Geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland: Was die Daten ans Licht bringen
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Meldung
Warum ein Bericht über die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt in Deutschland? Lina Schwarz und Silvia Schürmann-Ebenfeld, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Instituts, erläutern, was der Blick auf die aktuelle Datenlage verrät.
Sie haben einen Bericht über die Datenlage zu geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt in Deutschland vorgelegt – den ersten überhaupt. Warum jetzt und wozu braucht es einen solchen Bericht überhaupt?
Silvia Schürmann-Ebenfeld: Deutschland ist laut der 2018 in Kraft getretenen Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, rechtlich verpflichtet, Daten im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt zu erheben. Artikel 11 der Istanbul-Konvention fordert die Vertragsstaaten auf, Daten zu Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt und zu Täter*innen zu erheben. Die Expertengruppe zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, GREVIO, hat in ihrem Evaluationsbericht vom Oktober 2022 darauf aufmerksam gemacht, dass die Datenerhebung in Deutschland lückenhaft ist. So fehlt es etwa an Daten zu Gerichtsentscheidungen über den Entzug oder die Beschränkung des elterlichen Sorgerechts im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Bevor diese Datenlücken geschlossen werden können, muss erst einmal Wissen darüber vorhanden sein, zu welchen Aspekten von geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt überhaupt Daten vorliegen und zu welchen sie fehlen. Genau das untersucht unser Bericht. Er ist die Grundlage dafür, dass die Datenlage jetzt systematisch verbessert werden kann.
Die Istanbul-Konvention deckt eine große Spannbreite an Themen in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt ab, angefangen bei der Prävention über Schutz und Beratung bis hin zur Strafverfolgung. Zu welchen Themen ist die Datenlage besonders gut? Und wo tappen wir weiterhin im Dunkeln?
Lina Schwarz: Fangen wir bei der guten Nachricht an: Grundsätzlich liegen Daten in allen der von uns untersuchten Themenbereichen vor; entweder bei Bundesministerien oder nachgeordneten Behörden, aber auch auf der Länderebene oder bei nichtstaatlichen Dachverbänden. Bereiche wie Umfang und Ausmaß, Prävention, Zugang zu Schutz und Beratung sowie Gewaltschutz stehen auf einer soliden Datenbasis. Allerdings konnten wir auch Lücken identifizieren, insbesondere in Bezug auf das Sorge- und Umgangsrecht im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Auch bei der Strafverfolgung von Tatverdächtigen, bei der Entschädigung von Betroffenen sowie im großen Feld der digitalen Gewalt ist die Datenlage mangelhaft oder unvollständig. Das gilt auch für das Thema Femizide – die verfügbaren Datenquellen geben keinen Aufschluss über die Tatmotivation.
Welchen Beitrag leistet der Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland?
Schwarz: Er präsentiert die vorhandenen Datensätze und bewertet, inwiefern sie dazu geeignet sind, die Umsetzung der Verpflichtungen der Istanbul-Konvention durch staatliche Maßnahmen zu prüfen und ob sie sich für ein menschenrechtliches Monitoring eignen. Zudem erfasst der Bericht, inwiefern Deutschland durch ergänzende Datenerhebungen auf Forderungen von GREVIO reagiert hat.
Der Bericht hebt die Potenziale bestehender Datenquellen hervor, macht aber auch deutlich, dass viele behördlich erhobenen Daten nur eingeschränkt für ein menschenrechtsbasiertes Monitoring nutzbar sind. Wo liegen die Probleme genau?
Schürmann-Ebenfeld: In Deutschland werden administrative Daten in der Regel zu Verwaltungs- und nicht zu Forschungszwecken erhoben. Die Daten besitzen also eine völlig andere Funktion und berücksichtigen daher oft keine menschenrechtsbasierten Monitoring-Standards.Sie sind deshalb für ein menschenrechtsbasiertes Monitoring nur eingeschränkt nutzbar. Zudem liegen Daten nur in unstrukturierten Formaten vor, sodass ihre Aufbereitung und Analyse enorme Ressourcen kosten würde. Ein weiteres Hindernis ist die mangelnde Anschlussfähigkeit von Statistiken. So können wir in Deutschland beispielsweise keine Aussagen dazu treffen, wie viele der Anzeigen im Bereich häusliche oder sexualisierte Gewalt in Verurteilungen münden. Wichtig in Hinblick auf die Istanbul-Konvention ist auch, dass erfasst wird, ob von Diskriminierung betroffene Gruppen – etwa Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatuts – Zugang zu Schutz, Beratung und Unterstützung erhalten. Bislang gibt es keine aussagekräftigen Daten darüber, ob staatliche Angebote für diese Personengruppe zugänglich sind.
Und wie lassen sich diese Probleme lösen?
Schürmann-Ebenfeld: Aus unserem Bericht ergeben sich einige Schlüsselempfehlungen, wie sich die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland datenbasiert erfassen ließe. Die bereits vorhandenen behördlich erfassten Daten ließen sich durchaus auch zu anderen Zwecken nutzen. Denkbar wäre etwa, Daten, die bereits im Rahmen von Berichtspflichten auf europäischer und internationaler Ebene sowie für Verwaltungszwecke auf Bundes- und Länderebene erhoben werden, zu einem umfassenderen und vielseitigeren Datensatz zusammenzuführen und auszuwerten. Durch eine bessere Koordination zwischen Bund und Ländern bei der Datenerhebung und der Ausrichtung an menschenrechtlichen Standards könnten vergleichbare, aussagekräftige Daten generiert werden. Natürlich bedarf es dafür auch einer besseren finanziellen und personellen Ausstattung der staatlichen Stellen, die für die Datensammlung und -aggregation verantwortlich sind.
Wer soll jetzt Ihre Empfehlungen umsetzen? Wer ist am Zug?
Schwarz: Da gibt es klare Zuständigkeiten, denn die Umsetzung der Istanbul-Konvention ist Auftrag des Staates auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene – und insofern ist der Staat auch erster Adressat für die Umsetzung unserer Empfehlungen zur Weiterentwicklung bestehender Datenerfassungen sowie zur Einführung neuer Erhebungen. Aber natürlich lassen sich die Empfehlungen letztlich nur effektiv umsetzen, wenn die verschiedenen Regierungsebenen, zivilgesellschaftliche Organisationen und andere relevante Akteure zusammenarbeiten. Tatsächlich ist also ein koordinierter Ansatz auf nationaler Ebene erforderlich, um die Datenerfassung zu verbessern, Lücken zu schließen und eine umfassende Grundlage für die Überwachung geschlechtsspezifischer Gewalt in Übereinstimmung mit den Standards der Istanbul-Konvention zu schaffen.
Welche Rolle spielt die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Instituts dabei?
Schürmann-Ebenfeld: Die Berichterstattungsstelle spielt dabei eine wesentliche Rolle. Schließlich monitoren wir nicht nur die Umsetzung der Istanbul-Konvention, sondern leiten aus den daraus gewonnen Erkenntnissen auch Empfehlungen für Politik und Verwaltung ab. Unsere Erfahrung zeigt, dass viele relevante Bundes- und Landesbehörden ein großes Interesse daran haben, mit uns zusammenzuarbeiten und die Datenerhebungsprozesse anzupassen, Standards für die Datennutzung und -analyse zu entwickeln und sicherzustellen, dass die erhobenen Daten den menschenrechtlichen Anforderungen genügen. Wir sind zuversichtlich, dass diese gute Zusammenarbeit auch zu einer besseren Datengrundlage im Sinne der Umsetzung der Istanbul-Konvention beitragen wird.
Zur Person:
Silvia Schürmann-Ebenfeld ist Sozialwissenschaftlerin und seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gewalt gegen Frauen, Kinderschutz und menschenrechtsbasierte Datenerhebung und -auswertung.
Lina Schwarz ist Sozialwissenschaftlerin und seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gewalt gegen Frauen und menschenrechtsbasierte Datenerhebung und -auswertung.
Verfügbarkeit von Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt
Der Jahresbericht gibt einen Überblick über die Arbeitsschwerpunkte des Instituts im Jahr 2023, informiert über seine Aufgaben, gibt einen Überblick über Zahlen, Projekte, Veranstaltungen, Publikationen und enthält Informationen über Service-Angebote.
Darin…
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