„Wer die Ukraine aufgibt, verrät die Menschenrechte“
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Meldung
Ein Jahr Angriffskrieg gegen die Ukraine - ein Jahr voll Leid und Zerstörung, ein Jahr, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden. Wie können die Menschenrechte in dieser Situation Wirkung entfalten? Wie kann Russland zur Verantwortung gezogen werden? Und wie können die Menschen in der Ukraine unterstützt werden? Dazu Beate Rudolf.
Seit dem 24. Februar 2022 leiden die Menschen in der Ukraine unter dem russischen Angriffskrieg. Können die Menschenrechte hier noch Wirkung entfalten?
Beate Rudolf: Die Menschenrechte gelten auch im Krieg weiter. Sie werden zum Teil durch das humanitäre Völkerrecht modifiziert, das seinerseits klarstellt: Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind verboten und die menschenrechtlichen Verbote der Folter, einschließlich sexualisierter Gewalt, der willkürlichen Hinrichtungen und Verschleppungen bleiben während der Kriegshandlungen sowie der Besetzung von Gebieten bestehen. Außerdem sind Angriffe auf Kernkraftwerke verboten und Kulturgüter sowie religiöse Stätten zu schützen. Kriegsgefangene sind mit Menschlichkeit zu behandeln. Verstöße gegen diese fundamentalen Regeln sind Kriegsverbrechen und strafrechtlich zu ahnden. Das gilt nicht nur für die handelnden Soldat*innen, sondern auch und gerade die militärische und politische Führung. Zugleich bleiben die am Krieg beteiligten Staaten verantwortlich für diese Taten und müssen Wiedergutmachung für Menschenrechtsverletzungen und alle anderen Verletzungen des Völkerrechts leisten.
Wie kann die Russische Föderation zur Verantwortung gezogen werden?
Rudolf: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann über Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der Ukraine urteilen, die von der Russischen Föderation bis zum 16. September 2022 begangen wurden, also sechs Monate, nachdem ihre Mitgliedschaft im Europarat endete. In diesen Verfahren kann der Gerichtshof auch Entschädigungsleistungen festlegen. Zudem hat die UN-Generalversammlung im vergangenen November zu Recht betont, dass ein internationaler Entschädigungsmechanismus eingerichtet werden muss für alle Schäden, die durch den russischen Angriffskrieg sowie die Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte verursacht wurden und werden. Und schließlich gibt es noch das Völkerstrafrecht, mit dem nicht nur jede*r Soldat*in, sondern die politisch und militärisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können – durch die Gerichte eines jeden Staates oder den Internationalen Strafgerichtshof.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits im März 2022 Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine eingeleitet. Wie wichtig sind die Ermittlungen?
Rudolf: Die Ahndung schwerster Menschenrechtsverletzungen ist ein gemeinsames Anliegen der Weltgemeinschaft. Denn es geht um Gerechtigkeit für die Opfer und die Verteidigung der Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens. Ohne Menschenrechte gibt es keinen dauerhaften Frieden. Deshalb ist es richtig, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, der britische Anwalt Karim Ahmad Khan, Ermittlungen eingeleitet hat. Ebenso wichtig ist es, dass zusätzlich weitere Akteure ermitteln und Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts dokumentieren: Die Menschenrechts-Mission der UN in der Ukraine (HRMMU), die vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission, ukrainische Stellen, darunter auch die Nationale Menschenrechtsinstitution der Ukraine, ukrainische und internationale Nichtregierungsorganisationen sowie zahlreiche Staaten. Alle diese Erkenntnisse können in Strafverfahren durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bei der Entscheidung über die Entschädigungspflicht Russlands genutzt werden.
Es werden Stimmen laut, die sich für die Einrichtung eines Ukraine-Sondertribunals aussprechen. Was spricht für ein UN-Sondertribunal, was dagegen?
Rudolf: Der Internationale Strafgerichtshof kann im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord ahnden, nicht aber das Verbrechen der Aggression, also des Angriffskrieges. Das kann Russland durch sein Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat verhindern. Denkbar wäre es daher, dass die UN-Generalversammlung zur Aburteilung der für den Angriffskrieg Verantwortlichen ein Sondertribunal einsetzt, weil der Sicherheitsrat gelähmt ist. Wenn dies mit einer großen Mehrheit geschieht, so wie bei der Verurteilung der russischen Aggression im März 2022, würde das Sondertribunal die erforderliche Legitimität haben. Die Legitimität eines Gerichts für das Verbrechen der Aggression, das außerhalb des UN-Rahmens von einer Staatenallianz geschaffen würde, wäre hingegen leicht in Frage zu stellen. Die Schaffung eines UN-Sondertribunals wäre ein starkes Zeichen dafür, dass die internationale Gemeinschaft gemeinsam das Gewaltverbot als Grundlage der internationalen Ordnung verteidigt.
Eine andere Frage ist, ob ein Sondertribunal für die Strafverfolgung derjenigen Verbrechen geschaffen wird, für die auch der Internationale Strafgerichtshof zuständig wäre. Das könnte im Rahmen der UN geschehen. Es könnten sich hier aber auch – wie derzeit diskutiert wird ‑ Staaten zusammentun, da sie alle nach völkerrechtlichen Weltrechtsprinzip zur Strafverfolgung befugt wären. Ein solches Tribunal könnte die Verfahren gegen die mittlere Führungsebene und einzelne Soldaten durchführen. Verfahren gegen die oberste politische und militärische Führungsebene sollten in jedem Fall dem Internationalen Strafgerichtshof vorbehalten bleiben.
Ist es nicht auf absehbare Zeit unwahrscheinlich, dass sich die russische Führungsebene vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss? Denn Strafverfahren kann man nur durchführen, wenn man der Beschuldigten habhaft geworden ist. Wäre es deshalb nicht besser, die Kräfte auf den Schutz der Menschen im Kriegsgeschehen zu richten?
Rudolf: Es geht nicht um ein Entweder-oder. Internationale Strafverfolgung ist und bleibt ein wichtiges Instrument, um die Verantwortlichen für schwerste Menschenrechtsverlegungen zur Rechenschaft zu ziehen. Schließlich kann sich die politische Situation in Russland schneller ändern, als man das jetzt abzusehen meint.
Gleichzeitig ist es wichtig, die menschenrechtlichen Folgen des Krieges abzumildern. Dazu gehört die Unterstützung der Menschen in der Ukraine, insbesondere die Versorgung der Opfer von Folter und sexualisierter Kriegsgewalt nach der Befreiung russisch besetzter Gebiete, aber auch die ideelle und materielle Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen in der Ukraine. Dazu gehört außerdem, dass wir hier in Deutschland nicht die Aufmerksamkeit von dem von Russland verursachten ungeheuren menschlichen Leid in der Ukraine abwenden. Auch deshalb müssen die verübten Verbrechen sichtbar gemacht werden.
Viele Menschen aus der Ukraine haben keine andere Wahl, als vor dem Krieg in andere Länder zu fliehen. Wer schützt ihre Menschenrechte?
Rudolf: Wir müssen alles daransetzen, dass die Menschen, die aus der Ukraine fliehen, Schutz und Sicherheit finden. Deutschland hat dazu bislang einen besonders hohen Beitrag geleistet, ebenso wie Polen und Moldau. Ein Jahr nach Kriegsbeginn kommt so manche private Initiative, kommen aber auch zahlreiche Kommunen hierzulande an ihre Grenzen. Hier ist ein klares politisches Bekenntnis vonnöten, auch als Staat solidarisch zu bleiben und dies mit den erforderlichen Finanzmitteln zu unterlegen. Vergessen wir nicht: Die Ukraine wehrt sich gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Putin spielt auf Zeit, weil er darauf spekuliert, dass in den demokratischen Staaten die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen und die Folgen der Energieverknappung aufzufangen, sinkt und damit die Unterstützung für die Ukraine wegbricht. Die erschütternden Berichte über schwerste systematische Menschenrechtsverletzungen unter russischer Besatzung machen deutlich: Wer die Ukraine aufgibt, verrät die Menschenrechte.
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