Im Fokus

Gewaltschutz von Menschen mit Behinderungen

© Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Leben. Was für den Gewaltschutz in Wohneinrichtungen und Werkstätten getan werden muss, erläutert Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention.

Warum sind Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen wie Wohneinrichtungen und Werkstätten besonders von Gewalt betroffen?

Britta Schlegel: Zunächst sollte klar sein, dass wir von einem relativ weiten Gewaltbegriff sprechen. Dazu gehören Beleidigungen, psychischer Druck, körperliche und sexualisierte Gewalt, aber auch fehlende Entscheidungsfreiheit über Geburtenkontrolle und Elternschaft sowie teilweise unrechtmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen. Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen sind stärker gefährdet solche Gewaltformen zu erleben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das liegt an stereotypen Bildern und Auffassungen von Menschen mit Behinderungen, aber auch an Abhängigkeitsverhältnissen, die entstehen, weil die Menschen auf Unterstützung angewiesen sind. Es herrscht eine starke Abhängigkeit vom Pflege- und Betreuungspersonal und der Alltag ist fast durchweg fremdstrukturiert. Darüber hinaus wird häufig die Intimsphäre nicht ausreichend geschützt, es fehlt etwa an abschließbaren Zimmern und geschlechtergerechter Pflege. In Deutschland leben rund 200.000 Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Rund 330.000 Menschen sind in Werkstätten beschäftigt. Viele Menschen mit Behinderungen verbringen ihr ganzes Leben und ihren Alltag in Sondereinrichtungen. Das hat wenig mit Selbstbestimmung und Inklusion zu tun.

Welches sind hierzulande die größten Lücken im Gewaltschutz?

Schlegel: Die beteiligten Akteur*innen sind sich leider immer noch zu wenig bewusst, wie wichtig Gewaltschutz in Einrichtungen ist und was er alles umfasst. Zwar wird das Thema politisch und in der Praxis der Eingliederungshilfe stärker diskutiert als noch vor zehn Jahren und es gibt engagierte Einrichtungen, die erfolgreiche Präventionskonzepte entwickelt haben. Wir wissen aber nicht, wie viele Einrichtungen tatsächlich präventiv arbeiten oder ob Gewaltschutzkonzepte bloß auf dem Papier existieren. In der Breite ist das Thema noch nicht als Priorität und Daueraufgabe angekommen. Immerhin gibt es seit letztem Jahr endlich eine Verpflichtung im Sozialgesetzbuch, genauer in Paragraf 37a des SGB IX, die Einrichtungen zu Maßnahmen der Gewaltprävention verpflichtet. Dies war ein sehr bedeutsamer Schritt und sollte nun zu Bewegung bei dieser Thematik führen.

Auf der Seite der Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten kommt hinzu, dass sie ihre Rechte zu wenig kennen. Das verhindert in vielen Fällen, dass sie sich gegen Übergriffe wehren und sich beschweren. Deshalb muss die Präventionsarbeit gemeinsam mit ihnen stattfinden.

Was die Intervention nach Gewalterfahrungen angeht, so sind Beratungs- und Anlaufstellen wie Frauenhäuser in den Einrichtungen meist nicht bekannt und darüber hinaus häufig weder barrrierefrei ausgestaltet, noch für die besondere Lage dieser Zielgruppe geschult. Auch Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter*innen wissen in der Regel zu wenig über die Lage von Menschen mit Behinderungen und es fehlt im Strafverfahren an Verständnis und Sensibilität ihnen gegenüber sowie an kommunikativer und räumlicher Barrierefreiheit. Eine weitere Schutzlücke ist die fehlende behördliche Überwachung des Gewaltschutzes in Einrichtungen. Der Gewaltschutz wird bisher nicht oder kaum von außen wirksam kontrolliert.

Was sind die zentralen Forderungen der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention?

Schlegel: Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet in Artikel 16 dazu, jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu verhindern. Es liegt in der Verantwortung unterschiedlicher Akteur*innen, den Gewaltschutz zu stärken. Als Monitoring-Stelle veröffentlichen wir heute gemeinsam mit dem Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel ein Papier mit Handlungsempfehlungen, das die oben angesprochenen Schutzlücken anspricht und eine Reihe an Maßnahmen für einen wirksamen Gewaltschutz aufführt. Das umfasst gesetzgeberischen Nachbesserungsbedarf an Paragraf 37a SGB IX, die Stärkung der Selbst- und Mitbestimmung von Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten, aber auch Maßnahmen für besseren Zugang zum Recht und für eine wirksame Überwachung des Gewaltschutzes. Die Publikation stellen wir auf unser Website bereit – ich hoffe, dass das Interview Interesse an dem Thema weckt und einen Anreiz bietet, einen Blick in die Empfehlungen zu werfen.  

Wie geht es mit dem Thema Gewaltschutz weiter?

Schlegel: Wir würden es begrüßen, wenn die Bundesregierung Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe weiterhin intensiv und zuständigkeitsübergreifend diskutiert. Das bezieht auch die Landesregierungen mit ein sowie die Sozialleistungsträger, die Einrichtungsträger und weitere Akteur*innen. Nicht zuletzt erwarten wir eine Antwort auf die noch offene Frage nach einer wirksamen behördlichen Überwachung. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen forderte bei der letzten Staatenprüfung Deutschland dringend dazu auf, eine wirksame Gesamtstrategie zum Gewaltschutz zu entwickeln. Auch deshalb werden wir als Monitoring-Stelle das Thema weiter intensiv begleiten und beobachten. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen: Die beste Prävention ist, wenn Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können und nicht auf eine institutionalisierte Betreuung angewiesen sind. Wir müssen die ganze Kraft in den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft stecken.

(P. Carega, Mai 2022)

UN-Behindertenrechtskonvention

Artikel 16 UN-BRK – Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch

(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial-, Bildungs- und sonstigen Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, einschließlich ihrer geschlechtsspezifischen Aspekte, zu schützen.

(2) Die Vertragsstaaten treffen außerdem alle geeigneten Maßnahmen, um jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu verhindern, indem sie unter anderem geeignete Formen von das Geschlecht und das Alter berücksichtigender Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien und Betreuungspersonen gewährleisten, einschließlich durch die Bereitstellung von Informationen und Aufklärung darüber, wie Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch verhindert, erkannt und angezeigt werden können. Die Vertragsstaaten sorgen dafür, dass Schutzdienste das Alter, das Geschlecht und die Behinderung der betroffenen Personen berücksichtigen.

(3) Zur Verhinderung jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch stellen die Vertragsstaaten sicher, dass alle Einrichtungen und Programme, die für Menschen mit Behinderungen bestimmt sind, wirksam von unabhängigen Behörden überwacht werden.

(4) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um die körperliche, kognitive und psychische Genesung, die Rehabilitation und die soziale Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen, die Opfer irgendeiner Form von Ausbeutung, Gewalt oder Missbrauch werden, zu fördern, auch durch die Bereitstellung von Schutzeinrichtungen. Genesung und Wiedereingliederung müssen in einer Umgebung stattfinden, die der Gesundheit, dem Wohlergehen, der Selbstachtung, der Würde und der Autonomie des Menschen förderlich ist und geschlechts- und altersspezifischen Bedürfnissen Rechnung trägt.

(5) Die Vertragsstaaten schaffen wirksame Rechtsvorschriften und politische Konzepte, einschließlich solcher, die auf Frauen und Kinder ausgerichtet sind, um sicherzustellen, dass Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch gegenüber Menschen mit Behinderungen erkannt, untersucht und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt werden.

Artikel 14 UN-BRK – Freiheit und Sicherheit der Person

(1) Die Vertragsstaaten gewährleisten,

  1. dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit genießen;
  2. dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Freiheit nicht rechtswidrig oder willkürlich entzogen wird, dass jede Freiheitsentziehung im Einklang mit dem Gesetz erfolgt und dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt.

(2) Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen, denen aufgrund eines Verfahrens ihre Freiheit entzogen wird, gleichberechtigten Anspruch auf die in den internationalen Menschenrechtsnormen vorgesehenen Garantien haben und im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen dieses Übereinkommens behandelt werden, einschließlich durch die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen.

Artikel 17 UN-BRK – Schutz der Unversehrtheit der Person

Jeder Mensch mit Behinderungen hat gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Achtung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit.

Publikationen zu diesem Thema

Ansprechpartner*in

© DIMR/B. Dietl

Dr. Britta Schlegel

Leitung der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Telefon: 030 259 359 - 450

E-Mail: schlegel(at)institut-fuer-menschenrechte.de

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