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Aktenzeichen 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11

BVerfG, Urteil vom 18.07.2012, Aktenzeichen 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Asylbewerberleistungsgesetz

1. Sachverhalt (Rz. 60 ff.)

1993 trat in Deutschland das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Kraft. Es legte einen verringerten Mindestunterhalt für bestimmte ausländische Staatsangehörige in Deutschland fest. Das AsylbLG folgte der damaligen einwanderungspolitischen Strategie, die Zahl der Flüchtlinge und Zuwandernden zu begrenzen und die Kosten für ihre Versorgung zu verringern. Das Gesetz sieht vorrangig Sachleistungen vor, die unter bestimmten Voraussetzungen durch Geldleistungen ersetzt werden können. Die entsprechenden Beträge gibt § 3 Absatz 2 AsylbLG vor. Danach stehen – unverändert seit 1993 – dem Haushaltsvorstand 360 DM (§ 3 Absatz 2 Nr. 1), für Haushaltsangehörige unter sieben Jahren 220 DM (§ 3 Absatz 2 Nr. 2) und für Haushaltsangehörige über sieben Jahren 310 DM (§ 3 Absatz 2 Nr. 3) als Grundleistungen zur Existenzsicherung zu. Dazu kommen ein Betrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse von 40 DM für Unter-14-Jährige und 80 DM für Über-14-Jährige (§ 3 Absatz 1 AsylbLG). Ferner sind besondere Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt (§ 4 AsylbLG) und bei besonderen Umständen (§ 6 AsylbLG) vorgesehen.
Von der in § 3 Absatz 3 AsylbLG enthaltenen Anpassungsklausel zur Angleichung der Bedarfe an die aktuellen Lebenshaltungskosten machte die Bundesregierung keinen Gebrauch. Das Gesetz wird heute auf Asylsuchende, Kriegsflüchtlinge, andere Menschen mit Aufenthaltserlaubnis, Geduldete, Ausreisepflichtige sowie deren Angehörige angewendet. 2009 waren dies nahezu 150.000 Menschen, von denen mehr als zwei Drittel sich seit mindestens sechs Jahren in Deutschland aufhielten.

Dem Verfahren lagen zwei Ausgangsverfahren zugrunde:

1. Der kurdische Kläger des Ausgangsverfahrens 1 BvL 10/10 wird seit seiner Einreise 2003 geduldet. Er wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft und erhält monatliche Grundleistungen in Höhe von 224,97 Euro. Davon sind 15,34 Euro für Stromkosten abzuziehen. Das Sozialgericht wies seine Klage auf höhere Leistungen für 2009 ab.
2. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens 1 BvL 2/11 wurde im Jahr 2000 mit liberianischer Staatsangehörigkeit geboren und lebt mit ihrer Mutter in einer privaten Unterkunft. Seit 2010 ist sie deutsche Staatsangehörige. 2007 erhielt sie monatliche Grundleistungen in Höhe von zunächst 132,93, später von 178,95 Euro. Sie klagte auf höhere Leistungen für 2007. Die beklagte Stadt trug vor, der Gesetzgeber dürfe bei der Höhe der Leistung an Geduldete berücksichtigen, dass es sich um im Grunde ausreisepflichtige Personen handele, für die er keine Verantwortung übernehmen wolle. Das Sozialgericht wies die Klage ab.
 
Der Kläger und die Klägerin erhoben jeweils Berufung zum Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Dieses setzte die Verfahren aus und erließ einen Vorlagebeschluss zum Bundesverfassungsgericht, mit dem um Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der relevanten Rechtsnormen gebeten wird (sogenannte konkrete Normenkontrolle).

2. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat dem Bundesverfassungsgericht im Wege der konkreten Normenkontrolle die Frage vorgelegt, ob § 3 Absatz 2 Satz 2 Nummern 1 bis 3 und § 3 Absatz 2 Satz 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 4 Nummer 1 beziehungsweise 2 mit dem Grundgesetz vereinbar sind (Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse vom 26.07.2010 – L 20 AY 13/09 – und vom 22.11.2010 – L 20 AY 1/09).
Das Vorlagegericht, das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, hält das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 GG für verletzt. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (BVerfGE 125, 175; Hartz IV) seien die gewährten Grundleistungen evident unzureichend. Die Leistungen des Klägers und der Klägerin lägen um mehr als 31 % unter dem nach dem Zweiten und Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB XII) ermittelten Existenzminimum. Dies lasse sich auch nicht mit der besonderen Situation von Asylsuchenden rechtfertigen. Die Sondervorschriften der §§ 4 und 6 AsylbLG könnten nicht erweiternd ausgelegt werden, um die mangelhaften Grundleistungen auszugleichen (Rz. 63 ff., 69). Eine verfassungskonforme Auslegung des Asylbewerberleistungsgesetzes sei nicht möglich, da der Wortlaut zwingend bestimmte Beträge vorsehe. Eine Erhöhung dieser Beträge sei nur durch Verordnung möglich (Rz. 65).
Jedenfalls sei der Bedarf nicht verfassungsgemäß bestimmt worden. Auch wenn die Klägerin ab ihrem 8. Lebensjahr nur 7,4 % weniger als deutsche Kinder ihres Alters erhalten habe, sei die schlichte Schätzung des Bedarfs eines Kindes auf 60 % der Regelleistung für alleinstehende Erwachsene auch im Sozialgesetzbruch unvertretbar (Rz. 69).
 
Die Bundesregierung führt als Beschwerdegegnerin über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus, dass sie nach dem Hartz-IV-Urteil des BVerfG auch die Leistungssätze im Asylbewerberleistungsgesetz prüfe und diese nach der Neufestsetzung der Regelbedarfe im allgemeinen Fürsorgerecht anpassen werde. Sie werde auch untersuchen, welcher Anpassungsmechanismus in Betracht komme (Rz. 72).

Stellungnahmen und Drittinterventionen (Rz. 71 ff.)
Zu den dem BVerfG vorgelegten Fragen (bzw. den Vorlagebeschlüssen) haben im Rahmen von Drittinterventionen der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), PRO ASYL e. V., Amnesty International (Sektion der Bundesrepublik Deutschland e. V.), der Flüchtlingsrat Berlin e. V., der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), das Kommissariat der deutschen Bischöfe, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. und das Deutsche Institut für Menschenrechte Stellungnahmen abgegeben.

Der für Streitigkeiten in Angelegenheiten des Asylbewerberleistungsgesetzes zuständige 8. Senat des Bundessozialgerichts hält die Normenkontrolle für unbegründet (Rz. 73). Der Gesetzgeber habe einen sozialpolitischen Beurteilungsspielraum, den Lebensbedarf von Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatuts anders zu decken. Die Regelungen des AsylbLG ließen sich insgesamt verfassungskonform auslegen und anwenden. So sei es möglich, ergänzend Geld- oder Sachleistungen zuzusprechen oder die Leistungen gestaffelt nach der Aufenthaltsdauer durch sonstige Leistungen nach § 6 AsylbLG aufzustocken.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte betont, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mangels transparenter Bedarfsermittlung und regelmäßiger Überprüfung der Grundleistungen verletzt sei. Daneben sieht es einen Verstoß gegen Artikel 9 des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) sowie gegen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC), insbesondere gegen die Rechte von Flüchtlingskindern gemäß Artikel 22 Absatz 1 CRC (Rz. 75).

3. Entscheidung des BVerfG (Rz. 87 ff.)

Das Gericht stellt die Unvereinbarkeit der betreffenden Vorschriften des AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fest (Rz. 87). Die Höhe der Geldleistungen sei evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen nicht angepasst worden sei. Zudem sei die Berechnung der Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar noch realitätsgerecht.

3.1 Grundsätze des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 GG


Schutzbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach dem Grundgesetz (Rz. 88-103)
Das BVerfG bestätigt zunächst seine Entscheidung im sogenannten "Hartz-IV-Urteil" (BVerfGE 125, 175), wonach das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erfordere, dass die Höhe der Leistungen nicht evident unzureichend ist und dass sie realitätsgerecht bestimmt wird.
Das Gericht betont, dass Artikel 1 Absatz 1 GG einen menschenrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthalte. Dieser gelte für alle Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Maßstab für die Ermittlung des Existenzminimums seien einzig und allein die (aktuellen) Lebensumstände in Deutschland. Deswegen sei immer der konkrete und reale Bedarf maßgeblich. Eine pauschale Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus scheide deshalb aus.
Das Bundesverfassungsgericht leitet das Recht auf Gewährleistung des Existenzminimums ergänzend zum Grundgesetz auch europäischen und internationalen Rechtsquellen ab (Rz. 94):

"e) Im Übrigen ist der Gesetzgeber durch weitere Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus völkerrechtlichen Verpflichtungen ergeben. Dazu gehört die Richtlinie 2003/9/EG des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. EU Nr. L 31 vom 27. Januar 2003, S. 18). Sie gibt in ihrem Art. 10 Abs. 2 vor, Kindern spätestens nach drei Monaten Schulunterricht und nach zwölf Monaten die Aufnahme in das allgemeine Schulsystem zu gewähren. Zu den Regeln über das Existenzminimum, die in Deutschland gelten, gehört auch der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPwskR, in Kraft getreten am 3. Januar 1976, UNTS Bd. 993, S. 3; BGBl II 1976, S. 428), dem der Deutsche Bundestag mit Gesetz vom 23. November 1973 (BGBl II S. 1569) zugestimmt hat. Der Pakt statuiert in Art. 9 ein Recht auf Soziale Sicherheit und in Art. 15 Abs. 1 Buchstabe a das Menschenrecht auf Teilnahme am kulturellen Leben. Zudem gilt insoweit das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK; UNTS Bd. 1577, S. 3; BGBl II 1992, S. 122, in Kraft getreten am 2. September 1990, für die Bundesrepublik Deutschland am 5. April 1992, BGBl II S. 990), das in Deutschland seit 15. Juli 2010 vorbehaltlos gilt (BGBl II 2011, S. 600). Art. 3 KRK verpflichtet dazu, bei allen Regelungen das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen, während Art. 22 Abs. 1 KRK insbesondere für Kinder, die einen Flüchtlingsstatus nach nationalem oder internationalem (Asyl-)Recht begehren, bestimmt, dass diese in der Ausübung ihrer Rechte nicht benachteiligt werden dürfen, und schließlich Art. 28 KRK ein Menschenrecht von Kindern auf Bildung statuiert."

Gewährleistungsinhalt
Nach dem BVerfG umfasst das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde nach drei Elemente, die einheitlich zu sichern sind:

1. die körperliche Existenz des Menschen
2. die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen
3. ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.

Die Höhe des Anspruchs sei nach dem Sozialstaatsprinzips aufgrund "der tatsächlichen existenzsichernden Bedarfe zeit- und realitätsgerecht zu bestimmen".

Festlegung nicht evident unzureichender Leistungen durch ein transparentes, sach- und realitätsgerechtes Verfahren (Rz. 95 ff.)
Das Gericht stellt fest, dass die Methode der Bedarfsermittlung im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liege. Das Grundgesetz schreibe lediglich ein transparentes, sach- und realitätsgerechtes Verfahren vor. Am Ende des Prozesses müssten als Ergebnis nicht evident unzureichende Leistungen stehen. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, die Leistungen und ihre Höhe fortwährend zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus
Das Gericht verdeutlicht, dass der Gesetzgeber für unterschiedliche Personengruppen abweichende Methoden verwenden könne. Dies müsse er aber rechtfertigen. Das BVerfG führe hinsichtlich der Methode nur eine Evidenzkontrolle durch. Daneben kontrolliere es, ob die Leistungen "aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu rechtfertigen sind". Demnach könne der Gesetzgeber nur nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren, wenn er nachweise, dass das nur vorübergehende Aufenthaltsrecht konkret zu einem geringeren Bedarf führe. Will der Gesetzgeber Menschen mit kurzem Aufenthalt weniger Leistungen erbringen, müsse er die betroffene Gruppe "so definieren, dass sie hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich kurzfristig in Deutschland aufhalten". Maßgeblich sei jedoch immer die tatsächliche Dauer des Aufenthalts.

3.2 Verletzung der Grundsätze durch § 3 AsylbLG (Rz. 106-122)

Das BVerfG stellt fest, dass die Geldleistungen des § 3 AsylbLG evident unzureichend sind (a.) und dass das Bedarfsermittlungsverfahren den Anforderungen nicht entspricht (b.).

a. Evident unzureichende Leistungen (Rz. 107 ff.)
Die seit 1993 trotz des vorhandenen Anpassungsmechanismus‘ nicht veränderten Geldleistungen seien evident unzureichend. Zum Beleg führt das BVerfG zum einen an, dass das Preisniveau in Deutschland seitdem um mehr als 30 % gestiegen sei. Diese Zahlen seien der Bundesregierung seit spätestens 2007 auch bekannt. Nach den Gesetzesmaterialien habe der Gesetzgeber schon 1993 aus politischen Gründen an die untere Grenze des Existenzminimums gehen wollen. Selbst bei bereinigter Berechnung liege die Leistung für einen Haushaltsvorstand nach dem AsylbLG ein Drittel unter dem nach den SGB XII und II definierten – kürzlich angepassten – Existenzminimum.

b. Mangelhafte Bedarfsbemessung (Rz. 116 ff.)
Ferner verstoße die Bedarfsbemessung gegen das Grundgesetz. Der Gesetzgeber habe nach den Gesetzesmaterialien schon 1993 eine bloße Schätzung ohne verlässliche Daten vorgenommen und könne auch jetzt keine nachvollziehbaren Berechnungen für den Regelbedarf und für besondere kinder- und altersspezifische Bedarfe nachweisen.
Das BVerfG bemängelt auch die Begründung der unterschiedlichen Behandlung mit der kurzen Aufenthaltsdauer. Es fehlten schon in den Gesetzesmaterialien Belege dafür, dass sich die Berechtigten typischerweise nur kurz in Deutschland aufhalten. Auch dass der kurze Aufenthalt eine geringere Leistungshöhe rechtfertige, habe der Gesetzgeber nicht belegt. Im Übrigen treffe die Bezeichnung "Kurzaufenthalt" nicht zu. Aufgrund der vielen Erweiterungen des Anwendungsbereiches erfasse das Gesetz Menschen mit sehr unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, die durchschnittlich seit mehr als sechs Jahren in Deutschland lebten.
Abschließend stellt das BVerfG fest, dass Deutschland selbst bei kurzem Aufenthalt alle Dimensionen des Rechts gewährleisten müsse, wozu während des gesamten Aufenthalts, von der Einreise an, auch das soziokulturelle Existenzminimum gehöre. Das politische Ziel, Zuwanderung durch niedrige Leistungen zu beschränken, rechtfertige nicht das Unterschreiten des körperlichen und soziokulturellen Existenzminimums: Die Menschenwürde dürfe nicht durch Migrationspolitik relativiert werden (Rz. 120-122).

3.3 Weitere Regelungen

Das BVerfG hat den Gesetzgeber zur unverzüglichen Neuregelung verpflichtet. Wegen der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen hat es als Übergangsregelung beschlossen, dass Geldleistungen – für nicht bestandskräftige Leistungen ab 2011 rückwirkend – ab Januar 2011 nach den im Urteil einzeln aufgeführten Grundlagen der Regelungen des SGB XII und II zu berechnen sind. Eine rückwirkende Überprüfung bestandskräftiger Bescheide schließt das BVerfG aus.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

Das BVerfG verfolgt in dieser Entscheidung einen (seltenen) menschenrechtlichen Ansatz. Auch wenn es seine Argumentation vor allem auf das Grundgesetz stützt, macht das Gericht kenntlich, dass es bei der Auslegung internationale und unionsrechtliche Standards zu beachten hat. Hier verweist es, wenn auch ohne größere Erläuterungen, insbesondere auf die Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention und auf das Recht auf Bildung. Wichtig ist besonders die Erwähnung des UN-Sozialpakts, insbesondere des Rechts auf soziale Sicherheit, da sich Deutschland bislang weder auf internationaler noch auf Europaratsebene der Rechtsprechung der zuständigen Ausschüsse unterworfen hat. Damit bringt das BVerfG erneut nach seiner Hartz-IV-Entscheidung soziale Rechte in den Anwendungsbereich des Grundgesetzes über die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip. Somit macht es deutlich, dass es in schwerwiegenden Fällen auch über soziale Menschenrechte entscheidet. Dieser Weg könnte von Rechtsanwenderinnen und -anwendern weiter getestet werden.
Auch rechtspolitisch ist das Urteil mit seiner deutlichen Sprache bedeutungsvoll. Das BVerfG erläutert in aller Klarheit, dass willkürliche Leistungsfestsetzung mit Migrationspolitik nicht zu rechtfertigen ist und damit eine verbotene Diskriminierung darstellt. Es erneuert die Forderung an den Gesetzgeber, klare Bemessungsgrundlagen für Sozialleistungen vorzusehen, diese zu überprüfen und an die aktuelle, tatsächliche Bedarfslage anzupassen. Es macht deutlich, dass der Aufenthaltsstatus allein kein tauglicher Rechtfertigungsgrund ist, sondern dass der Gesetzgeber a) enge Personenkategorien mit empirisch festgestelltem real niedrigerem Bedarf definieren muss und b) seine damit verbundenen Annahmen an die Aufenthaltsdauer immer wieder überprüfen muss. Will der Gesetzgeber also weiter nach der Aufenthaltsdauer differenzieren, muss er genau feststellen, welche Menschen sich regelmäßig kurzfristig in Deutschland aufhalten, und daran orientiert im Einzelfall eine Prognose anstellen.

Zur Vertiefung: Dr. Claudia Mahler, "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind einklagbar! UN-Sozialpakt hat mehr als Appell-Funktion – Bundesverfassungsgericht wendet ihn an", in: Anwaltsblatt 4/2013, S. 245-248.

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