16. In der vorliegenden Allgemeinen Bemerkung gelten folgende Definitionen:
(a) Selbstbestimmt Leben. Selbstbestimmt Leben bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen alle notwendigen Mittel gewährt werden, die es ihnen ermöglichen, Wahlfreiheit und Kontrolle über ihr Leben auszuüben und alle Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, zu treffen. Persönliche Autonomie und Selbstbestimmung sind von grundlegender Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben; dies umfasst auch Zugang zu Beförderung, Informationen, Kommunikation und persönlicher Assistenz, Wohnort, Tagesablauf, Gewohnheiten, menschenwürdige Beschäftigung, persönliche Beziehungen, Kleidung, Ernährung, Körperpflege und Gesundheitsversorgung, religiöse Aktivitäten, kulturelle Aktivitäten sowie sexuelle und reproduktive Rechte. Diese Aktivitäten stehen im Zusammenhang mit der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung: Es geht darum, wo wir leben und mit wem, was wir essen, ob wir gerne ausschlafen oder abends gerne spät ins Bett gehen, ob wir lieber drinnen oder draußen sind, eine Tischdecke und Kerzen auf dem Tisch mögen, Haustiere halten oder Musik hören. Diese Handlungen und Entscheidungen machen uns aus. Selbstbestimmt Leben ist ein wesentlicher Bestandteil der individuellen Autonomie und Freiheit und bedeutet nicht automatisch, alleine zu leben. Selbstbestimmt Leben sollte auch nicht ausschließlich als die Fähigkeit interpretiert werden, alltägliche Tätigkeiten selbst auszuführen. Stattdessen sollte selbstbestimmtes Leben im Einklang mit Artikel 3 (a) des Übereinkommens, in dem die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde und seiner individuellen Autonomie verankert ist, als Freiheit zur Wahlfreiheit und Kontrolle verstanden werden. Selbstbestimmung als eine Form der persönlichen Autonomie bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nicht ihrer Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich ihres persönlichen Lebensstils und ihres Alltags beraubt werden;
(b) Inklusion in die Gemeinschaft. Das Recht auf Inklusion in die Gemeinschaft steht im Zusammenhang mit dem Prinzip der vollen und wirksamen Inklusion in und Teilhabe an der Gesellschaft, wie es unter anderem auch in Artikel 3 (c) des Übereinkommens verankert ist. Es beinhaltet das Führen eines vollen Soziallebens sowie den Zugang zu allen Diensten, die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, und zu den Unterstützungsdiensten für Menschen mit Behinderungen, um es ihnen zu ermöglichen, vollständig inkludiert zu sein und an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben. Diese Dienste können unter anderem Wohnen, Beförderung, Einkaufsmöglichkeiten, Bildung, Beschäftigung, Freizeitaktivitäten sowie alle anderen Einrichtungen und Dienste umfassen, die für die Öffentlichkeit bereitgestellt werden, einschließlich sozialer Medien. Das Recht umfasst auch den Zugang zu allen Maßnahmen und Veranstaltungen des politischen und kulturellen Lebens in der Gemeinschaft, darunter öffentliche Versammlungen, Sportveranstaltungen, kulturelle und religiöse Veranstaltungen sowie sämtliche andere Aktivitäten, an denen Menschen mit Behinderungen teilnehmen möchten;
(c) Selbstbestimmte Wohn- und Lebenssituationen. Sowohl ein selbstbestimmtes Leben als auch die Inklusion in die Gemeinschaft beziehen sich auf ein Lebensumfeld außerhalb aller möglichen Formen von Wohneinrichtungen. Es geht nicht „einfach“ darum, in einem bestimmten Gebäude oder Umfeld zu leben, sondern vor allem darum, nicht infolge des Auferlegens einer bestimmten Wohn- und Lebenssituation die persönliche Wahlfreiheit und Autonomie einzubüßen. Weder Großeinrichtungen mit mehr als hundert Bewohnerinnen und Bewohnern noch kleinere Wohngruppen mit fünf bis acht Personen oder Einzelwohnungen können als selbstbestimmte Wohn- und Lebenssituation bezeichnet werden, wenn sie andere wesentliche Merkmale von Einrichtungen oder Institutionalisierung aufweisen. Einrichtungen können sich in der Größe, dem Namen und der Organisation nach unterscheiden, aber sie zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, wie zum Beispiel der Verpflichtung, Assistentinnen und Assistenten zu teilen und fehlendem oder begrenztem Einfluss auf die Wahl von Assistentinnen und Assistenten; Isolierung und Segregation von einem selbstbestimmten Leben in der Gemeinschaft; fehlender Kontrolle auf alltägliche Entscheidungen; fehlender Wahlfreiheit hinsichtlich der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner; starre Abläufe losgelöst von persönlichem Willen und Präferenzen; identische Aktivitäten am selben Ort für eine Gruppe von Menschen unter der Aufsicht einer bestimmten Person; einem paternalistischen Ansatz bei der Bereitstellung von Diensten; Überwachung der Wohnverhältnisse und meist auch durch eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Personen mit Behinderungen, die in derselben Umgebung leben. Auch wenn Einrichtungen Menschen mit Behinderungen ein gewisses Maß an Wahlfreiheit und Kontrolle bieten können, sind diese auf bestimmte Lebensbereiche beschränkt und ändern nichts am segregierenden Charakter von Einrichtungen. Politische Konzepte zur Deinstitutionalisierung erfordern daher die Umsetzung struktureller Reformen, die über das Schließen von Einrichtungen hinausgehen. Große und kleine Wohngruppen stellen insbesondere für Kinder eine Gefahr dar, deren Bedürfnis, in einer Familie aufzuwachsen, durch nichts ersetzt werden kann. „Familienähnliche“ Einrichtungen bleiben Einrichtungen und sind kein Ersatz für die Zuwendung einer Familie;
(d) Persönliche Assistenz. Persönliche Assistenz bedeutet von einer Person gelenkte/„nutzer“gesteuerte menschliche Unterstützung für einen Menschen mit Behinderungen und ist ein Instrument für selbstbestimmtes Leben. Obwohl persönliche Assistenz unterschiedliche Formen annehmen kann, gibt es bestimmte Merkmale, die sie von anderen Arten der persönlichen Unterstützung unterscheidet:
(i) Die finanziellen Mittel für die persönliche Assistenz müssen auf der Grundlage personalisierter Kriterien bereitgestellt werden und es sind Menschenrechtsstandards hinsichtlich einer menschenwürdigen Beschäftigung zu berücksichtigen. Die finanziellen Mittel erhält die Person mit Behinderungen und diese Person bestimmt auch über die Mittel, mit dem Ziel, für die erforderliche Unterstützung zu zahlen. Sie beruhen auf einer individuellen Bedarfsermittlung und auf den individuellen Lebensumständen. Individualisierte Dienste dürfen nicht zu einem geringeren Budget beziehungsweise einer höheren persönlichen Zuzahlung führen;
(ii) Die Person mit Behinderungen bestimmt über die Dienstleistung, das heißt sie kann diese entweder von unterschiedlichen Anbietern beziehen oder als Arbeitgeberin oder Arbeitgeber auftreten. Menschen mit Behinderungen haben die Möglichkeit, die Dienstleistung auf ihre persönlichen Bedürfnisse zuzuschneiden, das heißt, sie können sie gestalten und entscheiden, wer, wie, wann, wo und auf welche Art sie erbracht wird, und sie können den Leistungserbringern Weisungen erteilen und sie anleiten;
(iii) Bei der persönlichen Assistenz handelt es sich um eine Eins-zu-eins-Beziehung. Die persönlichen Assistentinnen und Assistenten müssen von den Assistenznehmerinnen und -nehmern eingestellt, ausgebildet und beaufsichtigt werden. Assistenznehmerinnen und –nehmer sollten sich persönliche Assistentinnen und Assistenten nicht „teilen“ müssen, ohne ihre volle und freie Einwilligung hierzu erteilt zu haben. Das Teilen von persönlichen Assistentinnen und Assistenten birgt die Gefahr, die selbstbestimmte und spontane Teilhabe an der Gemeinschaft einzuschränken und zu behindern.
(iv) Persönliche Kontrolle über die Dienstleistungserbringung. Menschen mit Behinderungen, die persönliche Assistenz benötigen, können abhängig von ihren Lebensumständen und Präferenzen frei bestimmen, welches Maß an persönlicher Kontrolle sie über die Dienstleistungserbringer haben möchten. Auch wenn die Verantwortung der Arbeitgebenden auf Dritte übertragen wird, trifft die Person mit Behinderungen stets die zentralen Entscheidungen über die Assistenz, und sie bleibt der Ansprechpartner oder die Ansprechpartnerin für Rückfragen und die Person, deren individuelle Präferenzen zu achten sind. Die Kontrolle der persönlichen Assistenz kann auf dem Wege der unterstützten Entscheidungsfindung erfolgen.