Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Leben. Was für den Gewaltschutz in Wohneinrichtungen und Werkstätten getan werden muss, erläutert Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention.
Warum sind Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen wie Wohneinrichtungen und Werkstätten besonders von Gewalt betroffen?
Britta Schlegel: Zunächst sollte klar sein, dass wir von einem relativ weiten Gewaltbegriff sprechen. Dazu gehören Beleidigungen, psychischer Druck, körperliche und sexualisierte Gewalt, aber auch fehlende Entscheidungsfreiheit über Geburtenkontrolle und Elternschaft sowie teilweise unrechtmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen. Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen sind stärker gefährdet solche Gewaltformen zu erleben als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das liegt an stereotypen Bildern und Auffassungen von Menschen mit Behinderungen, aber auch an Abhängigkeitsverhältnissen, die entstehen, weil die Menschen auf Unterstützung angewiesen sind. Es herrscht eine starke Abhängigkeit vom Pflege- und Betreuungspersonal und der Alltag ist fast durchweg fremdstrukturiert. Darüber hinaus wird häufig die Intimsphäre nicht ausreichend geschützt, es fehlt etwa an abschließbaren Zimmern und geschlechtergerechter Pflege. In Deutschland leben rund 200.000 Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Rund 330.000 Menschen sind in Werkstätten beschäftigt. Viele Menschen mit Behinderungen verbringen ihr ganzes Leben und ihren Alltag in Sondereinrichtungen. Das hat wenig mit Selbstbestimmung und Inklusion zu tun.
Welches sind hierzulande die größten Lücken im Gewaltschutz?
Schlegel: Die beteiligten Akteur*innen sind sich leider immer noch zu wenig bewusst, wie wichtig Gewaltschutz in Einrichtungen ist und was er alles umfasst. Zwar wird das Thema politisch und in der Praxis der Eingliederungshilfe stärker diskutiert als noch vor zehn Jahren und es gibt engagierte Einrichtungen, die erfolgreiche Präventionskonzepte entwickelt haben. Wir wissen aber nicht, wie viele Einrichtungen tatsächlich präventiv arbeiten oder ob Gewaltschutzkonzepte bloß auf dem Papier existieren. In der Breite ist das Thema noch nicht als Priorität und Daueraufgabe angekommen. Immerhin gibt es seit letztem Jahr endlich eine Verpflichtung im Sozialgesetzbuch, genauer in Paragraf 37a des SGB IX, die Einrichtungen zu Maßnahmen der Gewaltprävention verpflichtet. Dies war ein sehr bedeutsamer Schritt und sollte nun zu Bewegung bei dieser Thematik führen.
Auf der Seite der Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten kommt hinzu, dass sie ihre Rechte zu wenig kennen. Das verhindert in vielen Fällen, dass sie sich gegen Übergriffe wehren und sich beschweren. Deshalb muss die Präventionsarbeit gemeinsam mit ihnen stattfinden.
Was die Intervention nach Gewalterfahrungen angeht, so sind Beratungs- und Anlaufstellen wie Frauenhäuser in den Einrichtungen meist nicht bekannt und darüber hinaus häufig weder barrrierefrei ausgestaltet, noch für die besondere Lage dieser Zielgruppe geschult. Auch Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter*innen wissen in der Regel zu wenig über die Lage von Menschen mit Behinderungen und es fehlt im Strafverfahren an Verständnis und Sensibilität ihnen gegenüber sowie an kommunikativer und räumlicher Barrierefreiheit. Eine weitere Schutzlücke ist die fehlende behördliche Überwachung des Gewaltschutzes in Einrichtungen. Der Gewaltschutz wird bisher nicht oder kaum von außen wirksam kontrolliert.
Was sind die zentralen Forderungen der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention?
Schlegel: Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet in Artikel 16 dazu, jede Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch zu verhindern. Es liegt in der Verantwortung unterschiedlicher Akteur*innen, den Gewaltschutz zu stärken. Als Monitoring-Stelle veröffentlichen wir heute gemeinsam mit dem Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel ein Papier mit Handlungsempfehlungen, das die oben angesprochenen Schutzlücken anspricht und eine Reihe an Maßnahmen für einen wirksamen Gewaltschutz aufführt. Das umfasst gesetzgeberischen Nachbesserungsbedarf an Paragraf 37a SGB IX, die Stärkung der Selbst- und Mitbestimmung von Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten, aber auch Maßnahmen für besseren Zugang zum Recht und für eine wirksame Überwachung des Gewaltschutzes. Die Publikation stellen wir auf unser Website bereit – ich hoffe, dass das Interview Interesse an dem Thema weckt und einen Anreiz bietet, einen Blick in die Empfehlungen zu werfen.
Wie geht es mit dem Thema Gewaltschutz weiter?
Schlegel: Wir würden es begrüßen, wenn die Bundesregierung Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe weiterhin intensiv und zuständigkeitsübergreifend diskutiert. Das bezieht auch die Landesregierungen mit ein sowie die Sozialleistungsträger, die Einrichtungsträger und weitere Akteur*innen. Nicht zuletzt erwarten wir eine Antwort auf die noch offene Frage nach einer wirksamen behördlichen Überwachung. Auch der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen forderte bei der letzten Staatenprüfung Deutschland dringend dazu auf, eine wirksame Gesamtstrategie zum Gewaltschutz zu entwickeln. Auch deshalb werden wir als Monitoring-Stelle das Thema weiter intensiv begleiten und beobachten. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen: Die beste Prävention ist, wenn Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können und nicht auf eine institutionalisierte Betreuung angewiesen sind. Wir müssen die ganze Kraft in den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft stecken.
(P. Carega, Mai 2022)