Am 1. Februar 2018 trat die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft. Seither ist einiges geschehen. Um wirksamen Schutz für die Betroffenen von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt zu erreichen, muss noch viel passieren. Ein Gespräch mit Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungssstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Vor sechs Jahren, am 1. Februar 2018, trat die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft. Was hat sich seither für die Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt geändert?
Müşerref Tanrıverdi: Bereits vor dem Inkrafttreten in Deutschland hat die Istanbul-Konvention zu Veränderungen geführt, etwa zur Reform des Sexualstrafrechts 2016. Auch auf Länderebene, wo ein Großteil der Zuständigkeiten in den Bereichen Prävention, Schutz und Unterstützung liegt, hat sich einiges getan. Seit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention können wir beobachten, dass die Bemühungen, Strategien und Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt zu entwickeln und umzusetzen, angestiegen sind. Dazu gehört etwa die Einrichtung von Koordinierungsstellen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und die Verabschiedung von Landesaktionsplänen auf Länderebene, die Etablierung des bundesweiten Hilfetelefons vor zehn Jahren oder aber auch die Einrichtung der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt im Institut. Zudem gibt es von Gerichten inzwischen erste Urteile, die sich konkret auf die Istanbul-Konvention berufen und bei denen die Anwendung der Konvention durch die Richter*innen zu einem verbesserten Schutz für Betroffene geführt hat.
Nichtsdestotrotz gibt es noch viel zu tun. Die Zivilgesellschaft zeigt seit langem Umsetzungslücken auf, zum Beispiel mit Blick auf die nachhaltige Finanzierung des Schutz- und Unterstützungssystems. Auch bei staatlichen Institutionen wie Strafverfolgungsbehörden oder Justiz mangelt es noch an einer umfassenden und diskriminierungsfreien Umsetzung der Konvention. Der erste Bericht der Expert*innengruppe des Europarats (GREVIO) zum Umsetzungsstand der Istanbul-Konvention zeigt, dass es in Deutschland noch viel Handlungsbedarf gibt.
Wo sehen Sie die größten Baustellen in den nächsten Jahren?
Tanrıverdi: Aktuell fehlt in Deutschland ein umfassendes Konzept, etwa ein Nationaler Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt. Bisher ist der Gewaltschutz insgesamt lückenhaft, es gibt keine umfassenden Präventionsstrategien und institutionenübergreifende Ansätze sind nicht etabliert. Besserung könnte hier etwa eine bundesweite Koordinierungsstelle schaffen, die nach der Istanbul-Konvention von Deutschland eingerichtet werden muss. Für eine vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention sind diese Aspekte zentral, das ist auch eine nachdrückliche Empfehlung von GREVIO.
Die Betroffenen von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt brauchen unbedingt einen verbesserten niedrigschwelligen Zugang zu Schutz und Recht, das gilt vor allem für besonders vulnerable Personen. Dazu gehört die Verbesserung des Zugangs zu Beratungsstellen und Frauenhäusern, zum Beispiel für Frauen und Mädchen mit Flucht- oder Migrationshintergrund, Frauen mit Behinderungen, Rom*nja und Sinti*zze, wohnungslose Frauen oder etwa LGBTQIA*-Personen.
Wer muss jetzt rasch etwas tun?
Tanrıverdi: Aktuell entwickelt das Bundesfamilienministerium eine Gesamtstrategie des Bundes zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Als Teil dieser Strategie soll auch eine Koordinierungsstelle der Bundesregierung nach der Istanbul-Konvention eingerichtet werden. Ein Aufbaustab ist bereits eingesetzt. Das begrüßen wir sehr und erachten das als wichtige Schritte in die richtige Richtung. Eine Beteiligung der Zivilgesellschaft ist hier aber entscheidend, damit die Maßnahmen später auch greifen können. Neben diesen strukturellen Instrumenten sollte die Bundesregierung, wie unsere Analysen zeigen, die Schutzinteressen des gewaltbetroffenen Elternteils im Umgangs- und Sorgerecht gesetzlich verankern und das Aufenthaltsrecht an die Vorgaben der Istanbul-Konvention anpassen.
Grundlegend ist ferner eine nachhaltige Finanzierung von staatlichen und nicht-staatlichen Stellen, die Betroffene unterstützen. Der Bund sollte sich daher bei der Finanzierung des Schutz- und Hilfesystems beteiligen und den angekündigten Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung baldmöglichst schaffen. Das Bundesfamilienministerium arbeitet aktuell an einer solchen Rechtsgrundlage, was wir sehr begrüßen. Wichtig ist jedoch auch hier, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird.
Gleichzeitig brauchen wir auch eine verbesserte Datenerhebung und -harmonisierung seitens aller staatlichen Akteure. Das ist wichtig, damit alle Gewaltformen, die die Konvention benennt, erfasst werden können. Nur auf der Grundlage von systematischen und vergleichbaren Daten ist es möglich, Aussagen zu Umfang und Ausmaß von geschlechtsspezifischer Gewalt zu treffen und die Wirksamkeit der Präventions- und Schutzmaßnahmen zu überprüfen.
Was ist neben den strukturellen und gesetzlichen Veränderungen noch wichtig?
Tanrıverdi: Wir halten verpflichtende Fortbildungen für Fachkräfte wie Polizist*innen, Staatsanwält*innen, medizinisches Personal, Richter*innen oder Mitarbeitende bei Behörden wie der Ausländerbehörde für dringend notwendig. Sensibilisierung ist wichtig, um Gewaltformen und spezifische Dynamiken erkennen zu können und stereotype Rollenbilder abzubauen. Nur mit einer intersektionalen Perspektive kann die diskriminierungsfreie Umsetzung der Istanbul-Konvention gelingen.
Wo liegt der Schwerpunkt der Berichterstattungsstelle in diesem Jahr?
Tanrıverdi: Nach der Istanbul-Konvention müssen unter anderem Bund, Länder und Kommunen ein flächendeckendes Angebot an Unterstützungs- und Hilfsleistungen – wie beispielsweise Fachberatungsstellen und Frauenhäuser – sicherstellen. Die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt widmet sich daher dieses Jahr schwerpunktmäßig dem Thema „Zugang zu Schutz und Beratung“. Im Rahmen unserer Datenerhebung bei allen Bundesländern, dem Bund und der Zivilgesellschaft werden wir auch dazu Daten sammeln und auswerten. Ergebnisse sollen in unserem Periodischen Bericht 2024 veröffentlicht werden. Der Periodische Bericht wird alle zwei Jahre erscheinen. Ein umfassendes, niedrigschwelliges und diskriminierungsfreies Hilfesystem ist für Betroffene von besonderer Bedeutung. Die Bundesregierung hat sich noch in dieser Legislaturperiode vorgenommen, das Hilfesystem weiter auszubauen. Das begrüßen wir mit Blick auf den dringenden Handlungsbedarf sehr und plädieren für eine zügige Umsetzung entsprechend den Vorgaben aus der Istanbul-Konvention. Damit würde Deutschland auch eine zentrale Empfehlung von GREVIO umsetzen.