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LG Kiel, 05.07.2022, Az. 13 Ks 598 Js 62014/21

LG Kiel, Urteil vom 05.07.2022, Az. 13 Ks 598 Js 62014/21

Orientierungssätze

I. Das Landgericht (LG) Kiel verurteilt den Angeklagten wegen versuchten heimtückischen Mordes (§§ 211 Abs. 1 und 2 Var. 5, 22, 23 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB)) und gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Wegen einer Borderline-Störung und einer starken Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt geht das Schwurgericht von verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) aus. Der Angeklagte hatte seine Ex-Partnerin nach einer Trennung in Tötungsabsicht mit einem Messer attackiert. Dabei verwundete er sie schwer. Nachdem er von einem*einer Passant*in von der Vollendung der Tat abgehalten worden war, stach er sich das Messer mehrmals in die eigene Brust, um sich zu suizidieren.

II. Niedrige Beweggründe gem. § 211 Abs. 2 Var. 4 StGB stellt das Gericht nicht fest. Zwar lägen Eifersucht und Wut als Beweggründe nahe. Die im Urteil mitgeteilten Chatprotokolle und Notizen des Angeklagten offenbarten aber eine „ambivalente Gedankenwelt“. Ersichtlich seien auch „Gefühle der Verzweiflung ob des Endes der Beziehung präsent gewesen“. Für „Verzweiflung und Perspektivlosigkeit“ des Angeklagten spreche auch der nach der Tat unternommene Suizidversuch. Schließlich sei es ein Indiz für diese Motivlage, wenn die unter anderem tatauslösende Trennung von der Geschädigten ausgehe. Demnach sei nicht auszuschließen, dass die Verzweiflung und Perspektivlosigkeit „die Gemütslage des Angeklagten im Zeitpunkt der Tatbegehung in einer Weise mitbestimmt haben, die es ausschließt, eine von dem Angeklagten empfundene Wut oder Eifersucht als handlungsleitende Motive anzusehen“.

III. Das Urteil ist rechtskräftig: Mit Beschluss vom 06.12.2022 (Az. 5 StR 479/22) verwirft der fünfte Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des LG Kiel als unbegründet. In einem Obiter Dictum führt das Gericht in Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung aus, dass eine opferseitige Trennung vor der Tat „für sich gesehen kein gegen die Annahme niedriger Beweggründe sprechendes Indiz“ darstelle. Außerdem sei es bei der Motivbewertung zu berücksichtigen, wenn „der Täter die Trennung selbst maßgeblich zu verantworten hat“.

IV. Auf den Adhäsionsantrag der betroffenen Nebenklägerin verurteilte das LG Kiel den Angeklagten unter anderem zur Zahlung von 10.000 Euro.

V. §§ 211 Abs. 1 und Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 21, 22, 23, 49, 52, 64, 74 StGB

VI. In der Datenbank findet sich neben der entsprechenden BGH-Entscheidung auch eine Entscheidungsbesprechung von Florian Rebmann, akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie, Straf- und Sanktionenrecht an der Universität Tübingen (Professor Dr. Jörg Kinzig), der unter anderem auch im Forschungsprojekt „Femizide in Deutschland - Eine empirisch-kriminologische Untersuchung zur Tötung an Frauen“ (2022-2025) arbeitet.

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