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Beschwerde-Nr. 4149/04 und 41029/04

EGMR [Große Kammer], Urteil vom 15.03.2012, Beschwerde-Nr. 4149/04 und 41029/04, Aksu gegen Türkei

1. Sachverhalt

Mustafa Aksu (M. A.), ist Angehöriger der Volksgruppe der Roma und lebt in Ankara. Seine Beschwerden betreffen drei unterschiedliche Veröffentlichungen: ein Buch mit dem Titel "Zigeuner in der Türkei" (Beschwerdenummer 4149/04) und zwei Lexika, darunter ein "Türkisches Lexikon für Schüler" (Beschwerdenummer 41029/04). Die Veröffentlichungen wurden vom türkischen Kulturministerium finanziert oder unterstützt und enthalten stereotype Aussagen über die Roma. So wird in dem Buch "Zigeuner in der Türkei" behauptet, dass "Zigeuner_innen" mit illegalen Aktivitäten befasst seien, beispielsweise mit (Taschen-)Diebstahl, Betrug, Raub, Wucher, Bettelei, Drogenhandel, Prostitution und Bordellbetrieben. In den Lexika befanden sich mehrere negative Ausdrücke aus der Umgangssprache, die vom türkischen Wort für "Zigeuner" abgeleitet wurden.

M. A. reichte eine Petition beim türkischen Kulturministerium ein und forderte die Konfiszierung des Buches "Zigeuner in der Türkei". Im Oktober 2001 wurde er darüber informiert, dass das Buch durch einen aus sieben Professor_innen bestehenden Veröffentlichungsbeirat als wissenschaftliche Forschung qualifiziert worden war. Es seien keine Beleidigungen darin enthalten und der_die Autor_in lasse keine Änderungen zu.

Daraufhin erhob M. A. Klagen gegen das Kulturministerium und gegen den_die Verfasser_in beziehungsweise den_die Herausgeber_in und machte geltend, dass die negativen stereotypen Äußerungen einen Angriff auf seine Identität als Angehöriger der Roma-Minderheit darstellten und beleidigend seien. Außer einer Entschädigung für den ihm entstandenen immateriellen Schaden verlangte er, Kopien des Werks zu beschlagnahmen und die Veröffentlichung und Verbreitung zu untersagen. Alle Verfahren gegen den_die Autor_in des Buches und den_die Herausgeber_in der Lexika blieben jedoch ohne Erfolg. Hinsichtlich des ersten Buches stellten die Gerichte fest, dass es auf wissenschaftlichen Daten beruhe, die Sozialstruktur der Roma-Bevölkerung in der Türkei untersuche und den Beschwerdeführenden nicht beleidige. In dem Verfahren, das die Lexika betraf, befanden die Gerichte, dass Definitionen und Ausdrücke in den Wörterbüchern auf der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit basierten und keine Absicht vorgelegen habe, die Roma zu erniedrigen. Zudem gebe es im Türkischen vergleichbare Ausdrücke für andere ethnische Gruppen.  

Hinsichtlich der Ansprüche gegen das Ministerium stellte das Zivilgericht fest, dass in diesem Fall die Verwaltungsgerichte für eine Entscheidung zuständig seien. Der Beschwerdeführende habe dort seine Klagen nicht bis zur letzten Instanz weitergeführt.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

M. A. machte geltend, dass die Veröffentlichungen ihn in seiner ethnischen Identität verletzen. Er bezog sich beispielweise auf die Kapitel, in denen der Lebensstil und die illegalen Aktivitäten von Roma beschrieben wurden, und berief sich dabei auf Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Die türkische Regierung behauptete, die Beschwerde sei wegen fehlender Opfereigenschaft des Beschwerdeführenden unzulässig. Sie begründete dies damit, dass das Buch auf wissenschaftlichen Daten beruhe und die Roma-Gemeinschaften in der Türkei darstelle, ihre Sprache und Traditionen, ihren Glauben, ihre Küche. Ein Gremium aus sieben Professor_innen habe das Werk geprüft und festgestellt, dass es für M. A. nicht beleidigend sei. Auch die Ausdrücke in den Wörterbüchern beruhten auf der historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und hätten nicht die Absicht, die Roma zu erniedrigen.

Am 27. Juli 2010 erging die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR. Die Richter_innen waren nicht davon überzeugt, dass der_die Verfasser_in des Buchs oder der_die Herausgeber_in der Lexika die persönliche Integrität von M. A. verletzt haben. Auch wenn einzelne Passagen diskriminierend zu sein scheinen, lassen die Werke in ihrer Gesamtheit nicht die Absicht erkennen, die Roma zu beleidigen. Die Autor_innen bezogen sich zwar auf stereotype Darstellungen der Minderheit, aber nur um zu zeigen, wie die Roma-Gemeinschaft von der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Im Ergebnis stellte die Kammer keine Verletzung der Konventionsrechte fest.

3. Entscheidung

Der EGMR befindet: Die türkischen Gerichte haben ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten und ihre positive Verpflichtung, M. A. die effektive Achtung seines Privatlebens zu garantieren, nicht missachtet.

Zunächst erklärt der EGMR, dass die fraglichen Veröffentlichungen Inhalte umfassen, die nach Ansicht des Beschwerdeführenden einen Angriff auf seine ethnische Identität darstellen. Es geht in dem Fall jedoch nicht um eine unterschiedliche Behandlung und insbesondere nicht um ethnische Diskriminierung. Daher entscheidet der EGMR, die Beschwerde nicht im Lichte des Diskriminierungsverbots (Artikel 14 EMRK), sondern im Lichte des Rechts auf Privatleben (Artikel 8 EMRK) zu prüfen.

Zulässigkeit (Rz. 50-54)

Bezüglich des Opferstatus von M. A. stellt der EGMR fest, dass die strittigen Äußerungen den Beschwerdeführenden zwar nicht persönlich betreffen, jedoch durchaus von diesem als beleidigend empfunden werden können. Außerdem hat es in den nationalen Verfahren keinen Streit hinsichtlich seiner Parteistellung gegeben. Aus diesem Grund weist der EGMR die Einrede der türkischen Regierung zurück, dass M. A. nicht als Opfer anzusehen sei.

Zur behaupteten Verletzung von Artikel 8 (Rn. 58 ff.)

Der EGMR erinnert daran, dass der Begriff des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 EMRK weit auszulegen ist und kaum erschöpfend definiert werden kann. Der Begriff der persönlichen Autonomie ist ein wichtiges Prinzip, das hinter der Auslegung der von Artikel 8 EMRK gewährten Garantien steht. Er umfasst verschiedene Aspekte der Identität einer Person, darunter auch die ethnische Identität. Eine negative Stereotypisierung einer Gruppe kann sich auf das Identitätsgefühl der Gruppe sowie ihren Selbstwert und ihr Selbstbewusstsein auswirken. In einem solchen Fall kann es zu einer Beeinträchtigung des Privatlebens von Mitgliedern der Gruppe kommen.

Der EGMR weist ferner darauf hin, dass Artikel 8 nicht nur den Schutz vor Eingriffen seitens des Staates umfasst, sondern auch die positive Verpflichtung des Staates, seine Bürger_innen zu schützen, auch vor Übergriffen von privater Seite. In dem vorliegenden Fall entscheidet der EGMR, die Frage der Rechtsverletzung unter dem Gesichtspunkt der positiven Verpflichtung des Staates zu prüfen. Es geht also um die Frage, ob der Staat seine Verpflichtung erfüllt hat, das Privatleben von M. A. vor dem Eingriff durch eine_n Dritten, nämlich den_die Autor_in, zu schützen.

Des Weiteren betont der EGMR, dass diese staatlichen Verpflichtungen aus Artikel 8 die Abwägung von Individualinteresse gegenüber Allgemeininteresse notwendig machen. In solchen Fällen muss der Gerichtshof das Recht des_der Kläger_in auf "Achtung seines Privatlebens" gegen das öffentliche Interesse am Schutz der Meinungsfreiheit abwägen, wobei zu berücksichtigen ist, dass zwischen den durch die beiden Artikel garantierten Rechten kein hierarchisches Verhältnis besteht.

Bezüglich des Buches "Zigeuner in der Türkei" haben die nationalen Gerichte abgewogen zwischen den Rechten von M. A. als Mitglied der Gemeinschaft der Roma und der Freiheit der Autor_in, wissenschaftliche Forschung durchzuführen und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Dabei haben sie sich unter anderem auf einen Bericht von sieben Universitätsprofessor_innen gestützt, die befanden, dass es sich bei dem Werk um eine akademische Studie auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung handele. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass die umstrittenen Veröffentlichungen keinen beleidigenden Charakter haben, und haben daher die Klage von M. A. abgewiesen. Der EGMR hält diese Schlussfolgerungen für überzeugend. Insbesondere unterstreicht er, dass die negativen Passagen nicht Roma im Allgemeinen betreffen. Der_die Autor_in selbst betont, dass die Gemeinschaft der Roma in der Türkei geächtet werde und Ziel von herabwürdigenden Bemerkungen sei. Außerdem beurteilt der EGMR die Herangehensweise der türkischen Gerichte positiv. Die Gerichte haben sich nämlich bei der Abwägung der kollidierenden Grundrechte nach Artikel 8 und 10 der EMRK an den Grundsätzen der ständigen Rechtsprechung des EGMR orientiert. Sie haben anerkannt, dass eine Einschränkung der Freiheit von Wissenschaftler_innen, zu forschen und ihre Ergebnisse zu veröffentlichen, sorgfältig geprüft werden muss. Auch sind die strittigen Passagen in dem Buch nicht isoliert betrachtet worden, sondern im Gesamtzusammenhang. Des Weiteren ist die Forschungsmethode des_der Autor_in berücksichtigt worden. Darüber hinaus hat dem Beschwerdeführenden ein effektives rechtliches System zur Verfügung gestanden.

Letztlich unterstreicht der EGMR, dass die Roma in einer besonders verwundbaren Lage sind, die es erfordert, ihre Bedürfnisse und ihren Lebensstil besonders zu berücksichtigen. Dies gilt sowohl für rechtliche Rahmen wie auch einzelne Entscheidungen in konkreten Fällen ("D. H. und Andere gegen Tschechische Republik" [Große Kammer], Beschwerdenummer 57325/00 ). Die Regierung soll ihre Bemühungen um die Bekämpfung einer negativen Stereotypisierung der Roma fortsetzen.

Hinsichtlich der Lexika stellt der EGMR ebenfalls keine Verletzung der EMRK fest. Er akzeptiert die Argumente der türkischen Regierung, dass ein Wörterbuch die in der Gesellschaft verwendete Sprache reflektiert. Die umstrittenen Lexika sind umfangreich und sollen die gesamte türkische Sprache abdecken. Auch die von dem Wort "Zigeuner" abgeleiteten Ausdrücke sind Teil des gesprochenen Türkisch. Bei einem Wörterbuch jedoch, das an Schüler_innen gerichtet ist, ist größere Sorgfalt erforderlich, wenn Definitionen oder Ausdrücke angeführt werden, die Teil der täglichen Sprache sind, aber als erniedrigend oder beleidigend gedeutet werden können. Unter Hinweis auf die Allgemeine Politische Empfehlung Nr. 10 der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) erinnert der EGMR daran, dass bei Schüler_innen das kritische Denken gefördert werden soll. Es wäre daher besser gewesen, solche negative Ausdrücke als "pejorativ" oder "abwertend" zu kennzeichnen anstatt lediglich als "metaphorisch". Dieser Kritikpunkt ist jedoch für den EGMR nicht ausreichend, um eine Rechtsverletzung anzunehmen.

Abweichende Meinung

Ein_e armenische Richter_in des EGMR stimmte dem Urteil nicht zu. Sie hielt es für falsch, dass der EGMR den Fall unter Artikel 8 EMRK geprüft hat, und stellte auch das Ergebnis – die fehlende Rechtsverletzung – infrage. Die ihrer Meinung nach richtige Grundlage für die Prüfung wäre Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 EMRK gewesen. Die Richter_in betonte, dass die negative Beschreibung der Roma-Gemeinschaft Stereotypen und Vorurteile gegenüber Roma aufrechterhalte, und kritisierte, dass der EGMR die Anstiftung zur Diskriminierung dulde.

Entscheidung im Volltext:

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