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Recht auf Mobilität: „Das Ziel eines barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs bis 2022 ist konkret und verbindlich“

© Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

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Interview mit Dr. Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention

Der Alltag vieler Menschen mit Behinderungen in Deutschland ist von Barrieren geprägt. Dabei ist selbstbestimmte Mobilität ein Menschenrecht und eine zentrale Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe sowie die persönliche, soziale und berufliche Entwicklung. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet den Staat zur Schaffung von Rahmenbedingungen, die das Recht von Menschen mit Behinderungen auf selbstbestimmte Mobilität gleichberechtigt mit anderen absichern. Die Monitoring-Stelle UN-BRK des Instituts setzt sich dafür ein, dass Bundesregierung und Bundestag dieses Recht auf allen Ebenen politischen Handelns verwirklichen.

Was verstehen Sie unter selbstbestimmter Mobilität?

Valentin Aichele: Mobilität bedeutet, sich fortbewegen zu können. Wie alle Menschen haben auch Menschen mit Behinderungen das Recht, die Art und Weise und den Zeitpunkt ihrer Fortbewegung selbst zu wählen. Praktisch wirken äußere Strukturen und individuelle Fähigkeiten zusammen: Mobilität kann bedeuten, nur zu Fuß unterwegs zu sein, Mobilitätshilfen wie etwa einen Langstock, Rollstuhl, Rollator, E-Scooter oder Blindenführhund zu nutzen, mit dem Individualfahrzeug wie dem Auto oder Fahrrad zu fahren, die öffentlichen Verkehrsmittel des Nah-, Regional- und Fernverkehrs, Taxidienste oder Fahr- und Begleitdienste für Menschen mit Behinderungen zu nutzen oder durch eine Kombination davon sicher ans Ziel zu gelangen.

Und wie sieht die Realität aus?

Aichele: Im Alltag haben Menschen mit Behinderungen mit zahlreichen Barrieren zu kämpfen, die Mobilität erschweren oder ausschließen. Sei es durch zugeparkte Gehwege, fehlende Leitsysteme oder Assistenz, unzugängliche Verkehrsmittel wie nicht geeignete Taxis, defekte Aufzüge oder mangelhafte oder für sie nicht zugängliche Informationen. Erst das Zusammenwirken individueller, situativer, rechtlicher, sozialer und infrastruktureller Faktoren bestimmt, ob und wie Menschen dorthin gelangen können, wohin sie wollen. An den strukturellen Faktoren müssen Bund, Länder und Kommunen sowie öffentliche wie private Verkehrsbetriebe und -verbünde arbeiten.

Was sind die rechtlichen Grundlagen der selbstbestimmten Mobilität?

Aichele: Das Fundament ist das Recht auf Freizügigkeit. Innerhalb Deutschlands gibt es darüber hinaus viele gesetzliche und untergesetzliche Regelungen, die dieses fundamentale Recht absichern oder ausgestalten. Nähere Bestimmungen der UN-BRK finden sich unter anderem in Artikel 3a (Selbstbestimmung), Artikel 9 (Zugänglichkeit) und Artikel 20 (persönliche Mobilität). Der Staat muss, so die UN-BRK, die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und gleichberechtigt mit anderen mobil sein können. So muss er auch Maßnahmen ergreifen, um im Einzelfall persönliche Mobilität zu ermöglichen, beispielsweise indem er Assistenzen oder Rampen zur Verfügung stellt. Außerdem schreibt die UN-BRK vor, dass Menschen mit Behinderungen am Prozess der Ausgestaltung barrierefreier Mobilität beteiligt sein sollen. Im Zentrum der hiesigen nationalen Regelungen für den öffentlichen Personennahverkehr steht die Bestimmung des Personenbeförderungsgesetzes von 2013. Diese verpflichtet alle Mobilitätsakteure zu einer "vollständigen Barrierefreiheit" bis zum 1. Januar 2022.

Ist das Ziel eines vollständig barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs bis 2022 realistisch?

Aichele:Trotz der Fortschritte auf der Ebene der Länder bestehen Zweifel, dass eine vollständige Barrierefreiheit zum 1. Januar 2022 tatsächlich erreicht werden kann. So äußerte das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur bereits 2017 in seinem Bericht an den Deutschen Bundestag Vorbehalte an der fristgerechten Erreichung des vorgegebenen Ziels. Das Ziel ist aber konkret und verbindlich, und pauschal betrachtet ist kein Grund erkennbar, warum das nicht geschafft werden könnte.

Was muss der Bund für einen barrierefreien öffentlichen Personennahverkehr tun?

Aichele: Der Bundestag sollte zunächst den Begriff der vollständigen Barrierefreiheit im Personenbeförderungsgesetz gemäß den – als Bundesgesetz geltenden – Vorgaben der UN-BRK definieren. Die UN-BRK legt einen weiten Begriff von Barrierefreiheit zugrunde. Oftmals wird „vollständig“ verkürzt auf „rollstuhlgerecht“. Es gibt jedoch vielfältige Formen der Beeinträchtigung und Menschen mit mehreren Beeinträchtigungen. Außerdem würde das Verständnis auch zu sehr verkürzt, wenn nur die „Zugänge“ in den Blick kommen. Die Barrierefreiheit im Sinne der UN-BRK bezieht sich jedoch auf die Verkehrsmittel selbst und auf die ganze Wegstrecke, also auch auf die Schnittstellen zwischen den Verkehrsmitteln. Es sollten rasch Förderprogramme für Länder und Mobilitätsakteure entwickelt werden, die eine fristgerechte Umsetzung eines barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs unterstützen.

Gibt es Bundesländer, die Barrierefreiheit in ihren Gesetzen zum öffentlichen Personennahverkehr bereits gut umsetzen?

Aichele: Betrachtet man die gesetzliche Ebene, ist das jüngste Berliner Gesetz zum öffentlichen Personennahverkehr ein großer Fortschritt im Vergleich zu den Regelungen in anderen Ländern. Berlin ist beispielsweise das einzige Bundesland, das sogenannte angemessene Vorkehrungen im Gesetz festgeschrieben hat, also Maßnahmen, die eine konkrete Person bei ihrer Fahrt unterstützen. Das können barrierefreie Alternativen im Falle einer Störung sein, etwa auch die Kostenübernahme, wenn jemand stecken bleibt, beispielsweise weil der Aufzug defekt ist.

Und was sind Ihre Empfehlungen an die Bundesländer und alle anderen Akteure im Personennahverkehr?

Aichele: Die Bundesländer regeln die Erstellung von Nahverkehrsplänen in ihren jeweiligen Gesetzen zum öffentlichen Personennahverkehr. Sie müssen diese so weiterentwickeln, dass sie die Belange von Menschen mit Behinderungen vollständig berücksichtigen. Ausnahmen, die eine Zielerreichung der bundesgesetzlichen Vorgaben abschwächen, sind im Lichte der UN-BRK gesehen nur in engsten Grenzen möglich und sollten immer gut begründet sein. So müssen die Verantwortlichen ihre Nahverkehrspläne systematisch auf Barrierefreiheit hin überprüfen und bis 2022 einen vollständig barrierefreien Nahverkehr entwickeln.

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