Beschwerde-Nrn. 65731/01 und 65900/01
EGMR, Urteil vom 12.04.2006, Beschwerde-Nrn. 65731/01 und 65900/01, Stec und andere gegen das Vereinigte Königreich
1. Sachverhalt (vereinfacht, Rz. 15-25; 31 ff.)
Frau Stec (St.), Herr Lunn (L.), Frau Spencer (Sp.) und Herr Kimber (K.) sind aufgrund von Berufskrankheiten beziehungsweise Arbeitsunfällen teilweise erwerbsunfähig. Sie bezogen deshalb zum Ausgleich eine wöchentliche, beitragsunabhängige und steuerfinanzierte Beihilfe wegen verminderten Einkommens.
Das Vereinigte Königreich beschloss Ende der 1980er-Jahre, die Einkommensbeihilfe nicht mehr zusätzlich zur Rente zu zahlen. Berechtigte erhielten nach Renteneintritt stattdessen eine niedrigere Rentenbeihilfe oder einen geringeren Fixbetrag. Das Gesetz enthielt eine Stichtagsregelung, die mit dem Datum der Berentung verbunden war. Das Renteneintrittsalter lag für Frauen bei 60, für Männer bei 65 Jahren. 1995 beschloss das Vereinigte Königreich, das Pensionsalter schrittweise bis 2020 auf 65 Jahre anzugleichen.
St., L., Sp. und K. wurde nach ihrer Berentung zunächst die Einkommensbeihilfe weiter gezahlt. Frau Sp. wurde 1993 rückwirkend die Einkommensbeihilfe per Bescheid auf einen Fixbetrag gekürzt. 1996 erhielten Frau St., Herr L. und Herr K. Bescheide, wonach ihnen nur noch Rentenbeihilfe gezahlt würde.
Die Betroffenen erhoben unabhängig voneinander Beschwerde vor der örtlichen Schiedsstelle der Sozialversicherung und beriefen sich auf Diskriminierung wegen des Geschlechts. Frau St. und Frau Sp. machten geltend, dass sie gegenüber Männern benachteiligt würden, weil sie die niedrigere Rentenbeihilfe beziehungsweise die gekürzte Einkommensbeihilfe fünf Jahre früher als diese erhielten. Die beiden Männer machten geltend, dass sie gegenüber Frauen benachteiligt würden, weil sie die niedrigere Rentenbeihilfe erhielten. Als Frauen wären sie vor dem Stichtag berentet worden und hätten – wie Frau Sp. – den Fixbetrag erhalten, der höher ist als die Rentenbeihilfe.
Die britische Schiedsstelle legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) daraufhin in einem Vorabentscheidungsverfahren Fragen zur Auslegung von Artikel 7 der Gleichbehandlungs-Richtlinie 79/7/EWG im Bereich der sozialen Sicherheit vor. Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie ermöglicht den Mitgliedstaaten, die Festsetzung des Rentenalters vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen. Der EuGH stellte mit Urteil vom 23.05.2000 (Rs. C-196/98) fest, dass die Diskriminierung notwendigerweise mit dem für Frauen und Männer unterschiedlichen Pensionsalter zusammenhänge. Deswegen sei die britische Neuregelung von der Ausnahmeregelung der Richtlinie erfasst und damit das Diskriminierungsverbot der Richtlinie nicht anwendbar.
Die britische Schiedsstelle folgte dem EuGH und wies die Beschwerden der Betroffenen ab beziehungsweise gab den Beschwerden der Gegenseite statt.
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die Beschwerdeführenden beriefen sich vor dem EGMR 2001 auf Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verbindung mit Artikel 1 (Schutz des Eigentums) des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK.
Es sei eine unzulässige geschlechtsbasierte Diskriminierung, den Stichtag an das für Frauen und Männer unterschiedliche Pensionsalter zu koppeln. Stattdessen hätte der Staat die gleichen Ziele auf anderem Wege erreichen können. Zum Beispiel hätte er die gleiche Altersgrenze für Männer und Frauen einführen oder die Rente mit der Einkommensbeihilfe verrechnen können. Dies geschehe bei anderen an das Alter gekoppelten Leistungen wie Benzingeld im Winter, Rezeptkosten oder Bustickets (Rz. 44).
Ferner bestehe kein Widerspruch zum EuGH-Urteil, da sich dieses nur mit dem engen Ausnahmetatbestand der Richtlinie befasse. Unter anderem habe sich der EuGH nicht mit Rechtfertigung der Ungleichbehandlung beschäftigen müssen. Der enge Anwendungsbereich der Richtlinie und damit die beschränkte Zuständigkeit des EuGH schlössen nicht aus, dass sich der EGMR mit den weiteren Konsequenzen befasse.
Die Regierung hätte erheblich gewichtigere Rechtfertigungsgründe für die Einführung einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung in das Rentensystem vortragen müssen. Die Einkommensbeihilfe habe vorher 40 Jahre lang ohne Geschlechterunterscheidung bestanden. Das britische Antidiskriminierungsgesetz und die Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 machten die Einführung neuer Diskriminierungen im Arbeitsrecht unmöglich. Zudem sei es ungerechtfertigt, ein fünf Jahre kürzeres Arbeitsleben für Frauen vorzusehen (Rz. 46).
Die britische Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, hält die Beschwerde für unbegründet. Die Einkommensbeihilfe sei zwingend mit der Erwerbszeit verknüpft, da sie ein niedrigeres Gehalt ausgleiche. Die Kopplung an das Rentenalter sei objektiv gerechtfertigt. Nur so werde sichergestellt, dass niemand gleichzeitig Rente und Einkommensbeihilfe bezieht. Diese Kopplung sei – wie vom EuGH entschieden – unter Artikel 7 der Richtlinie gerechtfertigt. Sollte der EGMR vom Urteil des EuGH zu einer viel spezielleren Norm abweichen, würde dies zu Rechtsunsicherheit führen (Rz. 47-48).
Ferner werde das Pensionsalter schrittweise angeglichen, damit sich die Betroffenen darauf einstellen könnten. Der Staat habe hierbei einen weiten Beurteilungsspielraum, da dieser Prozess komplexe gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entscheidungen erfordere. Das Vereinigte Königreich habe seit 1993 verschiedene Möglichkeiten geprüft und eine Bevölkerungsbefragung durchgeführt. Die schrittweise Anpassung des Renteneintrittsalters sei wegen großer finanzieller Folgen für Staat und Betroffene erforderlich. Auch andere Mitgliedstaaten hätten sich mit Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft für Übergangsfristen entschieden (Rz. 49).
Die ursprünglich berufene Kammer des EGMR gab die Rechtssache nach Artikel 30 EMRK wegen der grundsätzlichen Bedeutung beziehungsweise der Gefahr der Abweichung von früherer Rechtsprechung bereits vor der Zulässigkeitsentscheidung an die Große Kammer ab.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellt keine Verletzung von Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls fest. Das Vereinigte Königreich habe seinen weiten Beurteilungsspielraum nicht überschritten, da die getroffenen Maßnahmen nicht offensichtlich unangemessen seien. Dies gelte sowohl für die Entscheidung, die Zahlung der Einkommensbeihilfe einzustellen, als auch für die Entscheidung, dieses Ziel durch Verknüpfung mit dem Renteneintrittsdatum zu erreichen. Auch die Übergangsfristen beim Renteneintrittsalter beanstandet der EGMR nicht.
3.1 Eröffnung des Schutzbereiches des Rechts auf Schutz des Eigentums (Rz. 53; Rz. 41 ff. der Zulässigkeitsentscheidung)
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der Schutzbereich bei Ungleichbehandlungen im Sozialhilfesystem eröffnet ist. Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls enthalte kein Recht auf Erwerb von Eigentum. Wenn der Staat jedoch ein Beihilfen- oder Rentensystem schaffe, seien diese Ansprüche vom Eigentumsrecht geschützt und das Diskriminierungsverbot des Artikels 14 EMRK sei zu beachten (Rz. 53).
Zur Begründung verweist die Große Kammer auf die Zulässigkeitsentscheidung vom 6. Juli 2005. Unter Bezugnahme auf seine Rechtsprechung zu beitragsunabhängigen, steuerfinanzierten Beihilfen legt der Gerichtshof dar, dass sich aus Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls grundsätzlich kein Anspruch auf Sozialleistungen oder Rente ableiten lasse (Rz. 41 ff der Zulässigkeitsentscheidung). Allerdings stellt der EGMR fest, dass auch steuerbasierte Grundsicherungsleistungen unter Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls fallen (Rz. 47 ff.). Nach systematischer Auslegung der EMRK und seiner Rechtsprechung zu Sozialleistungen unter Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) legt der EGMR den Begriff "Eigentum" im Sinne einer kohärenten Rechtsprechung neu aus (Rz. 50 ff.). Er stellt fest, dass kein Grund mehr bestehe, zwischen steuer- und beitragsfinanzierten Sozialleistungen zu unterscheiden. Dazu untersucht der Gerichtshof zunächst die Praxis der Mitgliedstaaten bei der Gewährung von Sozialleistungen. Aufgrund der Vielzahl an Leistungen und ihrer Verflechtung untereinander in den einzelnen Rechtssystemen hält er es für künstlich, nur beitragsfinanzierte Leistungen zu bestimmten Fonds als "Eigentum" unter der EMRK anzuerkennen. Zudem trügen viele Leistungsberechtigte als Steuerzahlende zur Finanzierung des Grundsicherungssystems bei. Ferner seien viele Menschen in modernen Gesellschaften lebenslänglich oder abschnittsweise von Grundsicherungsleistungen abhängig. Wo ein Anspruch auf diese Leistungen bestehe, sei das damit verbundene rechtliche Interesse so gewichtig, dass es den Schutz durch die EMRK verdiene.
Schließlich bestehe auch kein Konflikt mit der Anwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta. Es gebe keine wasserdichte Trennung zwischen der EMRK und wirtschaftlichen und sozialen Rechten, die durch die Charta geschützt werden. Viele bürgerliche und politische Rechte hätten Auswirkungen auf wirtschaftliche oder soziale Rechte. Deswegen sei es nicht entscheidend, ob eine Auslegung der EMRK auch wirtschaftliche und soziale Aspekte berühre.
Der EGMR betont abschließend unter Berufung auf "Kopecky gegen die Slowakei" (Große Kammer; Beschwerde-Nr. 44912/98), dass durch seine Rechtsprechungsänderung auch bei Sozialleistungen kein Anspruch auf Schaffung dieser Leistungen entstehe. Die EMRK beschränke die Entscheidungsfreiheit des Staates nicht. Dieser allein lege fest, ob er überhaupt ein Sozialleistungssystem bereitstelle, welche Leistungen und welche Leistungshöhe er vorsehe. Wenn der Staat jedoch eine – steuer- oder beitragsfinanzierte – Sozialleistung gesetzlich gewähre, bewirkten diese Gesetze ein Eigentumsinteresse. Dieses Interesse falle dann für jede Person, die die Voraussetzungen der Leistung erfüllt, in den Anwendungsbereich von Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (Rz. 54). Der EGMR stellt abschließend fest, dass Staaten verpflichtet sind, bestehende Sozialleistungen im Anwendungsbereich der EMRK ohne Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot zu gewähren (Rz. 55).
3.2 Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 Zusatzprotokoll 1 EMRK
Allgemeine Grundsätze für Diskriminierungsfälle (Rz. 50-53)
Der EGMR führt unter Berufung auf seine ständige Rechtsprechung aus, dass eine unterschiedliche Behandlung immer dann diskriminierend sei, wenn sie nicht objektiv und angemessen gerechtfertigt ist. Die Größe des staatlichen Beurteilungsspielraums hänge von Umständen, Bereich und Hintergrund ab. Eine Ungleichbehandlung allein wegen des Geschlechts könne nur mit sehr gewichtigen Gründen gerechtfertigt werden ("Van Raalte gegen die Niederlande", Beschwerde-Nr. 20060/92). Dagegen hätten Staaten bei wirtschaftlichen und sozialen Strategiemaßnahmen einen großen Beurteilungsspielraum. Hier sei eine Rechtfertigung nur ausgeschlossen, wenn die politische Entscheidung offensichtlich ohne vernünftigen Grund getroffen worden ist ("James und andere gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 8793/79).
Anwendung dieser Grundsätze (Rz. 56 ff.)
Rechtfertigung der Kopplung an das Renteneintrittsalter
Gemessen an diesen Grundsätzen entscheidet der EGMR, dass keine Verletzung vorliege, da die Einstellung der Einkommensbeihilfe für Rentnerinnen und Rentner genauso wie die Verknüpfung mit dem Renteneintrittsalter einen legitimen Zweck verfolge, objektiv gerechtfertigt und angemessen sei.
Der Gerichtshof stellt fest, dass keine der vorgeschlagenen Alternativlösungen gleich geeignet gewesen wäre. Ein einheitliches Ausschlussalter stehe nicht gleichermaßen mit dem staatlichen Pensionssystem in Einklang wie die Kopplung an das Renteneintrittsalter. Die von den Beschwerdeführenden angeführten Sozialleistungen seien nicht vergleichbar, da sie nicht untrennbar mit dem Arbeitsleben verbunden seien. Eine Zahlung der Einkommensbeihilfe unter Anrechnung auf die Rente führe zum gleichen Ergebnis wie die jetzige Regelung, da Frauen früher in Rente gingen und damit ebenfalls fünf Jahre früher eine geringere Beihilfe bekämen.
In Fragen der Verwaltungsökonomie und -kohärenz habe der Staat ohnehin einen weiten Beurteilungsspielraum. Der EGMR verweist zudem auf das Urteil des EuGH, das er als zentral bewertet. Dieser habe mit überzeugender Begründung festgestellt, dass die Einkommensbeihilfe als Ausgleichszahlung für das weitere Berufsleben gedacht war. Er habe entschieden, dass die Kopplung an das Pensionsalter notwendig sei, um Kohärenz mit dem Rentensystem zu erhalten.
Vertretbarkeit geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlungen im Rentensystem (Rz. 60 ff.)
Der Gerichtshof entscheidet in Anbetracht der ursprünglichen Rechtfertigung, des langsamen Fortkommens von Frauen in der Gesellschaft und der uneinheitlichen Praxis der Mitgliedstaaten, dass man es dem Staat nicht anlasten könne, dass er mit der Angleichung des Rentenalters nicht früher begonnen und das Vorgehen sorgfältig geprüft habe. Der Zeitpunkt und die Wahl der Mittel seien nicht so offensichtlich unvernünftig gewesen, dass sie den weiten Beurteilungsspielraum des Staates überschritten.
Hier nimmt der EGMR eine ausführliche historische Prüfung der unterschiedlichen Altersgrenzen im britischen Rentensystem vor. Er stellt fest, dass die Unterscheidung ursprünglich eine faktische Ungleichheit beseitigen sollte, da sie als Ausgleich für unbezahlte Arbeit der Frauen in Haushalt und Familie diente. Die Rechtfertigung hierfür sei erst mit dem langsamen wirtschaftlichen und sozialen Wandel weggefallen, bis der Nachteilsausgleich den Männern gegenüber ungerecht geworden sei. Der EGMR erkennt an, dass es sich um eine graduelle Entwicklung gehandelt habe, deren genauer Zeitpunkt sich nicht bestimmen lasse. Daher habe das Vereinigte Königreich früher handeln können, aber nicht früher handeln müssen, zumal viele Mitgliedstaaten ihre abweichenden Renteneintrittsalter noch immer aufrechterhielten.
3.3 Sondervoten
Der Entscheidung liegen zwei Sondervoten bei. Richter Borrego Borregos abweichende Begründung ist so relevant, dass sie von der Gegenseite aufgegriffen werden könnte. Seiner Auffassung nach ist das Sozialhilfesystem nicht vom Schutzbereich des Artikels 1 Protokoll 1 zur EMRK erfasst. Die Mehrheitsmeinung der Richterinnen und Richter bereits in der Zulässigkeitsentscheidung führe dazu, dass bloße Interessen zu Eigentum erklärt werden und dass alle Bürgerinnen und Bürger Europas sich auf Eigentum berufen könnten. Der Richter geht unter Verweis auf frühere Rechtsprechung davon aus, dass die Mehrheit im Gericht diese Auffassung vertrete, um den Anwendungsbereich des Artikels 14 EMRK zu eröffnen. Dies führe letztlich zu einer völkerrechtlich unzulässigen Anwendung des über Artikel 14 hinausgehenden Protokolls Nr. 12 zur EMRK auf Staaten, die es nicht ratifiziert haben.
Richter Loucaides dagegen geht in seinem ebenfalls lesenswerten Sondervotum von einer Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 Protokoll 1 EMRK aus. Seiner Ansicht nach liege der Punkt, an dem ein zulässiger Nachteilsausgleich in Diskriminierung umschlug, im Jahr 1986 und damit vor den angefochtenen Entscheidungen. 1986 sei das Gesetz gegen Geschlechterdiskriminierung dahingehend geändert worden, dass Arbeitgebende keine unterschiedlichen Renteneintrittsalter für Männer und Frauen mehr vorsehen durften. Spätestens zu diesem Zeitpunkt seien die faktischen Ungleichheiten also beseitigt gewesen. Ferner sieht er das EuGH-Urteil wegen des abweichenden rechtlichen Zusammenhangs nicht als bindend an. Auch das Fehlen einer gemeinsamen Praxis in den Europarats-Mitgliedstaaten hält der Richter für unschädlich, da der Moment, in dem die Rechtfertigung unterschiedlicher Behandlung wegfiel, in den Staaten unterschiedlich sein könne. In manchen Europarats-Staaten bestünden diese faktischen Ungleichheiten möglicherweise bis heute fort.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Wenn ein Vertragsstaat ein Sozialsystem hat, das die Zahlung von Sozialleistungen vorsieht – sei dies an die vorausgehende Zahlung eines Beitrages gebunden oder nicht –, entsteht für diejenigen, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, ein vermögenswertes Recht, das in den Anwendungsbereich des Artikels 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK fällt. Der EGMR ermöglicht durch seine weite Auslegung des Begriffs "Eigentum" in Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, alle bereits bestehenden Sozialleistungen in den Anwendungsbereich der EMRK zu bringen. Damit sind in diesem Bereich – unabhängig von der Steuer- oder Beitragsfinanzierung – grundsätzlich alle Sozialleistungen der Rechtsprechung des EGMR unterworfen.
Einschränkend nennt der EGMR folgende Voraussetzungen:
1. Die begehrte Sozialleistung muss bereits existieren; das dazugehörige Gesetz muss schon und noch immer in Kraft sein.
2. Die beschwerdeführende Person muss die staatlich festgelegten Antragsvoraussetzungen erfüllen (bei einem Diskriminierungsvorwurf: alle Voraussetzungen außer derjenigen, an der die Diskriminierung festgemacht wird).
3. Bei Vorliegen der Voraussetzungen muss auf die Leistung ein konkreter, individueller Anspruch bestehen.
Die umfangreiche systematische und teleologische, also am Sinn und Zweck der Norm orientierte, Auslegung kann als Modell für weitere Versuche dienen, den Anwendungsbereich der EMRK auszudehnen. Auch wenn sich das Urteil gegen das Vereinigte Königreich richtet und keine Verletzung festgestellt wird, sind die Feststellungen dennoch für Deutschland verbindlich. Zwar binden EGMR-Urteile unmittelbar nur die beteiligten Parteien, also Beschwerdeführerin beziehungsweise Beschwerdeführer und Vertragsstaat (Artikel 46 Absatz 1 EMRK). Die Wirkung geht aber mittelbar darüber hinaus, indem zur innerstaatlichen Rechts- und Entscheidungsfindung im Lichte der EMRK deren Inhalt und Entwicklungsstand in Betracht zu ziehen sind. Die EMRK wird als "living instrument" verstanden, das vom EGMR ausgelegt und fortentwickelt wird. Als der insoweit höchsten Autorität kommt dem EGMR die Befugnis zur Konkretisierung der Konventionsnormen zu, die innerstaatlich berücksichtigt werden muss – unabhängig davon, gegen welchen Staat die Entscheidung erging (ausdrücklich BVerfGE 111, 307, 319, 328; zuvor bereits BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120).
Das Urteil ist deshalb bahnbrechend, weil der EGMR damit entgegen der ursprünglichen Entscheidung der Staaten Rechtsprechungsgewalt über einen wichtigen Bereich der sozialen Rechte bekommt. Diese waren bisher als Bestandteile der Europäischen Sozialcharta nicht mit einer Beschwerde vor dem zuständigen Ausschuss für soziale Rechte international durchsetzbar. Deutschland hat derzeit weder die Revidierte Europäische Sozialcharta und das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden noch das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen ratifiziert. Deswegen war die Einhaltung sozialer Rechte in Deutschland bisher einer Überprüfung durch europäische und internationale Spruchkörper entzogen. Der EGMR eröffnet hier für Sozialleistungen einen Weg über ein – noch dazu verbindlich entscheidendes – Gericht mit hoher Autorität und Follow-Up-Mechanismus.
Die Entscheidung ist in der Großen Kammer mit 16:1 Stimmen ergangen und hat daher eine große Legitimationswirkung.
5. Follow Up
Keines, da keine Verletzung festgestellt.
Entscheidung im Volltext: