Beschwerde-Nr. 28274/08
EGMR, Urteil vom 21.07.2011, Beschwerde-Nr. 28274/08, Heinisch v. Germany
1. Sachverhalt
Brigitte Heinisch (H.) arbeitete seit 2002 als Altenpflegerin in einem Pflegeheim der mehrheitlich im Landeseigentum stehenden Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH (V-GmbH). Zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 wies H. mit Kolleginnen und Kollegen die Geschäftsleitung mehrmals auf die Überlastung des Personals und die unzureichende Dokumentation der Pflegeleistungen hin. H. selbst war in dem Zeitraum mehrfach wegen Arbeitsüberlastung krankgeschrieben.
Bei einer Kontrolle stellte der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) bereits 2002 und Ende 2003 wesentliche Pflegemängel fest, darunter unzureichende Personalausstattung und Pflegestandards sowie mangelhafte Dokumentation. Ein Jahr danach wies H. die Geschäftsleitung durch ihren Rechtsanwalt darauf hin, dass die hygienische Versorgung der Patientinnen und Patienten wegen Personalmangels nicht mehr gewährleistet werden könne. Sie forderte eine schriftliche Erklärung, wie die ausreichende Versorgung künftig sichergestellt werden solle, und kündigte eine Strafanzeige an. Die Geschäftsleitung wies die Vorwürfe zurück. Daraufhin erstattete H. im Dezember 2004 durch ihren Anwalt Strafanzeige gegen die V-GmbH wegen besonders schweren Betruges. Die V-GmbH werbe mit hochwertiger Pflege, die sie wissentlich nicht erbringe, sondern die Patientinnen und Patienten gefährde. Die V-GmbH habe ferner Pflegekräfte aufgefordert, (so) nicht erbrachte Leistungen zu dokumentieren, und dadurch die Probleme systematisch verschleiert. Ermittlungen gegen die V-GmbH, die zunächst eingeleitet und wieder eingestellt worden waren, wurden auf Ersuchen von H. wieder aufgenommen. Gleichwohl stellte die Staatsanwaltschaft sie im Mai 2005 endgültig ein.
Die V-GmbH kündigte H. wegen wiederholter Erkrankungen zum 31. März 2005. Mit Unterstützung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di verteilte H. Flugblätter, auf denen sie, auf die Strafanzeige hinweisend, die Kündigung bezeichnete als "politische Disziplinierung, um den berechtigten Widerstand vieler Beschäftigter im Gesundheitswesen für eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung mundtot zu machen". Die V-GmbH kündigte H. daraufhin fristlos wegen der Herstellung und Verbreitung des Flugblatts.
Der Klage von H. gegen die außerordentliche Kündigung wurde erstinstanzlich mit Verweis auf die Meinungsfreiheit der H. stattgegeben (Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. August 2005, Aktenzeichen 39 Ca 4775/05). Die Berufungsinstanz hob das Urteil jedoch auf, da die Strafanzeige einen "wichtigen Grund" für die fristlose Kündigung dargestellt habe. Revision und Verfassungsbeschwerde blieben erfolglos (Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. März 2006, Aktenzeichen 7 Sa 1884/05).
2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Argumente der Parteien
H. berief sich in ihrer Beschwerde gegen Deutschland vor dem EGMR 2008 auf Artikel 10 (Meinungsfreiheit) und Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Artikel 10 EMRK sei durch die fristlose Kündigung und die Weigerung der deutschen Gerichte, ihre Wiedereinstellung anzuordnen, verletzt. Sie habe vor der Strafanzeige zahlreiche erfolglose Versuche gestartet, die zuständigen Stellen innerhalb des Unternehmens über die Missstände aufzuklären. Da weitere interne Beschwerden keine effektiven Rechtsbehelfe dargestellt hätten, sei die Anzeige das letzte Mittel gewesen. Zudem seien ihre Beschwerden fundiert gewesen, da sie darin alle ihr wegen zu befürchtender Vergeltung durch die V-GmbH möglichen Informationen – inklusive der Betrugsvorwürfe – vorgebracht habe. Die gleichen Umstände seien auch in den Berichten des MDK von 2002 und 2003 festgehalten worden. Die rechtliche Würdigung des Anwalts könne sie als Laiin nicht überprüfen. Die Anzeige habe sie wegen der potenziellen Bedrohung der Gesundheit der besonders verletzlichen Patientinnen und Patienten erhoben. Sie habe einen weiteren Bericht des MDK nicht abwarten müssen. Zum einen hätten bereits vorherige Berichte des MDK nicht zu einer besseren Situation geführt, zum anderen erhalte sie als Angestellte keine Informationen über einen Besuch oder den Inhalt eines Berichts des MDK. Ferner habe die V-GmbH ohne Ausschöpfen milderer Mittel zur schwersten Sanktion, der fristlosen Kündigung, gegriffen, obwohl die V-GmbH keinen konkreten Schaden infolge der Anzeige habe nachweisen können. Damit sei eine fristlose Kündigung zur Aufrechterhaltung des Rufs der V-GmbH nicht notwendig gewesen, sodass die deutschen Gerichte keine angemessene Abwägung zwischen ihren Interessen und denen der V-GmbH getroffen hätten.
Artikel 6 EMRK sei verletzt, weil das arbeitsgerichtliche Kündigungsschutzverfahren nicht fair gewesen sei. Das Berufungsgericht habe die Beweislast für § 626 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches umgekehrt und ihr die Beweislast dafür auferlegt, dass ihre Anzeige nicht leichtfertig und auf ungerechtfertigte Anschuldigungen gestützt gewesen sei.
Die deutsche Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, hält diese für unbegründet, da der Eingriff in die Meinungsfreiheit gerechtfertigt sei. H. habe ihrer Arbeitgeberin gegenüber vor der Anzeige nicht hinreichend deutlich auf die Betrugsvorwürfe hingewiesen. Diese Anschuldigung habe sie erstmals in der Strafanzeige erhoben und leichtfertig keine überprüfbaren Anhaltspunkte vorgebracht, sodass das Verfahren mangels Anfangsverdachts eingestellt worden sei. Bei der Vernehmung durch die Ermittlungsbehörden habe sich H. geweigert, weitere Zeuginnen oder Zeugen für die Fälschungen zu benennen. Deshalb hätten die Gerichte die Authentizität der Behauptungen von H. zu Recht in Zweifel gezogen. Sie hätten im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums eine angemessene Abwägung zwischen den Interessen von H. und der V-GmbH getroffen, die den Grundsätzen des EGMR aus "Guja gegen Moldawien" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 14277/04) entspreche. Die Gerichte hätten insbesondere berücksichtigt, dass H. nicht gutgläubig gehandelt, sondern den Zweck verfolgt habe, den Druck auf die Arbeitgeberin durch zusätzlichen öffentlichen Druck zu erhöhen. Dies zeigten der polemische Wortlaut des Anwaltsbriefes und der Strafanzeige sowie die Flugblattaktion nach der Kündigung. H. habe gewusst, dass eine Anzeige wegen der unabhängigen Überprüfung durch den MDK unnötig gewesen sei. Zumindest hätte sie den erneuten Prüfbericht des MDK abwarten müssen.
Drittintervention
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gab im Rahmen einer zugelassenen Drittintervention eine Stellungnahme ab (siehe dazu Rz. 61 des Urteils). Ver.di legte Informationen über die Pflege in deutschen Einrichtungen und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten vor. Die Gewerkschaft führte aus, dass die Branche von Personalengpässen geprägt sei, die zu erhöhter Arbeitslast und Überstunden führten. In vielen Pflegeeinrichtungen seien Pflegekräfte für so viele Klientinnen und Klienten zuständig, dass sie nur sehr grundlegende Pflegeleistungen erbringen könnten. Die MDK nehme nur jährliche Prüfungen vor und sei bei ihren Besuchen nicht verpflichtet, mit Beschäftigten zu sprechen. Diese allerdings seien die ersten, die Missstände bemerkten. Deswegen vertritt ver.di die Auffassung, dass Beschäftigte die Möglichkeit bekommen müssten, effektiv auf diese Missstände aufmerksam zu machen, ohne Angst vor Gegenmaßnahmen durch Arbeitgebende zu haben.
3. Entscheidung des EGMR
Der Gerichtshof stellt eine Verletzung von Artikel 10 EMRK (Meinungsfreiheit) fest, da die deutschen Gerichte keinen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeberin und den Rechten der Beschwerdeführerin einschließlich der Interessen der Allgemeinheit herbeigeführt hätten (Rz. 93 ff.).
Die Beschwerde unter Artikel 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) erklärte der EGMR für offensichtlich unzulässig, da Artikel 6 EMRK nach ständiger Rechtsprechung keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismittel und die Beweiswürdigung enthalte und eine willkürliche Behandlung des Falles durch die Gerichte nicht ersichtlich sei (Rz. 96 ff.).
3.1 Verletzung von Artikel 10 EMRK
Der EGMR stellt fest, dass die gerichtlich bestätigte Kündigung von H. wegen des Aufdeckens von Missständen und der Strafanzeige mangels angemessenen Interessenausgleiches zwischen dem gebotenen Schutz des Rufes der Arbeitgeberin und dem erforderlichen Schutz des Rechts von H. auf freie Meinungsäußerung gegen die Meinungsfreiheit verstößt und dass dieser Verstoß nicht gerechtfertigt werden kann (Rz. 93 ff.).
Whistleblowing als Bestandteil des sachlichen Anwendungsbereiches des Artikels 10 EMRK (Rz. 43 ff.)
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Anwendungsbereich von Artikel 10 eröffnet sei. Die Parteien seien sich einig, dass es sich bei der Strafanzeige um das Aufdecken von Missständen in Unternehmen durch eine Arbeitnehmerin handelte und dass dieses Whistleblowing in den Geltungsbereich von Artikel 10 falle.
Eingriff und fehlende Rechtfertigung nach Artikel 10 Absatz 2 EMRK (Rz. 47 ff.)
Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, dass der durch den Staat nicht bestrittene Eingriff durch die Kündigung zwar gesetzlich vorgesehen ist und einem legitimen Zweck dient, jedoch unverhältnismäßig ist.
Gesetzlich vorgesehener Eingriff (Rz. 49)
Laut EGMR war der Eingriff gesetzlich vorgesehen, da das Bürgerliche Gesetzbuch die Kündigung eines Dienstverhältnisses ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gestatte, wenn seine Fortsetzung dem Kündigenden aus wichtigem Grund unzumutbar sei. Ein solcher wichtiger Grund sei nach der deutschen Rechtsprechung auch bei einer erheblichen Verletzung der Loyalitätspflicht gegeben.
Legitimer Zweck (Rz. 49)
Die Parteien waren sich einig, dass die Kündigung den legitimen Zweck verfolgt habe, den Ruf und die Interessen der V-GmbH zu schützen.
Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft (Verhältnismäßigkeit)
Grundsätze (Rz. 50 ff., besonders 62-70)
Der EGMR führt vorab die allgemeinen Grundsätze seiner Rechtsprechung unter Artikel 10 EMRK aus und zieht dazu seine Entscheidung "Steel und Morris gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 68416/01) heran. Danach erfordere das Adjektiv "notwendig" im Sinne des Artikels 10 Absatz 2 EMRK das Bestehen eines zwingenden gesellschaftlichen Erfordernisses, wobei der jeweilige Staat einen gewissen Beurteilungsspielraum habe. Der Gerichtshof überprüfe die Gesetzgebung und alle Auslegungsentscheidungen, auch diejenigen unabhängiger Gerichte, und treffe damit die letztinstanzliche Entscheidung darüber, ob die Beschränkung mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist. Die Kontrolle des EGMR sei dabei nicht auf die Beurteilung von Ermessensfehlern beschränkt. Vielmehr betrachte er die Beschränkung im Zusammenhang aller Einzelfallumstände und entscheide, ob sie in Anbetracht des verfolgten legitimen Zwecks verhältnismäßig ist und ob die vom Staat angeführten Rechtfertigungsgründe relevant und ausreichend sind. Dabei überprüfe er, ob die von den staatlichen Stellen angewandten Standards mit den Grundsätzen des Artikels 10 EMRK übereinstimmten und ob diese die Fakten angemessen bewertet hätten.
In der Folge fasst der EGMR seine speziellen Grundsätze für die Anwendung des Artikels 10 EMRK auf Whistleblowing am Arbeitsplatz zusammen. Unter Berufung auf seine Entscheidungen "Guja gegen Moldawien" (a. a. O.) und "Marchenko gegen die Ukraine" (Beschwerde-Nr. 4063/04) führt der EGMR aus, dass das Aufzeigen von Missständen durch Bedienstete im öffentlichen Sektor insbesondere dann Schutz verdiene, wenn der Whistleblower oder die Whistleblowerin die einzige Person oder Teil einer kleinen Gruppe sei, die Kenntnis von den Geschehnissen am Arbeitsplatz habe und deshalb am besten in der Lage sei, durch das Alarmieren der Arbeitgebenden oder der Öffentlichkeit im öffentlichen Interesse zu handeln. Dabei sei zu berücksichtigen, dass Beschäftigte gegenüber ihren Arbeitgebenden Loyalitäts-, Zurückhaltungs- und Verschwiegenheitspflichten treffen. Dies gelte für Beschäftigte im öffentlichen Dienst in größerem Maße als im privaten Sektor. Art und Umfang der Loyalitätspflicht beeinflussten dabei die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen. Aus den Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflichten ergebe sich, dass die Offenlegung zunächst gegenüber dem oder der jeweiligen Vorgesetzten oder der zuständigen Behörde beziehungsweise Einrichtung erfolgen sollte. Nur wenn dies nicht zu verwirklichen sei, dürfe die Information in letzter Konsequenz der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Deshalb müsse der EGMR prüfen, ob der betreffenden Person andere effektive Möglichkeiten zur Verfügung gestanden haben, um das Fehlverhalten zu beenden.
Sodann zählt der Gerichtshof weitere für die Abwägung entscheidende Faktoren auf:
1. Art des bei der Offenlegung betroffenen öffentlichen Interesses, wobei der EGMR anmerkt, dass es hier wenig Raum für Beschränkungen gebe ("Stoll gegen die Schweiz", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 69698/01)
2. Authentizität der veröffentlichten Information: Die zuständigen Behörden seien berechtigt, angemessene Maßnahmen gegen verleumderische, bösgläubige oder grundlose Anschuldigungen zu treffen ("Castells gegen Spanien", Beschwerde-Nr. 11798/85). Die veröffentlichende Person sei verpflichtet, die Richtigkeit und Verlässlichkeit der Informationen im Rahmen des Möglichen sorgfältig zu überprüfen ("Bladet Tromsø und Stensaas gegen Norwegen", Große Kammer, Beschwerde-Nr. 21980/93).
3. (das öffentliche Interesse überwiegender) Nachteil des Arbeitgebenden ("Guja gegen Moldawien"; a.a. O.).
4. Motive des oder der offenlegenden Beschäftigten: Die persönliche Beschwerde, Gegnerschaft oder die Erwartung eines Vorteils verdienten keinen starken Schutz. Der oder die Betroffene müsse bei der Offenlegung vielmehr gutgläubig und von der Wahrheit der Information, der Notwendigkeit der Offenlegung und vom Fehlen anderer, diskreterer, ihm oder ihr zugänglicher Mittel der Beseitigung des Missstandes überzeugt gewesen sein ("Guja gegen Moldawien").
5. Sorgfältige Untersuchung der Strafe und ihrer Auswirkungen ("Fuentes Bobo gegen Spanien", Beschwerde-Nr. 39293/98).
Anwendung der Grundsätze auf den Fall: umfassende Abwägung zwischen den Interessen der Arbeitgeberin und der aufdeckenden Arbeitnehmerin (Rz. 71-95)
Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Anschuldigungen von H. zwar den Ruf und die Geschäftsinteressen der V-GmbH geschädigt hätten, das starke öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in Pflegeeinrichtungen in einem staatlichen Unternehmen jedoch dessen Interessen überwiege. Deswegen sei der Eingriff in die Meinungsfreiheit von H., insbesondere ihre Freiheit, Informationen weiterzugeben, nicht gerechtfertigt. Bei der Abwägung gewichtet der EGMR die Interessen der Parteien und die "anderen diversen betroffenen Interessen". Aufseiten der Beschwerdeführerin berücksichtigt er ausdrücklich
- die Wichtigkeit der Freiheit, sich zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu äußern, und
- das Recht von Beschäftigten, Fehlverhalten und Rechtsverletzungen am Arbeitsplatz zu melden.
Aufseiten der Arbeitgeberin stellt der EGMR die Pflichten und Verantwortlichkeiten der Arbeitnehmenden in die Abwägung ein (Rz. 93):
a. Öffentliches Interesse hinsichtlich der verbreiteten Informationen
Der EGMR stellt kurz fest, dass die offengelegten Informationen über mutmaßliche Mängel in Pflegeeinrichtungen in einer alternden Gesellschaft mit steigenden Unterbringungszahlen und in Anbetracht der verletzlichen Betroffenen zweifelsfrei von öffentlichem Interesse gewesen seien. Da die Betroffenen möglicherweise nicht mehr selbst in der Lage gewesen seien, auf die Missstände aufmerksam zu machen, komme der Information eine grundlegende Bedeutung zu, um Missbrauch zu vermeiden. Dies gelte umso mehr bei einem staatseigenen Unternehmen, bei dem die Öffentlichkeit auf angemessene Gewährleistung wesentlicher Pflegeleistungen vertraue.
b. Verfügbarkeit alternativer Verbreitungswege
Der Gerichtshof kommt nach ausführlicher Prüfung zu dem Schluss, dass die Erstattung einer Strafanzeige unter den gegebenen Umständen vertretbar gewesen sei. Zwar seien die Anschuldigungen erstmals in der Strafanzeige als besonders schwerer Betrug bezeichnet worden. Die dazugehörigen Fakten und Vorwürfe habe H. jedoch schon vorher in Briefen und Hinweisen an ihre Arbeitgeberin offengelegt. Zudem sei die Anzeige nicht auf Ermittlungen wegen Betruges beschränkt gewesen.
Der EGMR verweist auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 3. Juli 2003, Aktenzeichen AZR 235/02) sowie die Richtlinien der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über den Schutz von Whistleblowern. Daraus entnimmt er, dass von einem oder einer Beschäftigten nicht verlangt werden könne, betriebsinterne Klärung der Vorwürfe zu suchen, wenn 1. er oder sie sich bei Kenntnis von einer Straftat bei deren Nichtanzeige selbst strafbar machen würde oder 2. der Erfolg einer betriebsinternen Klärung berechtigterweise nicht zu erwarten gewesen sei. So seien Beschäftigte nicht mehr an die Loyalitätspflicht gebunden, wenn sie gegenüber dem oder der Arbeitgebenden schon einmal auf eine rechtwidrige Praxis hingewiesen hätten, ohne dass er oder sie reagiert habe.
Der Gerichtshof hält diese Grundsätze hier für anwendbar und stellt fest, dass er nicht genügend Informationen dafür habe, dass eine weitere innerbetriebliche Klärung erfolgversprechend gewesen wäre. H. sei davon ausgegangen, dass ihre Beschwerden an die V-GmbH nicht zu einer merklichen Verbesserung der Situation geführt hätten. Sie habe gegenüber der V-GmbH auch angegeben, dass sie selbst bei Nichtanzeige strafrechtliche Konsequenzen fürchte.
Ferner gebe es in Deutschland keinen speziellen Rechtsbehelf für Whistleblowing.
c. Authentizität der verbreiteten Informationen
Unter Verweis auf seine Rechtsprechung und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 01.07.2001 (Aktenzeichen: BvR 2049/00) stellt der EGMR fest, dass eine fristlose Kündigung nur bei wissentlicher oder leichtfertiger Falschinformation möglich sei. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass H. wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht habe. Sie habe ihre Anschuldigungen mehrfach in Schreiben, Schriftsätzen und bei einer Anhörung vor Gericht wiederholt, wo sie sich auch auf drei weitere Aussagen von Zeuginnen und Zeugen bezog; ähnliche Vorwürfe seien auch durch den MDK vorgebracht worden.
Dass die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurden, könne H. nicht vorgeworfen werden. Dies obliege zuallererst der Staatsanwaltschaft. Es könne von einer anzeigeerstattenden Person nicht verlangt werden, den Ausgang der Ermittlungen vorauszusehen. Auch das Bundesverfassungsgericht habe festgestellt, dass einem oder einer Beschäftigten daraus kein Nachteil erwachsen dürfe. Auch die Richtlinien der Parlamentarischen Versammlung des Europarates wiesen darauf hin, dass es bei der Gutgläubigkeit darauf ankomme, dass der oder die Betroffene zum Zeitpunkt der Preisgabe vernünftige Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Informationen gehabt habe, solange er oder sie nicht aus unlauteren oder illegalen Motiven handele.
Ferner habe H. die Anschuldigungen nicht weiter ausführen und auch keine weiteren Zeuginnen und Zeugen anbringen müssen. Ihre Weigerung beeinträchtige die Authentizität ihrer Vorwürfe nicht, da sie durch Angst vor Selbstbezichtigung oder Gegenmaßnahmen der Arbeitgeberin gerechtfertigt werden könnten.
d. Gutgläubigkeit von H.
Der Gerichtshof kommt selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Verbesserung ihrer eigenen Arbeitsbedingungen ein zusätzliches Motiv gewesen sein könnte, zu dem Schluss, dass H. in gutem Glauben hinsichtlich des öffentlichen Interesses der Offenlegung und ihrer Alternativlosigkeit gehandelt hat. Der EGMR widersprach der Bundesregierung darin, dass eine Strafanzeige aus der maßgeblichen Sicht von H. wegen der Kontrollen des MDK unnötig gewesen sei. H. habe vielmehr die Erfahrung gemacht, dass frühere Beschwerden nicht zu Verbesserungen geführt hätten. Der MDK habe 2002 und 2003 auf vergleichbare Missstände hingewiesen. Seine Berichte von 2004 und 2006 erneuerten die Vorwürfe und forderten sofortiges Handeln.
Auch wenn die Schreiben von H. einen gewissen Grad an Übertreibung und Verallgemeinerung aufwiesen, sieht der Gerichtshof keinen Grund, an der Gutgläubigkeit der H. zu zweifeln, da es sich nicht um persönliche Angriffe auf die V-GmbH, sondern um eine Beschreibung schwerer Mängel gehandelt habe. Ferner stützt sich der EGMR darauf, dass H. sich nicht direkt an die Medien gewandt oder Flugblätter verteilt habe, um maximale Aufmerksamkeit zu erlangen. Vielmehr habe sie erst bei der Staatsanwaltschaft Wiederaufnahme der Ermittlungen gefordert und Rechtsrat eingeholt und erst nach der ordentlichen Kündigung Flugblätter verteilt.
e. Von der V-GmbH erlittene Nachteile
Der Gerichtshof stellt fest, dass die gegen die V-GmbH erhobenen Anschuldigungen, insbesondere die Betrugsvorwürfe, sich zweifellos nachteilig auf ihren Ruf und ihre Unternehmensinteressen ausgewirkt hätten. Dieser müsse aber aufgrund der hohen Bedeutung des öffentlichen Interesses an Mängeln in staatlichen Pflegeeinrichtungen für ältere Menschen im Einzelfall zurückstehen.
Grundsätzlich bestehe ein Interesse, den betrieblichen Erfolg und die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit von Unternehmen zugunsten der Anlegerinnen und Anleger, der Beschäftigten und der allgemeinen Wirtschaftskraft zu schützen ("Steel und Morris gegen das Vereinigte Königreich"). Dies treffe zwar auch auf staatliche Unternehmen im Pflegesektor zu. Hier sei allerdings das öffentliche Vertrauen in die Qualität wesentlicher Pflegeleistungen als entscheidendes Element für das Funktionieren und die Wirtschaftskraft des gesamten Sektors zu berücksichtigen. Deswegen habe auch das betreffende öffentliche Unternehmen selbst ein Interesse an der Aufklärung mutmaßlicher Missstände im Rahmen einer öffentlichen Debatte.
f. Schwere der Sanktion
Schließlich sei gegen H. die schärfste arbeitsrechtliche Sanktion verhängt worden. Die frist- und vorwarnungslose Kündigung sei im Anbetracht der Umstände unverhältnismäßig streng gewesen. Die Kündigung habe nicht nur negative Folgen für ihre berufliche Laufbahn, sondern könne auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeitende der V-GmbH gehabt und sie davon abgehalten haben, auf Mängel in der institutionellen Pflege hinzuweisen. Angesichts der Medienberichterstattung über den Fall könnte die Sanktion selbst auf Beschäftigte anderer Pflegeunternehmen abschreckend gewirkt und somit gesamtgesellschaftlich einen negativen Effekt gehabt haben. Dieser abschreckende Effekt müsse bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen gegenüber berechtigten Whistleblowern Berücksichtigung finden ("Kudeshkina gegen Russland", Beschwerde-Nr. 29492/05). Dies gelte besonders für die Pflege älterer Menschen, die häufig ihre Rechte nicht mehr selbst vertreten könnten, sodass die Pflegekräfte als erste auf Missstände aufmerksam würden und deshalb die Arbeitgebenden oder die Öffentlichkeit am besten informieren könnten.
3.2 Entschädigung für immaterielle Schäden
Der EGMR sprach H. ohne weitere Begründung 10.000 Euro Schmerzensgeld zu.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
"Heinisch gegen Deutschland" gilt als arbeitsrechtliche Grundsatzentscheidung des EGMR zu Whistleblowing im Gesundheitssektor. Sie ist einstimmig ergangen.
Das Urteil des EGMR ist in Anbetracht der Qualität der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit all ihrer Ausführlichkeit beispielhaft. Damit stellt es die Anforderungen für die Kündigung von Whistleblowern im öffentlichen Sektor (bislang) vollständig zusammen. Im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung entwickelt der EGMR mit diesem Urteil seine Rechtsprechung in vielen Bereichen weiter. Hierbei sind die Loyalitäts- und Verschwiegenheitspflicht sowie die Arbeitgeberinteressen mit dem öffentlichen Interesse abzuwägen. Der EGMR stützt sich besonders auf die Alternativlosigkeit der Offenlegung der Missstände – insbesondere die aufgrund vorhergehender Erfahrungen zu vermutende Erfolglosigkeit betriebsinterner Beschwerden – und die Qualität der (geprüften) Informationen, die Grundlage der Anzeige sind. Je wichtiger das öffentliche Interesse, desto eher hält der EGMR eine Strafanzeige oder eine Offenlegung von Missständen für gerechtfertigt. Dahinter kann auch ein erheblicher Nachteil für das Unternehmen zurücktreten, wenn die Motivlage von fremd- beziehungsweise allgemeinnützigen Interessen dominiert wird, die betroffene Person von der Richtigkeit der Informationen und der Alternativlosigkeit der Veröffentlichung ausgeht und dabei nicht leichtfertig handelt. Dies gilt vor allem für öffentliche Unternehmen und bei besonders verletzlichen Gruppen wie im Pflegebereich, die ihre Rechte regelmäßig nicht selbst einfordern können. Die Einstufung und Gewichtung der Interessen in Rechtsetzung und –anwendung überprüft der EGMR nahezu vollständig.
Auch wenn der Gerichtshof sich im Urteilsverlauf nicht mehr darauf bezieht, gibt er doch in seinem Normenteil (Rz. 37-40) seine völkerrechtlichen Bezugspunkte an: Resolution 1729 (2010), Empfehlung 1916 (2010) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zum Whistleblowing, Artikel 24 der Revidierten Europäischen Sozialcharta und Appendix, Artikel 5 des Übereinkommens Nr. 158 der Internationalen Arbeitsorganisation und die europäischen sowie internationalen Antikorruptionsabkommen. Auch auf diese Quellen kann vor nationalen Arbeitsgerichten zurückgegriffen werden.
Insgesamt bietet diese Entscheidung einen gut strukturierten Leitfaden, um Whistleblowing-Fälle vor nationalen und europäischen Gerichten zu führen. Im Rahmen der Rechtsbehelfe (etwa einer Nichtzulassungsbeschwerde) wäre die grundsätzliche Bedeutung des Falles als Zulässigkeitsvoraussetzung stets zu bejahen, wenn das anzugreifende Urteil von der EGMR-Rechtsprechung abweicht.
5. Follow Up
Die Restitutionsklage der Beschwerdeführerin gegen die V-GmbH zur Wiederaufnahme des bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nach § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung endete am 24. Mai 2012 in einem Vergleich. Danach wird die fristlose Kündigung von H. von Februar 2005 in eine ordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen zum 31.03.2005 umgewandelt und festgestellt, dass die weiteren Kündigungen gegenstandslos geworden sind. Die V-GmbH verpflichtete sich, an H. eine Abfindung von 90.000 Euro brutto zu zahlen und ihr ein wohlwollendes Zeugnis auszustellen.
Die abschließende Resolution des für die Durchsetzung des EGMR-Urteils zuständigen Ministerkomitees des Europarates steht noch aus. Deutschland hat am 26.11.2012 einen Abschlussbericht vorgelegt (DH-DD(2013)813). Darin führt die Bundesregierung aus, dass die ausgeurteilte Entschädigung überwiesen worden sei, und berichtet von dem Vergleich im Restitutionsverfahren.
Ferner habe die Bundesregierung den Justizministerien der Länder eine deutsche Übersetzung des Urteils zugestellt, die Übersetzung auf der Website des Bundesjustizministeriums veröffentlicht und in Fachzeitschriften veröffentlichen lassen. Das Urteil sei zudem in den öffentlich zugänglichen "Bericht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Umsetzung seiner Urteile in Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2011" aufgenommen worden. Die Bundesregierung hält weitere allgemeine Maßnahmen nicht für erforderlich, da es sich um eine unangemessene Einzelentscheidung gehandelt habe.
Entscheidung im Volltext: