Beschwerdenummer 13/2002
ECSR, Entscheidung vom 04.11.2003, Beschwerdenummer 13/2002, Autism-Europe gegen Frankreich
1. Sachverhalt
Gegenstand der Beschwerde ist der Zugang zu Bildungseinrichtungen für Personen mit Autismus in Frankreich.
2. Verfahren vor dem Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (ECSR)
Die Nichtregierungsorganisation Autism-Europe, die sich für die Rechte von Personen mit Autismus einsetzt, reichte vor dem ECSR eine Beschwerde ein. Sie machte die Verletzung von drei Bestimmungen der revidierten Sozialcharta geltend. Autism-Europe rügte, Frankreich habe seine Verpflichtung aus Art. 15 Abs. 1 der revidierten Europäischen Sozialcharta (ESC), behinderten Menschen Beratung sowie schulische und berufliche Bildung bereitzustellen, ebenso verletzt wie seine Verpflichtung aus Art. 17 Abs. 2 ESC, Kindern und Jugendlichen eine unentgeltliche Schulbildung in der Primar- und Sekundarstufe zu gewährleisten. Kinder und Erwachsene mit Autismus könnten in Frankreich ihr Recht auf Bildung nicht wirksam wahrnehmen. Dies stelle eine nach Art. E der Charta verbotene Diskriminierung dar.
Autism-Europe beanstandete nicht die einschlägigen nationalen Vorschriften, die den Zugang zu Bildung für Personen mit Behinderungen regeln, sondern deren unzureichende Umsetzung. Nur ca. 10 Prozent der Personen mit Autismus, die eine Sondererziehung benötigen, hätten tatsächlich einen Platz: ca. 75.000 Personen mit Autismus (davon ca. 19.000 Kindern) stünden 8.000 verfügbare Plätze in Sondereinrichtungen gegenüber. Jährlich würden lediglich ca. 300 neue Plätze geschaffen, was zu wenig sei. Darüber hinaus brachte Autism-Europe vor, dass die Integration der Kinder in das Regelschulsystem unzureichend sei. Die Organisation kritisierte auch, dass die Finanzierung der Sondererziehung über das Krankenkassensystem erfolge. Ein weiterer Kritikpunkt richtete sich gegen bürokratische Hindernisse und die unzureichende Schulung des Personals der Bildungseinrichtungen für Personen mit Autismus.
3. Entscheidung des ECSR
Zu Beginn seiner Prüfung, ob Frankreich seine Pflichten aus der revidierten Sozialcharta verletzt habe, wies der Ausschuss auf die allgemeinen Prinzipien hin. Die Gewährleistung des Rechts auf Bildung für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen spiele eine besonders wichtige Rolle in der Förderung ihrer Bürgerrechte. Artikel 15 der revidierten Europäischen Sozialcharta (ESC) finde für alle Personen mit Behinderungen ungeachtet der Art und des Ursprungs ihrer Behinderung und unabhängig von ihrem Alter Anwendung. Er gelte also sowohl für Kinder als auch für Erwachsene mit Autismus. Artikel 17 ESC beruhe auf der Notwendigkeit, den Kindern und Jugendlichen ein Umfeld zu gewährleisten, in dem die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten gefördert werden. Dies sei besonders für Kinder mit Behinderungen wichtig, da unwirksame oder nicht rechtzeitig ausgeführte Maßnahmen kaum wieder nachgeholt werden könnten.
Die Tatsache, dass das Diskriminierungsverbot in einer separaten Bestimmung (Art. E) niedergelegt wurde, zeige nach Aussage des Ausschusses wie wichtig dieses Prinzip für die Verwirklichung der verschiedenen in der Sozialcharta enthaltenen Rechte sei. Ziel und Zweck von Art. E sei es, dazu beizutragen, dass der Genuss aller betreffenden Rechte ohne Unterscheidung gewährleistet werde. Daher beschränke sich der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots auf die in der Sozialcharta festgelegten Rechte. Obwohl Behinderung nicht ausdrücklich als ein unzulässiger Grund für Diskriminierung in Art. E aufgeführt sei, werde das Merkmal Behinderung mit dem Begriff "sonstiger Status" abgedeckt.
Die Formulierung von Art. E ist fast wortgleich mit der Formulierung des Diskriminierungsverbots in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Daher verwies der Ausschuss auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Demnach schließe Diskriminierung auch ein Unterlassen einer differenzierenden Behandlung von Personen in unterschiedlichen Situationen ein. Das bedeute, dass Art. E nicht nur direkte Diskriminierung, sondern auch alle Formen von indirekter Diskriminierung verbiete. Solche indirekte Diskriminierung könne sich daraus ergeben, dass relevante Unterschiede nicht berücksichtigt würden oder dass es unterlassen werde, adäquate Maßnahmen zu treffen, um zu gewährleisten, dass alle Rechte tatsächlich zugänglich seien.
Der Ausschuss führte des Weiteren aus, dass für die Umsetzung der Sozialcharta nicht nur rechtliche Schritte, sondern auch praktische Maßnahmen notwendig seien. Wenn die Erfüllung eines der betreffenden Rechte außergewöhnlich kompliziert und mit hohen Kosten verbunden sei, müsse der Staat Maßnahmen ergreifen, die es ihm erlauben, die Ziele der Sozialcharta innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit messbarem Fortschritt und unter maximaler Ausschöpfung der bereitstehenden Ressourcen zu erreichen.
Der Ausschuss befand, dass Frankreich nicht genügenden Fortschritt in der Förderung des Rechts auf Bildung für Personen mit Autismus gemacht habe. Insbesondere sei die Definition von Autismus, die in den öffentlichen Dokumenten benutzt werde, viel enger als von der Weltgesundheitsorganisation ausgelegt. Darüber hinaus gebe es nicht genügend offizielle Statistiken, mit denen die Fortschritte über die Zeit gemessen werden könnten.
Im Ergebnis stellte der Ausschuss eine Verletzung von Art. 15 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 alleine und im Zusammenhang mit Art. E der revidierten Europäischen Sozialcharta fest.
Die Tatsache, dass die auf Bildung und Pflege behinderter Kindern spezialisierten Einrichtungen aus einem anderen Budget als die Regelschulen finanziert werden, bedeute hingegen für sich genommen noch keine Diskriminierung.
4. Bedeutung der Entscheidung
Die Entscheidung des ECSR erging etwa zwei Jahre vor Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Der Sachverhalt weist gleichwohl enge Bezüge zur UN-BRK auf: In Art. 24 UN-BRK wird das Recht auf inklusive Bildung geregelt. Art. 5 UN-BRK enthält das Prinzip der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung.
Es ist allerdings zu beachten, dass mit der inzwischen erfolgten Verabschiedung der UN-BRK auch eine wichtige Klarstellung dahingehend verbunden war, dass das Recht auf Bildung grundsätzlich nur in einem inklusiven Bildungssystem verwirklicht werden kann, und das jegliche Sonderstrukturen der Rechtfertigung bedürfen.
Nichtsdestoweniger sind die erwähnten Erwägungen des ECSR auch für die Umsetzung der Rechte der UN-BRK von Bedeutung. Allgemein gilt: Die angebotenen Bildungsplätze für Personen mit Behinderungen müssen qualitativ und quantitativ den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen. Das Beispiel dieses Falls zeigt, dass es menschenrechtlich nicht alleine auf einen angemessenen rechtlichen Rahmen, sondern auf die tatsächliche Umsetzung der relevanten Vorschriften ankommt.
Entscheidung im Volltext: