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Beschwerde-Nr. 68959/01

EGMR, Urteil vom 21.04.2009, Beschwerde-Nr. 68959/01, Enerji Yapi-Yol Sen gegen die Türkei

1. Sachverhalt

Der türkische Dachverband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes kündigte einen Aktionstag an, mit dem das Recht auf Kollektivvereinbarungen erstritten werden sollte. Fünf Tage vor dem Aktionstag veröffentlichte die Generaldirektion für Personal des Premierministers einen Runderlass, der darauf hinwies, dass die angekündigte Veranstaltung Beamtinnen und Beamten wegen ihres rechtlichen Status‘ verboten sei und dass die übergeordneten Hierarchieebenen eine Teilnahme an dem Aktionstag verhindern sollten. Drei Mitglieder des Verwaltungsrates der türkischen Gewerkschaft Enerji Yapi-Yol Sen wurden daraufhin für ihre Teilnahme und Presse-Interviews mit Disziplinarstrafen belegt. Eine Klage der Gewerkschaft vor dem Obersten Verwaltungsgerichtshof auf Aufhebung des Runderlasses war erfolglos. Der Gerichtshof führte unter anderem aus, dass es sich lediglich um eine wiederholende Verfügung ohne Regelungsgehalt handele. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung blieb ohne Erfolg.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Die Gewerkschaft berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR im Jahr 2000 auf Artikel 11 (Koalitionsfreiheit) und 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Artikel 11 EMRK sei verletzt, da der Runderlass gegen das Recht der Gewerkschaftsmitglieder auf Koalitionsfreiheit verstoße, da er ein Teilnahmeverbot und die Aufforderung zum Erlass von Sanktionen enthalte. Artikel 11 EMRK enthalte ein Streikrecht für Beamtinnen und Beamte, dessen Beschränkung unverhältnismäßig und daher nicht zu rechtfertigen sei.

Ferner rügte sie einen Verstoß gegen Artikel 14 EMRK.

Die türkische Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, hält diese für unbegründet. Unter anderem bezweifelt sie die Beschwerdebefugnis der Gewerkschaft unter Artikel 34 EMRK, da der Runderlass die Aktivitäten der Gewerkschaft nicht beschränkt und deshalb schon kein Eingriff in ihre Rechte vorgelegen habe. Im Übrigen sei der Runderlass gerechtfertigt gewesen. Artikel 11 EMRK gewähre Gewerkschaften kein Recht auf eine besondere Behandlung durch den Staat. Der Staat könne vielmehr festlegen, welche Mittel den Gewerkschaften zur Interessenvertretung zur Verfügung stehen. Der Runderlass wiederhole nur die geltenden türkischen Vorschriften, die nicht gegen die EMRK verstießen.

Der EGMR erklärte in der Zulässigkeitsentscheidung vom 31.01.2008 die Beschwerde unter Artikel 14 EMRK für offensichtlich unzulässig, da der Runderlass nicht darauf abziele, die verschiedenen Gewerkschaften des privaten und öffentlichen Sektors unterschiedlich zu behandeln. Vielmehr weise er auf die türkischen Vorschriften zum Streikrecht von Beamtinnen und Beamten hin. Diese unterschieden nicht zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und anderen Beamtinnen und Beamten.

3. Entscheidung des EGMR (Rz. 19 ff.)

Der Gerichtshof stellt eine Verletzung von Artikel 11 EMRK (Koalitionsfreiheit) fest, da das Verabschieden des Runderlasses und seine Umsetzung kein dringendes gesellschaftliches Erfordernis darstellten und deshalb ein ungerechtfertigter Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin vorliege.

3.1 Beschwerdeberechtigung und Opfereigenschaft der Gewerkschaft unter Artikel 34 EMRK (Rz. 24)

Unter Berufung auf seine Rechtsprechung (" National Union of Belgian Police gegen Belgien",  Beschwerde-Nr. 4464/70; "Swedish Engine Drivers‘ Union gegen Schweden", Beschwerde-Nr. 5614/72; "Schmidt und Dahlström gegen Schweden", Beschwerde-Nr. 5589/72) stellt der EGMR fest, dass die Gewerkschaft von den Auswirkungen des Runderlasses direkt betroffen gewesen sei, sodass sie sich auf die Koalitionsfreiheit berufen könne. Der EGMR betont, dass Streiks ein wichtiges Mittel gewerkschaftlicher Interessenvertretung seien, da sie die Stimmen ihrer Mitglieder hörbar machten. Er weist unter Bezugnahme auf die ausführliche Analyse in seiner Grundsatzentscheidung "Demir und Baykara gegen die Türkei" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 34503/97) darauf hin, dass das Streikrecht von den Kontrollgremien der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) als notwendiges Begleitrecht der Koalitionsfreiheit unter dem IAO-Übereinkommen Nr. 87 angesehen werde. Ferner erkenne die Europäische Sozialcharta (ESC) das Streikrecht als Mittel an, die effektive Ausübung des Rechts auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten. Dies gelte auch für Artikel 11 EMRK.

3.2 Verletzung von Artikel 11 EMRK (Rz. 25 ff.)

Der EGMR stellt fest, dass die Verabschiedung des Runderlasses und seine Umsetzung gegen das in der Koalitionsfreiheit verkörperte Streikrecht von Beamtinnen und Beamten verstößt und dass dieser Verstoß nicht gerechtfertigt werden kann.

Eingriff in den Schutzbereich des Artikels 11 EMRK: Streikrecht von Beamtinnen und Beamten als Bestandteil des sachlichen Anwendungsbereiches
Der Gerichtshof setzt voraus, dass das Streikrecht von Beamtinnen und Beamten nach seinen Grundsätzen aus "Demir und Baykara gegen die Türkei" Artikel 11 EMRK unterfällt, in das hier eingegriffen wurde (Rz. 24, 25).

Keine Rechtfertigung mangels Notwendigkeit
Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf der Rechtfertigungsprüfung mit dem klassischen Dreischritt Eingriff gesetzlich vorgesehen, legitimer Zweck und Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Artikel 11 Absatz 2 EMRK). Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass der Eingriff (unter-)gesetzlich vorgesehen war, da der Runderlass hierfür nach der EMRK ausreiche (Rz. 26 f.). Ob ein legitimer Zweck vorliegt, lässt er offen, da der Runderlass und seine Anwendung jedenfalls unverhältnismäßig seien (Rz. 28).

Fehlende Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Verhältnismäßigkeit; Rz. 29 ff.)
Der Gerichtshof verweist auf seine allgemeinen Grundsätze zu negativen und positiven Staatenverpflichtungen unter Artikel 11 EMRK in "Demir und Baykara gegen die Türkei" (Rz. 110-119). In diesem Urteil hatte er ausgeführt, dass Artikel 11 auch positive Pflichten des Staates normiere, wonach die Ausübung des Rechts zu gewährleisten sei. Daher begehe ein Vertragsstaat auch dann einen Verstoß, wenn die Nichtanerkennung der Gewerkschaft auf dem Versäumnis beruhe, die Rechte der Betroffenen zu sichern (Zusammenfassung "Demir und Baykara").

Der EGMR wendet sich direkt der Anwendung dieser Prinzipien zu. Er stellt fest, dass Verabschiedung und Umsetzung des Erlasses keinem "dringenden gesellschaftlichen Erfordernis" dienten. Zum Zeitpunkt des Runderlasses sei der Status der Beamtinnen und Beamten unklar gewesen, weil es Vorhaben gab, die türkische Gesetzeslage den internationalen Verpflichtungen anzupassen.

Der Gerichtshof stellt klar (Rz. 32), dass das Recht auf Streik zwar nicht unbeschränkt gelte, aber ein genereller Ausschluss des Streikrechts für alle Beamtinnen und Beamten oder Angestellten von staatseigenen Industrie- oder Handelskonzernen gegen die Konvention verstoße. Ein begründeter Ausschluss für einzelne Gruppen von Beamtinnen und Beamten, die Staatsgewalt ausübten, sei zwar möglich. Allerdings müssten die gesetzlichen Beschränkungen des Streikrechts diese Gruppen so klar und eng wie möglich definieren (siehe "Pellegrin gegen Frankreich", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 28541/95).

Im Hinblick auf den vorliegenden Fall stellt der EGMR fest, dass der Runderlass sich auf alle Beamtinnen und Beamte und nur auf die Teilnahme an dem konkreten Aktionstag bezogen habe. Obwohl der Aktionstag nicht verboten worden war, habe er das Streikrecht in absolut klingenden Worten ausgeschlossen, ohne die in Artikel 11 Absatz 2 aufgeführten Erfordernisse an einen legitimen Zweck zu berücksichtigen. Obwohl die Mitglieder des Verwaltungsrates der Gewerkschaft nur von ihrer Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht hätten (siehe "Ezelin gegen Frankreich", Beschwerde-Nr. 11800/85), seien sie auf Grundlage des Erlasses sanktioniert worden. Diese Sanktionen seien geeignet gewesen, Gewerkschaftsmitglieder davon abzuhalten, ihr legitimes Recht auf Teilnahme an solchen Streiks oder Aktionstagen auszuüben, die der Interessenvertretung der Mitglieder dienten ("Urcan und andere gegen die Türkei ", Beschwerde-Nrn. 23018/04, 23034/04, 23042/04, 23071/04, 23073/04, 23081/04, 23086/04, 23091/04, 23094/04, 23444/04 und 23676/04; "Karaçay gegen die Türkei", Beschwerde-Nr. 6615/03).

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

"Enerji Yapi-Yol Sen gegen die Türkei" ist eine kurze Entscheidung, mit der der EGMR deutlich macht, dass ein genereller Ausschluss des Streikrechts für Beamtinnen und Beamte mit Artikel 11 der EMRK nicht vereinbar ist. Damit reiht sich der EGMR in die langjährige Auffassung der Spruchkörper der Vereinten Nationen, des Europarates und der EU ein. Aus den umfangreichen Hinweisen auf das fünf Monate zuvor ergangene EGMR-Urteil "Demir und Baykara gegen die Türkei", insbesondere auf die ausführliche Analyse von europäischen und internationalen Normen sowie die dafür relevante Praxis, lässt sich schließen, dass der EGMR dieses Urteil in der Tradition der neuen Dogmatik und unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Auslegungstechnik verstanden wissen will.

Der EGMR verweist allgemein auf "Demir und Baykara", ohne die speziellen Vorschriften zum Streikrecht zu nennen. Dies sind etwa Artikel 22 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), Artikel 8 Absatz 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), das IAO-Übereinkommen Nr. 87 sowie Artikel 6 Absatz 4 ESC und Artikel 28 der EU-Grundrechtecharta (siehe dazu Klaus Lörcher, "Das Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen und Streik – auch für Beamte", Arbeit und Recht 2009, Ausgabe 7-8, S. 1-14 (S. 7 ff.)).

Auch wenn sich das Urteil gegen die Türkei richtet, sind die Feststellungen dennoch für Deutschland verbindlich. Zwar binden EGMR-Urteile unmittelbar nur die beteiligten Parteien, also Beschwerdeführerin beziehungsweise Beschwerdeführer und Vertragsstaat (Artikel 46 Absatz 1 EMRK). Die Wirkung geht aber mittelbar darüber hinaus, indem zur innerstaatlichen Rechts- und Entscheidungsfindung im Lichte der EMRK deren Inhalt und Entwicklungsstand in Betracht zu ziehen sind. Die EMRK wird als "living instrument" verstanden, das vom EGMR ausgelegt und fortentwickelt wird. Als der höchsten Autorität kommt dem EGMR die Befugnis zur Konkretisierung der Konventionsnormen zu, die innerstaatlich berücksichtigt werden muss – unabhängig davon, gegen welchen Staat die Entscheidung erging (ausdrücklich BVerfGE 111, 307, 319, 328; zuvor bereits BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120). Deswegen kann die Argumentation des EGMR auch in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden.

Die Entscheidung könnte zudem in wesentlichen Teilen auch inhaltlich auf die Situation in Deutschland übertragbar sein (siehe dazu Lörcher, a. a. O). Die oben aufgeführten Normen sind auch auf Deutschland anwendbar und können auch in Schriftsätzen herangezogen werden. Die jeweils zuständigen Spruchkörper – besonders der IAO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit – bemängeln fortwährend, dass Deutschland das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte weitgehend ablehnt.

Dem Urteil lässt sich jedenfalls entnehmen, dass sich eine umfassende Ablehnung des Streikrechts für Beamtinnen und Beamte unter Artikel 11 Absatz 2 Satz 2 EMRK auch für Deutschland kaum rechtfertigen lässt (siehe dazu umfassend Lörcher, a. a. O). Der EGMR geht in dieser Entscheidung davon aus, dass ein genereller Ausschluss des Streikrechts nur im eng auszulegenden Bereich der unmittelbaren Staatsgewalt mit Artikel 11 EMRK vereinbar sei. Danach darf auch in Deutschland das Streikrecht nur für bestimmte, klar definierte Gruppen ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss bedarf einer Rechtfertigung mit einem "dringenden gesellschaftlichen Erfordernis"; er muss verhältnismäßig sein. Aus der Zusammenschau mit den EGMR-Entscheidungen "Pellegrin gegen Frankreich" (op. cit.) und "Vilho Eskelinen und andere gegen Finnland" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 63235/00) lässt sich schließen, dass ein Ausschluss möglicherweise nicht verhältnismäßig sein wird, wenn es eine vergleichbare Tätigkeit auch in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen gibt und die betreffenden Arbeitnehmenden streiken dürfen (siehe dazu umfassend Lörcher, a. a. O).

Siehe weiterführend: Klaus Lörcher, "Das Menschenrecht auf Kollektivverhandlungen und Streik – auch für Beamte", Arbeit und Recht 2009, Ausgabe 7-8, S. 1-14 (S. 7 ff.)

5. Follow Up

Die Türkei hat auf Ersuchen des Ministerkomitees des Europarates im Februar 2013 einen Aktionsplan vorgelegt. Die türkische Regierung berichtete, dass der Runderlass aufgehoben und durch einen neuen Erlass ersetzt worden sei. Ferner seien die Verfassung und das Beamtengesetz geändert worden. Nunmehr könne gegen Disziplinarstrafen vor den Verwaltungsgerichten geklagt werden. Im Oktober 2012 sei ein neues Gesetz zu Gewerkschaften und Kollektivverhandlungen verabschiedet worden. Das oberste Gericht habe seine Rechtsprechung an das Urteil des EGMR angepasst.
Eine Reaktion des Ministerkomitees steht noch aus.

Entscheidung im Volltext:

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