Menschenrechte und Kinderbücher – was haben diese Themen miteinander zu tun? Die Literaturpädagogin Anne Hirschfelder erläutert, warum Lesen Teilhabe bedeutet, wie Bibliotheken zu einer inklusiven Gesellschaft beitragen und was den Zauber von Geschichten ausmacht.
Kinder- und Jugendbücher handeln häufig von Abenteuern, spielen in Fantasiewelten oder beschreiben typische Konflikte von Teenagern. Warum ist es wichtig, dass auch Menschenrechte vorkommen?
Anne Hirschfelder: Menschenrechte müssen in Büchern gar nicht explizit thematisiert werden. Mein Ansatz ist eher zu fragen, wie wir auf selbstverständliche Weise kinder- und menschenrechtliche Themen in den Geschichten miterzählen. Wenn ich gedanklich diese Brille aufsetze, finde ich in fast allen Büchern Bezüge. Ein wichtige Herangehensweise ist, zu überlegen, wer sich eigentlich in den Geschichten wiederfindet. Gabriele Koné, Projektkoordinatorin im Institut für den Situationsansatz an der Fachstelle Kinderwelten, hat es wunderbar auf den Punkt gebracht: „Repräsentation ist Macht“. Zahlen, die für Deutschland leider nicht systematisch erhoben werden, belegen, dass sich die Vielfalt unserer Gesellschaft nur teilweise in der Literatur widerspiegelt.
Außerdem zeigen Umfragen, dass zu wenige junge Menschen über Menschenrechte Bescheid wissen und die eigenen Rechte kennen. Das müssen sie aber, um sie für sich und andere einfordern zu können! Kinder- und Jugendbücher bieten einen konkreten und zugänglichen Kontext für das scheinbar abstrakte Thema und eignen sich daher hervorragend, um über Menschenrechte ins Gespräch zu kommen. Das setzt übrigens auch voraus, dass die Erwachsenen diese Rechte kennen …
Die Gesellschaft und auch Lebensentwürfe sind vielfältiger geworden. Finden wir diese Entwicklung auch in der Kinder- und Jugendliteratur?
Hirschfelder: Ja, auch wenn viele Geschichten immer noch fehlen, sind in den letzten Jahren die Erzählungen deutlich vielfältiger geworden. Das ist eine ermutigende Entwicklung, finden sich doch so immer mehr Kinder auch in Büchern wieder. Und wir alle lernen, welch unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven es auf der Welt gibt. Diese Diversifizierung schlägt sich allerdings noch nicht in der Buchbranche und Vermittlungsarbeit wieder. Hier ist noch deutlich Luft nach oben.
Können Sie das näher ausführen?
Hirschfelder: Wenn man schaut, wer in Verlagen lektoriert oder in der Leseförderung tätig ist, fällt auf, dass es eine recht homogene Gruppe mit ähnlicher Bildungsbiografie ist, die eher zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Autor*innen mit neueren Ansätzen wie Dayan Kodua oder Tayo Awosusi-Onutor sprachen beispielsweise auf der Lesung der Institutsbibliothek im vergangenen November davon, dass sie ihre Geschichten nur in eigens gegründeten Verlagen herausbringen konnten.
Was sind die Fallen, in die man als Autor*in tappen kann, wenn man in seinen Geschichten eine vielfältige Gesellschaft abbilden möchte?
Hirschfelder: Es besteht die Gefahr, Stereotype zu reproduzieren, derer man sich selbst nicht bewusst ist. Und wenn man nicht Teil einer Lebenswelt ist, von der man erzählt, braucht es sehr viel Recherche, Expertise aus der Community und gegebenenfalls ein sogenanntes Sensitivity Reading von Menschen, die eigene Lebenserfahrungen einbringen können, um den Figuren der Geschichte in ihrer Vielfalt gerecht zu werden.
Was ist die Folge, wenn sich junge Leser*innen einer marginalisierten Gruppe – zum Beispiel Kinder mit Behinderungen oder Schwarze Jugendliche – nicht in Büchern wiederfinden?
Hirschfelder: Letztlich geht es um Teilhabe und darum, sich als ein Teil unserer Gesellschaft zu fühlen. Wer sich nicht in Geschichten wiederfindet, lernt: Ich bin nicht wichtig. Meine Lebenswelt ist es nicht wert, dargestellt zu werden. Wenn man Zuschriften von Kindern zum Buch „Ach, das ist Familie?!“ von Britta Kiwit und Emily Claire Völker liest, wird deutlich, wie ergriffen die Leser*innen sind, wenn sie entdecken, dass in einer Illustration ein Kind ganz selbstverständlich mit einem Talker, also einem Sprachcomputer, kommuniziert.
In Ihrer Publikation „Wir müssen Räume schaffen …“ geht es auch darum, dass Orte der Literaturvermittlung, zum Beispiel Bibliotheken, inklusiv sein sollten. Was ist damit gemeint?
Hirschfelder: Inklusion ist im Selbstverständnis vieler Bibliotheken verankert. Als non-formale Bildungsorte und kommerzfreie Räume bieten sie theoretisch allen Menschen Zugang. Ganz praktisch gilt es nicht nur, die Medienbestände kritisch zu hinterfragen. Auch der Umgang mit Besucher*innen, die Durchführung von Veranstaltungen oder das Erkennen möglicher räumlicher, sprachlicher oder sozialer Barrieren sind wichtige Aspekte professionellen Handelns in inklusiven Bibliotheken. Hier befinden sich noch zu wenige marginalisierte Menschen in Gestaltungs- und Entscheidungspositionen.
In der Summe geht es um die Schaffung von mehr sozialer Gerechtigkeit und von Bildungsgerechtigkeit. Nicht selten erleben Kinder aus finanziell schlechter gestellten Familien oder Kinder aus Familien mit Migrationserfahrungen individuelle und strukturelle Diskriminierung. Wichtig ist, die jeweiligen Teilhabebarrieren, die Kinder beim Zugang zu und der Teilhabe an Bildung hindern, zu identifizieren und abzubauen. Inklusive Bibliotheken können ihren Teil dazu beitragen.
Internet, Streaming-Dienste und soziale Medien konkurrieren mit Büchern um unsere Aufmerksamkeit. Haben Sie einen Tipp, wie man Kinder und Jugendliche zum Lesen bringt?
Hirschfelder: Den einen Tipp gibt es nicht. Es braucht ein ganzes Bündel an Maßnahmen.
Ganz zentral ist, die jungen Menschen nach ihren Interessen zu fragen: Welche Themen bewegen euch? Was findet ihr spannend? Und ja, das weicht wahrscheinlich von den Vorstellungen und Vorlieben Erwachsener ab. Nicht wenige Filme und Serien, die online konsumiert werden, gibt es zudem als Buch. Hier könnte crossmedial gearbeitet werden.
Dann zitiere ich gern Martin Gries, den pädagogischen Leiter der Bücherpiraten: „Wir müssen das Lesen aus der Einsamkeit holen.“ Ideal sind Angebote, die für Kinder und Jugendliche Austausch ermöglichen und Gemeinschaft stiften. Lesen kann – und sollte – in der Vermittlung als kreative und freudvolle Aktivität erlebt werden.
Das Vorlesen ist ein weiterer zentraler Baustein, egal ob zuhause, in der Kita, der Schule oder in Freizeiteinrichtungen. Hier kann ein Zugang zu Büchern ermöglicht werden, kann der Zauber von Geschichten sich entwickeln.
Und schließlich brauchen Kinder Vorbilder: Wie viele Erwachsene sehen sie denn überhaupt noch lesen? Wer spricht auf dem Spielplatz, zu Besuch bei Familie und Freunden über Bücher? Schön wäre es, wenn weniger mit „du musst“ oder „du brauchst das“ argumentiert wird, sondern einfach vorgelebt wird, wie Geschichten das Leben bereichern.