Beschwerdenummer 41/2007
ECSR, Entscheidung vom 03.06.2008, Beschwerdenummer 41/2007, Mental Disability Advocacy Center (MDAC) gegen Bulgarien
1. Sachverhalt
Der Fall betrifft den Zugang zu Schulen in Bulgarien für Kinder mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die in sogenannten „Heimen für geistig behinderte Kinder“ leben. Laut offiziellen bulgarischen Statistiken von 2005 besuchten lediglich 2,8 Prozent dieser Kinder Regelschulen und 3,4 Prozent Sonderschulen. Die übrigen Kinder - über 90 Prozent der in diesen Heimen lebenden Kinder - erhielten überhaupt keine Ausbildung. Bis 2002 hatten diese Kinder als bildungsunfähig gegolten und keinen Anspruch auf Ausbildung gehabt. In 2002 trat in Bulgarien ein neues Gesetz in Kraft, das verlangte, nunmehr auch für diese Kinder eine Ausbildung bereitzustellen. Jedoch entwickelte sich die Situation in den einzelnen Heimen unterschiedlich. Während in einigen wenigen Einrichtungen, zumeist aufgrund des persönlichen Engagements des jeweiligen Direktors oder der Direktorin, alle Kinder Schulen besuchten, wurde in anderen Einrichtungen weiterhin keinem einzigen Kind diese Möglichkeit angeboten.
Außerdem wurden die Regelschulen nicht für die Fähigkeiten und Bedürfnisse dieser Kinder ausgestattet. Die Lehrerinnen und Lehrer waren nicht entsprechend geschult und die Schulmaterialen waren für Kinder mit geistigen Behinderungen nicht geeignet.
2. Verfahren vor dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (ECSR)
Das Mental Disability Advocacy Center (MDAC), eine Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte von Personen mit geistigen Behinderungen einsetzt, reichte beim Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (ECSR) eine Beschwerde ein. MDAC machte die Verletzung von zwei Bestimmungen der revidierten Europäischen Sozialcharta geltend. Zum einen habe Bulgarien seine Verpflichtung aus Art. 17 Abs. 2 (Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz) verletzt, für alle Kinder einschließlich Kinder mit Behinderungen eine unentgeltliche Schulbildung in der Primär- und Sekundarstufe zu gewährleisten. Zum anderen stelle die geschilderte Situation nach Art. E der Charta eine verbotene Diskriminierung dar.
Die Beschwerde bezog sich lediglich auf diejenigen Kinder mit geistiger Behinderung (ausgenommen leichte Behinderungen), die in den Heimen für geistig behinderte Kinder lebten. MDAC brachte vor, dass die Regierung unzureichende Schritte unternommen habe, um das Gesetz von 2002 umzusetzen. Beispielsweise habe sich die Regierung darauf berufen, dass viele Direktorinnen und Direktoren der Heime für behinderte Kinder nichts über die Rechtsänderung gewusst hätten.
Die Regierung entgegnete, dass sie durch das Gesetz von 2002 ausreichende Bedingungen geschaffen habe, um die Lage zu ändern. Es sei ein Aktionsplan erstellt worden, der bis 2007 realisiert werde solle. Schrittweise würden verschiedene Maßnahmen getroffen, um die Integration der behinderten Kinder in die Regelschule zu ermöglichen.
3. Entscheidung des ECSR
Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte gab dem MDAC in beiden Beschwerdepunkten Recht. In seiner Prüfung von Art. 17 Abs. 2 der revidierten Europäischen Sozialcharta stellte der Ausschuss zunächst fest, dass das bulgarische staatliche Schulwesen die an jegliche staatliche Bildung anzulegenden Kriterien der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Eignung und Anpassungsfähigkeit erfüllen müsse. In dem vorliegenden Fall war das bulgarische Schulwesen - nach Einschätzung des Ausschusses - für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen nicht zugänglich und nicht anpassungsfähig, da die Regelschulen bisher nicht geeignet seien, der Situation von Kindern mit geistigen Behinderungen gerecht zu werden und ihnen eine angemessene Bildung zu gewährleisten.
Der Ausschuss begrüßte zwar die Bemühungen der Regierung, das Recht auf Ausbildung für geistig behinderte Kinder durchzusetzen. Hierbei betonte er allerdings, dass es zwar grundsätzlich zulässig sei, bei der Umsetzung von Art. 17 Abs. 2 der revidierten Europäischen Sozialcharta Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen zu machen, dass aber die Integration von Kindern mit Behinderungen in Regelschulen – in denen gegebenenfalls Anpassungen an ihre speziellen Bedürfnisse vorgenommen werden – die Norm und der Unterricht in Spezialschulen die Ausnahme sein müsse.
Unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung (ECSR, Entscheidung vom 4. November 2003, Beschwerdenummer 13/2002, „Autism-Europe gegen Frankreich“) hielt der Ausschuss diesbezüglich fest, dass, falls die Erfüllung eines der betreffenden Rechte außergewöhnlich kompliziert und mit hohen Kosten verbunden sei, der Staat Maßnahmen ergreifen müsse, die es ihm erlaubten, die Ziele der Sozialcharta (a) innerhalb eines angemessenen Zeitraums, (b) mit messbarem Fortschritt und (c) unter maximaler Verwendung der bereitstehenden Ressourcen zu erreichen. In dem vorliegenden Fall habe sich der vom Staat berichtete Fortschritt hauptsächlich auf die Verabschiedung neuer Rechtsakte oder politischer Programme bezogen, die in der Praxis nicht oder nur zu einem geringen Teil umgesetzt worden seien. Der Ausschuss führte aus, dass es außerdem möglich gewesen wäre, weitere Schritte ohne übermäßige Zusatzkosten zu unternehmen, um die Integration der Kinder in das Schulwesen zu beschleunigen, beispielsweise durch Verbreitung von Informationen über die neue Rechtslage und durch entsprechende Schulungen für die Verantwortlichen in Kinderheimen und Schulen.
Der Ausschuss stellte auch die Verletzung des Diskriminierungsverbots fest. Entscheidend war für den Ausschuss hier, dass der Staat keine ausreichenden Schritte unternommen habe, um die bestehende Unterschiede auszugleichen. Laut Statistiken hätten lediglich 6,2 Prozent der geistig behinderten und in Heimen lebenden Kinder eine Schule besucht. Der gravierende Unterschied zu den anderen Kindern, bei denen über 90 Prozent die Schule besuchten, zeige, dass die Gruppe, auf die sich die Beschwerde bezog, diskriminiert wurde.
4. Bedeutung der Entscheidung
Auch wenn der Fall vor Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) datiert, sind wesentliche Elemente der Entscheidung des ECSR zwar nicht formal, aber von ihrer Begründung und Argumentation her auch auf Fallgestaltungen übertragbar, die das Recht auf Bildung gemäß Art. 24 UN-BRK oder das Diskriminierungsverbot nach Art. 5 UN-BRK zum Gegenstand haben.
Dies betrifft etwa die vier Kriterien Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Eignung und Anpassungsfähigkeit, die auch an ein inklusives Bildungssystem nach Art. 24 UN-BRK zu stellen sind, sowie das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Regel- und Sonderbeschulung.
Im Hinblick darauf, dass das Bildungssystem wegen seiner Komplexität nicht komplett auf einmal, sondern nur schrittweise konventionskonform gestaltet werden kann, gelten auch im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 UN-BRK die vom ECSR genannten Anforderungen, namentlich dass der Staat das notwendige Bündel an Maßnahmen den Umfang, die Reihenfolge, Priorisierung usw. betreffend so gestalten muss, dass die Ziele der UN-BRK innerhalb eines angemessenen Zeitraums, mit messbarem Fortschritt und unter maximaler Verwendung der bereitstehenden Ressourcen erreicht werden.
Entscheidung im Volltext: