Beschwerde-Nr. 15/2003
ECSR, Urteil vom 08.06.2005, Beschwerde-Nr. 15/2003, European Roma Rights Centre v. Greece
1. Sachverhalt
Im Zentrum des Falles steht die Wohnsituation von Roma in Griechenland.
Nach der griechischen Verfassung ist der "Erwerb von Wohnungen für Wohnungslose oder für schlecht Untergebrachte eine Angelegenheit besonderer staatlicher Fürsorge".
Ein Ministerialerlass von 1983 über die "sanitären Bedingungen für die organisierte Niederlassung umherziehender Personen (nomadischer Traveller)" verbietet die Niederlassung "wandernder Nomaden (Athinganoi etc.)" in ungenehmigten, nicht überprüften Lagern im ganzen Land. Der Begriff "Athinganoi" bezeichnet Roma. Ferner sieht er vor, dass sich die Romalager "außerhalb bewohnter Gebiete und in ordentlichem Abstand vom Bebauungsplan oder den letzten zusammenhängenden Häusern" befinden müssten. Der Erlass verbietet ausdrücklich Lager bei Ausgrabungsstätten, an Stränden oder in schönen Landschaften, an von Hauptstraßen einsehbaren Orten oder in "Gebieten, die die öffentliche Gesundheit betreffen könnten (Trinkwasserquellen etc.)".
Auch nach der Änderung des Ministerialerlasses 2003 blieb der Grundsatz der Genehmigungspflichtigkeit von Siedlungen "umherziehender Personen" – nunmehr ohne Verweis auf Roma – bestehen. Der Erlass erlaubte aber die Bildung vorübergehender Siedlungen unter gewissen Bedingungen. Die Auswahl der geeigneten Orte für vorübergehende Stellplätze kommt dem Generalsekretär der Region zu. Die Gemeinden haben ein Vorschlagsrecht, das sie binnen eines Monats ausüben müssen. Zuständig für die Umsetzung und Beaufsichtigung der Baumaßnahmen und Kostentragende sind die Gemeinden. Das Dekret sieht keine Sanktionen für Pflichtverstöße der Gemeindebehörden vor.
Für dauerhafte Siedlungen sieht der Erlass zur Förderung gesunder Lebensbedingungen vor, dass Zugang zu Trinkwasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Hygieneeinrichtungen, Wäschereien sowie Elektrizität gewährleistet sein müssen.
Das European Roma Rights Centre (ERRC) schätzt die Zahl der Roma in Wohnungen von unterdurchschnittlicher Qualität mit ungeeigneter Infrastruktur und begrenztem oder fehlendem Zugang zu hygienischen Grundeinrichtungen und öffentlichen Diensten trotz des geänderten Erlasses von 2003 auf mindestens 100.000 Personen. Die Siedlungen lägen häufig an unsicheren oder unhygienischen Orten außerhalb des Stadtgebietes. Viele Kommunen weigerten sich, den Regionalbehörden die entsprechenden Vorschläge zu unterbreiten oder die Baumaßnahmen auszuführen und blockierten damit das Verfahren. Die meisten, häufig EU-geförderten, Wohnungsprojekte seien zum Stillstand gekommen. Zudem seien Roma exzessiven Zwangsräumungen und Sanktionen ausgesetzt. Örtliche Behörden vertrieben Roma – oft rechtswidrig – aus ihren Siedlungen, ohne Ersatzwohnungen bereitzustellen, oder siedelten sie unter unterdurchschnittlichen Wohnbedingungen an.
2. Verfahren vor dem Europäischen Sozialausschuss (ECSR)
Das European Roma Rights Centre (ERRC) erhob 2003 Beschwerde vor dem Europäischen Sozialausschuss (ECSR) und berief sich auf das Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz aus Artikel 16 der Europäischen Sozialcharta (ESC). Roma würden im Wohnungssektor in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht diskriminiert. Die bestehenden dauerhaften Unterkünfte für sesshafte Roma hätten einen unzureichenden Wohnstandard. Daneben existierten zu weniger temporäre Unterkünfte für nicht sesshafte Roma.
Artikel 16 ESC sei verletzt, da die Wohnsituation von Roma in Griechenland nicht den Anforderungen der Charta genüge. Artikel 16 müsse im Lichte der Präambel der ESC ausgelegt werden, da sesshafte und nicht sesshafte Roma durch die Gesetzgebung und die Anwendung der Gesetze beim Zugang zu Wohnraum diskriminiert würden. Roma würden häufig Zwangsräumungen ausgesetzt. Der erste Ministerialerlass von 1983 führe dazu, dass Roma abseits der restlichen Bevölkerung angesiedelt würden. Dies bewirke Segregation wegen rassistischer Kriterien sowie soziale Ausgrenzung und führe dazu, dass Roma weiterhin unter schlechten Wohnbedingungen leben müssten. Besonders problematisch sei noch immer die Haltung der Behörden. Auch ein Bericht des ERRC und die Beschwerde in Griechenland hätten nur in wenigen Gemeinden Verbesserungen herbeigeführt.
Der geänderte Ministerialerlass von 2003 gewähre keine ausreichenden Rechtsbehelfe gegen das Verwaltungshandeln. Der Erlass werde in rassistisch diskriminierender Weise umgesetzt, da er nur auf nicht sesshafte Roma, aber nicht auf andere nicht sesshafte Menschen angewandt werde. Schließlich gebe es keine Stellplätze, die den Anforderungen des Erlasses genügten. Die Verletzung des Verbots der Errichtung eigenmächtiger Siedelungen sei dagegen mit Freiheitsentziehung bedroht. Das ERRC bringt Beispiele sesshafter und nicht sesshafter Roma an, die strafrechtlich verfolgt worden seien, weil sie ungeeignete Orte ohne angemessene Infrastruktur und Hygienebedingungen besiedelt hatten.
Die griechische Regierung, an die sich die Beschwerde richtete, hält diese für unbegründet, da Griechenland seine Vorschriften geändert und Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Roma ergriffen habe. Insbesondere habe die Regierung 2001 einen Integrierten Aktionsplan zur Eingliederung der Roma für eine Dauer von acht Jahren beschlossen. Eine der beiden Prioritäten sei die Wohnraumsituation. Der Aktionsplan sehe die Errichtung neuer und die Verbesserung bestehender Siedlungen vor. Zudem habe die Regierung ein Darlehensprogramm zum Häuserbau für Romafamilien aufgelegt. Knapp 5.000 Anträge seien bereits bewilligt worden. Die Regierung unterstütze Gemeinden finanziell bei der Verbesserung der Lebensbedingungen in Romasiedlungen, beispielsweise durch Errichtung von Fertighäusern. Die vom ERRC angeführten Beispiele beträfen nur Übergangssiedlungen und seien nicht repräsentativ; die Bedingungen in diesen Siedlungen würden verbessert. Die Regierung habe Maßnahmen gegen unkooperative Kommunen übernommen. Der neue Ministerialerlass von 2003 beziehe sich auf alle nicht sesshaften Personen. Der Erlass hebe Beschränkungen bei der Ortswahl auf und verpflichte die Kommunen, die Siedlungen an die Elektrizitätsversorgung sowie Abwasser- und Abfallentsorgung anzubinden. Die Regierung räumt ein, dass der Aktionsplan nur für die Errichtung dauerhafter Siedlungen für nicht sesshafte Personen gilt.
Roma würden wegen der staatlichen Schutzpflichten gegenüber Eigentümerinnen und Eigentümern von unrechtmäßig besetztem Grund vertrieben. Die Zwangsräumungen folgten einem geregelten Verfahren. Die Betroffenen könnten Rechtsschutz gegen die Räumung einlegen und gegen die Entscheidung Berufung einlegen. Die Räumung könne bis zur endgültigen Entscheidung ausgesetzt werden; es gebe Prozesskostenhilfe für Geringverdienende. Ersatzunterkünfte sollten gestellt werden.
3. Entscheidung des ESCR (Rz. 17 ff.)
Der Sozialausschuss stellt fest, dass Griechenland Artikel 16 der Europäischen Sozialcharta (ESC) aus drei Gründen verletzt hat: Die dauerhaften Unterkünfte für Roma seien unzureichend, es fehle an vorübergehenden Unterkünften für nicht sesshafte Roma und die systematischen Zwangsräumungen gegen Roma, die illegal Land besetzten, genügten den Anforderungen der Charta nicht.
3.1 Grundsätzliche Erwägungen zum Anwendungsbereich des Artikels 16 ESC und des Diskriminierungsverbotes der Präambel in Hinblick auf Roma (Rz. 19 ff.)
Der Ausschuss betont, dass es eines der Ziele der von der ESC geschützten sozialen Rechte sei, Solidarität auszudrücken und soziale Inklusion zu fördern. Deshalb müssten Staaten Unterschiede anerkennen und sicherstellen, dass die Sozialsysteme soziale Ausgrenzung nicht fortführten oder verstärkten. Dafür stehe das Diskriminierungsverbot der Präambel, das mit den Rechten der Charta zusammenwirke und damit auch integraler Teil von Artikel 16 ESC sei. Der Ausschuss zitiert aus dem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) im Fall "Connors gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 66746/01). Der EGMR hatte dort festgestellt, dass Staaten wegen der Verletzlichkeit der Minderheit der Sinti und Roma verpflichtet seien, ihre Bedürfnisse und ihre Lebensweise bei der Rechtsetzung und Rechtsanwendung besonders zu berücksichtigen und ihren Lebensstil zu fördern.
Der Ausschuss bestätigt seine Entscheidungen "International Commission of Jurists gegen Portugal" (Mitteilung Nr. 1/1998) und "Autism-Europe gegen Frankreich" (Mitteilung Nr. 13/2002) oder zur Entscheidung selbst]. Danach müssten Staaten zur Umsetzung der Charta nicht nur Regelungen schaffen, sondern auch praktische Maßnahmen vornehmen. Ist die Umsetzung eines Rechts außergewöhnlich komplex und besonders teuer, müsse der Staat jedenfalls geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Ziele der Charta in einem angemessenen Zeitraum, mit messbarem Fortschritt und unter Verwendung aller verfügbaren Ressourcen zu verwirklichen. Dabei müssten Staaten besonders die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf Gruppen mit erhöhter Verletzlichkeit beachten.
Auch wenn es möglich sei, soziale Rechte an gewisse Bedingungen zu knüpfen, dürften diese die Rechte nicht faktisch in der Mehrheit der Fälle ausschließen.
Die Notwendigkeit, Ausgrenzung zu vermeiden, beziehe sich auf sesshafte und nicht sesshafte Roma gleichermaßen. Dabei sei das Recht auf Wohnung gerade für Familien von zentraler Bedeutung, da es die Ausübung vieler anderer – bürgerlich-politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller – Rechte ermögliche. Nach Artikel 16 ESC seien die Staaten verpflichtet,
1. Familien angemessene Wohnungen bereitzustellen,
2. sicherzustellen, dass bestehende Wohnungen einen adäquaten Standard und Zugang zur Grundversorgung (Elektrizität, Heizung) haben,
3. die Bedürfnisse von Familien in der Wohnraumpolitik zu berücksichtigen.
Eine "angemessene Wohnung" müsse gemessen an der Familienzusammensetzung auch eine passende Größe haben. Artikel 16 ESC erfasse zudem Schutz vor rechtswidriger Räumung. Die Umsetzung von Artikel 16 ESC erfordere in Hinblick auf nomadisch lebende Gruppen wie nicht sesshafte Roma die Bereitstellung angemessener Stellplätze nach dem Maßstab von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Sammlung von Daten (Rz. 27 f.)
Der Ausschuss weist unter der Überschrift "Sammlung von Daten" auf die Verpflichtung der Staaten hin, Lösungen für Probleme diskriminierter oder potenziell diskriminierter Gruppen zu finden. Dies gelte unabhängig davon, ob die staatliche Verfassung verbiete, persönliche Daten über die Größe dieser Gruppe zu erheben. Verfüge der Staat nicht über solche Daten, müsse er andere Wege finden, um das Ausmaß des Problems zu erfassen und Lösungen zu entwickeln.
Griechenland habe in früheren Schriftsätzen im Übrigen behauptet, dass es nicht über genaue Daten über die Zahl der Roma verfüge. Der Ausschuss stellt aber fest, dass es offizielle und halboffizielle Schätzungen darüber gebe und dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass der Aktionsplan ohne Schätzungen der Zahl der Begünstigten eines solchen Programms entwickelt worden sei. Zudem enthalte der letzte Schriftsatz solche Angaben.
Staatenverpflichtungen (Rz. 29)
Der Ausschuss weist unter dem Titel "Staatenverpflichtungen" abschließend darauf hin, dass Mitgliedstaaten auf der internationalen Ebene verantwortlich für die Umsetzung offizieller Strategien sind. Dies gelte unabhängig davon, ob nach nationalem Recht Regionalbehörden, Gewerkschaften oder Berufsorganisationen für die Ausübung bestimmter Funktionen zuständig sind.
3.2 Verletzung des Rechts der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz durch die unzureichenden dauerhaften Unterkünfte (Artikel 16 ESC; Rz. 40-43)
Gemessen an den gemeinsamen Standards von Artikel 16 ESC und Artikel 8 EMRK im Hinblick auf nicht sesshafte Bevölkerungsgruppen liege eine Verletzung vor, da Griechenland nicht ausreichend angemessene Dauerstellplätze beziehungsweise angemessene Unterkünfte für Romafamilien zur Verfügung stelle.
Der Ausschuss stellte fest, dass eine übergroße Zahl von Roma unter Bedingungen lebten, die den Mindeststandard unterschritten. Auch wenn der Staat nicht in allen Fällen einen Erfolg, sondern teilweise nur den angemessenen Einsatz seiner Mittel schulde, liege eine Verletzung von Artikel 16 ESC vor. Der Ausschuss stützt sich auf die Angaben des ERRC sowie auf Stellungnahmen und Berichte des UN-Fachausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, des UN-Anti-Folterausschusses und der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz. Diese habe Griechenland nicht überzeugend widerlegt und auch keine abweichenden Schätzungen vorgelegt. Gemessen daran befindet der Ausschuss, dass Griechenland keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen habe, um die Lebensbedingungen der Roma zu verbessern und die Anforderungen der Charta zu erfüllen. Insbesondere gebe es nicht genügend Zwangsmaßnahmen oder Sanktionen gegen örtliche Behörden.
3.3 Mangel an vorübergehenden Unterkünften für nicht sesshafte Roma (Rz. 46-47)
Der Sozialausschuss stellt fest, dass auch der Mangel an vorübergehenden Unterkünften für nicht sesshafte Roma Artikel 16 ESC verletze. Griechenland habe seine Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungspflicht verletzt. Der griechische Erlass sehe sehr enge Bedingungen für vorübergehende Lager und für deren Grundversorgung vor (Rechtsetzungspflicht). Daneben zeigten die örtlichen Behörden zu wenig Sorgfalt bei der Auswahl geeigneter Plätze und verzögerten die notwendigen Arbeiten zur Errichtung neuer Lagerplätze (Rechtsanwendungspflicht).
3.4 Zwangsräumungen und Sanktionen (Rz. 50-51)
Schließlich verstoße die systematische Zwangsräumung illegal bewohnter Grundstücke gegen Artikel 16 ESC in Verbindung mit der Präambel. Der Ausschuss erkennt an, dass unrechtmäßig besetzte Unterkünfte grundsätzlich geräumt werden dürften. Die Kriterien für ein "unrechtmäßiges Besetzen" dürften aber nicht unangemessen weit sein. Zudem müssten Verfahrensregeln geschaffen und respektiert werden, die die Betroffenen hinreichend schützten.
Diese Voraussetzungen habe Griechenland nicht erfüllt. Die Regierung habe keine verwendbaren Informationen über die Räumungen vorgelegt. Sie habe die Angaben des ERRC zu kollektiven Zwangsräumungen bei sesshaften und nicht sesshaften Roma, zu fehlender Ersatzunterbringung und zur Beschädigung des Eigentums der Roma nicht widerlegt.
3.5 Antrag auf Erstattung von Auslagen (Rz. 54 ff.)
Das ERRC hatte auch die Erstattung von Kosten und Auslagen beantragt. Dies wies die Regierung zurück, weil die ESC im Gegensatz zur EMRK keine entsprechende Vorschrift enthalte. Der Ausschuss hielt es für billig, Griechenland aufzuerlegen, 2.000 Euro als Kompensation für die angefallenen Auslagen an das ERRC zu zahlen. Er übergab die Frage dem Ministerkomitee zur Entscheidung und riet dazu, eine solche Zahlung zu empfehlen. Es sei logische Folge der quasi-juristischen Natur des Verfahrens, dem Staat beim Obsiegen der beschwerdeführenden Organisation einen Teil der Kosten aufzuerlegen. Dies habe das Ministerkomitee in seiner Resolution zur Entscheidung "International Commission of Jurists gegen Portugal" im Grundsatz stillschweigend anerkannt.
3.6 Sondervotum
Ausschussmitglied Aliprantis schloss sich zwar der Mehrheitsmeinung an, präsentierte aber eine abweichende Begründung. Nach seiner Auffassung gewährleistet Artikel 16 ESC kein gesondertes Recht auf Wohnung, sondern verpflichte den Staat, das Familienleben durch bestimmte Maßnahmen – auch im Bereich Wohnungen – zu schützen. Gemessen daran genügten die griechischen Maßnahmen grundsätzlich den Anforderungen der Charta. Aus den folgenden drei Gründen würden jedoch Traveller nicht ausreichend geschützt: Erstens seien die Regionalbehörden nicht verpflichtet, Vorschläge der Gemeindebehörden für die vorübergehende Unterbringung einzufordern, wodurch es zu Verzögerungen kommen. Zweitens sehe das Dekret keine ausreichenden Strafen für lokale Amtsinhaberinnen und –inhaber vor, die ihren Verpflichtungen bei der Errichtung von Stellplätzen nicht nachkommen. Drittens verstoße die Möglichkeit einer (Zwangs-)Räumung ohne Angebot einer Ersatzunterkunft gegen die Charta.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Im Fall "ERRC gegen Griechenland" entschied der ESCR erstmals zum Recht auf Wohnung. Der Beschwerdemechanismus des Europäischen Sozialausschusses unterscheidet sich von den anderen menschenrechtlichen Spruchkörpern, da er kein Individual- sondern ein Kollektivbeschwerdeverfahren vorsieht. Vor diesem Ausschuss sind gemäß Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden (1995) nur die folgenden Organisationen, aber keine Einzelpersonen beschwerdeberechtigt:
"1. (…) in Artikel 27 Absatz 2 der Charta bezeichnet(e) international(e) Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen;
2. (…) ander(e) international(e) nichtstaatlich(e) Organisationen, die beratenden Status beim Europarat haben und vom Regierungsausschuss in eine zu diesem Zweck angelegte Liste eingetragen sind;
3. (…) repräsentativ(e) nationale(e) Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen unter der Hoheitsgewalt der Vertragspartei, gegen die sich die Beschwerde richtet."
Nach Artikel 3 des Protokolls müssen sie in dem von der Beschwerde betroffenen Bereich besonders fachkundig sein.
Bemerkenswert ist die Art, wie der Ausschuss eine Brücke zwischen den Sozialrechten der Charta und dem Diskriminierungsverbot schlägt. Wegweisend ist dabei seine Feststellung, dass Staaten die Pflicht haben, Unterschiede anzuerkennen und soziale Ausgrenzung benachteiligter Gruppen zu verringern. Diese Grundsätze formt er in Bezug auf das Recht auf Wohnung für Roma in der zusammengefassten Entscheidung aus. Im Bereich indirekter Diskriminierung scheint auch der ESCR (wie der EGMR) von einer Beweislastumkehr zulasten des Staates auszugehen: Legt die beschwerdeführende Organisation Nachweise vor, die die strukturelle Ungleichbehandlung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe beweisen, muss die Regierung die Ungleichbehandlung rechtfertigen. Als Nachweis für Ungleichbehandlungen können nach dieser Entscheidung auch Berichte internationaler und europäischer Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen sowie repräsentative Statistiken und Fallbeispiele dienen.
Diese Rechtsprechung setzt der ESCR in seinen späteren Fällen gerade bei der Gruppe der Roma und Traveller fort; sie lässt sich aber durchaus auch auf andere marginalisierte gesellschaftliche Gruppen übertragen. Die Rechtsprechung des Ausschusses zur Berücksichtigung der Bedürfnisse und Belange marginalisierter Gruppen kann deshalb auch auf nationaler Ebene herangezogen werden, um zu verdeutlichen, wie Behörden mit gesellschaftlich ausgegrenzten oder benachteiligten Gruppen in der Praxis umgehen sollten oder müssen.
Deutsche Rechtsanwendende sollten bedenken, dass Deutschland weder das Zusatzprotokoll zur ESC noch die revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert hat und deshalb dem Kollektivbeschwerdeverfahren des Ausschusses nicht unterworfen ist. Es ist also nicht möglich, diskriminierende Praktiken in Deutschland vor dem Ausschuss zu rügen. Die Argumente des ESCR im Bereich sozialer Rechte können jedoch aufgenommen und vor deutschen oder europäischen Gerichten als relevante Praxis angeführt werden.
5. Follow Up
Das Ministerkomitee erließ am 8. Juni 2004 seine Resolution CM/ResChS(2005)11. Griechenland habe Maßnahmen zur Verbesserung der Lage unternommen. Unter anderem seien das Programm über Hausbaudarlehen für Roma ausgeweitet und eine Kommission für die soziale Integration der Roma eingerichtet worden.
Das Komitee schloss sich dem Votum des Ausschusses zur Kostenerstattung nicht an. Es verwies zur weiteren Überwachung der Situation auf das Staatenberichtsverfahren und beschäftigte sich nicht weiter mit den (andauernden) Zwangsräumungen.
Entscheidung im Volltext: