiedene Gruppen von Menschen mit chronischen Krankheiten bzw. mit Behinderungen untereinander ungleich zu behandeln.