Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland
Erster „Monitor Gewalt gegen Frauen“: Strategien, Standards und mehr Geld dringend nötig
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Pressemitteilung
Berlin. Bund, Länder und Kommunen sind seit 2018 verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhindern, vor ihr zu schützen und Täter wirksam strafrechtlich zu verfolgen. „Sechs Jahre nach Inkrafttreten der Istanbul-Konvention in Deutschland fehlen immer noch eine nationale Gesamtstrategie, flächendeckende verbindliche Standards und notwendige Ressourcen, um das Recht aller Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies Leben umzusetzen“, erklärt Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. „Nicht zuletzt mangelt es an Verständnis für die strukturellen Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt“, so Rudolf weiter. Das sei – trotz vereinzelter Fortschritte – das alarmierende Fazit des ersten „Monitor Gewalt gegen Frauen“. Den Bericht hat die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte heute in Berlin veröffentlicht.
Der Monitor, der den Zeitraum 2020 bis 2022 untersucht und auch aktuellere Entwicklungen einbezieht, basiert auf einer umfassenden Datenanalyse: Die Berichterstattungsstelle analysiert erstmals Erhebungen aus allen 16 Bundesländern und bewertet auch Polizeistatistiken sowie Daten von Bundesministerien, Behörden und Fachverbänden. Die Untersuchung umfasst ein breites Themenspektrum – von Präventionsmaßnahmen über Schutz- und Beratungsangebote bis hin zu Gewaltschutzmaßnahmen und digitaler Gewalt. Dabei nimmt der Bericht auch besonders vulnerable Gruppen wie geflüchtete Frauen und Frauen mit Behinderungen in den Blick. Weitere zentrale Themen sind Femizide, das Umgangs- und Sorgerecht sowie Asyl und Migration.
„Positiv bewertet der Monitor einige gesetzgeberische Erfolge, etwa das Anti-Stalking-Gesetz oder die Aufnahme geschlechtsspezifischer Tatmotive ins Strafrecht. Dennoch: Das Gesamtbild der Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland ist besorgniserregend bis alarmierend“, bilanziert Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt. „Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist unerträglich. Wir brauchen endlich eine Gesamtstrategie von Politik, Verwaltung und Justiz, um die Betroffenen besser zu schützen und der Gewalt ein Ende zu setzen.“
Ein zentrales Ergebnis des Monitors: Allzu oft wird Gewalt gegen Frauen und Mädchen verharmlost – von Polizei, Justiz und der Öffentlichkeit. Femizide werden häufig als individuelle Tragödie verzweifelter Täter bagatellisiert und folglich weniger hart bestraft. „Wenn ein Mann eine Frau tötet, weil sie sich trennt, ist das keine ‚bedauernswerte Familientragödie‘, sondern Mord“, sagt Tanrıverdi.
Neben Problemen in der strafrechtlichen Praxis identifiziert die Berichterstattungsstelle auch Hürden im Aufenthaltsrecht. Geflüchtete Frauen, deren Aufenthaltstitel an den Ehemann gebunden ist, müssen bei einer Trennung wegen häuslicher Gewalt Nachweise erbringen. Nur dann können sie einen eigenen Aufenthaltstitel erhalten. Diese überzogenen Anforderungen ignorieren sowohl die Lebensrealität der Betroffenen als auch ihre prekäre Situation in der Gewaltspirale.
Als besonders problematisch beschreibt der Monitor die digitale Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt. „Frauen werden im Netz sexuell beleidigt und bedroht, sie werden in Saunen und auf Toiletten heimlich fotografiert, intime Bilder oder sogenannte „Rachepornos“ werden online hochgeladen, sie erhalten unaufgefordert Penisbilder“, beschreibt Tanrıverdi die digitale Gewalt. „Mobiltelefone und Computer ermöglichen Tätern einen nahezu grenzenlosen Zugriff auf Betroffene, trotz alledem haben Polizei, Justiz und Gesetzgeber bisher keine umfassenden Gegenmaßnahmen entwickelt.“
Scharf kritisiert die Berichterstattungsstelle, dass es nicht genügend Frauenschutzeinrichtungen in Deutschland gibt. Der Monitor zeigt: Kein Bundesland erreichte 2022 die nach der Istanbul-Konvention empfohlene Anzahl von 2,5 Familienplätzen pro 10.000 Einwohner*innen. 2022 fehlten mehr als 13.000 Betten, an 277 Tagen waren die Schutzeinrichtungen komplett belegt, etwa 15.000 Frauen und Mädchen konnten nicht aufgenommen werden. Die Hilfseinrichtungen, die es gibt, sind nicht ausreichend oder nur zeitlich begrenzt finanziert.
„Der Mangel an Beratungs- und Schutzeinrichtungen ist aus menschenrechtlicher Sicht besonders schwerwiegend. Er gefährdet den Schutz und die Beratung von Frauen und Mädchen“, so Tanrıverdi. Sie empfiehlt dem Bundestag dringend, das Gewalthilfegesetz zu verabschieden. Mit dem jetzt vorgelegten Gewalthilfegesetz will die Bundesregierung unter anderem mehr Frauenhausplätze und Beratungsangebote gewährleisten sowie einen bundeseinheitlichen individuellen Rechtsanspruch auf diskriminierungsfreien und kostenfreien Zugang zu Schutz und Beratung sichern.
Zentrale Empfehlungen
Die Bundesregierung muss eine bundesweite Gewaltschutzstrategie verabschieden und eine nationale Koordinierungsstelle einrichten.
Der Bundestag muss Schutzlücken gesetzlich schließen. Dazu gehören insbesondere Änderungen im Asyl- und Migrationsrecht, im Umgangs- und Sorgerecht sowie der Erlass eines Gewalthilfegesetzes, das einen bundeseinheitlichen Rechtsanspruch auf diskriminierungsfreien und kostenfreien Zugang zu Schutz und Beratung vorsieht.
Bund und Länder müssen Schutz- und Beratungseinrichtungen flächendeckend und bedarfsgerecht ausbauen sowie personell und finanziell nachhaltig sichern. Zudem braucht es bundesweit einheitliche Mindeststandards für ihre Arbeit. Der Zugang zu diesen Einrichtungen muss für alle Betroffenen barriere-, kosten- und diskriminierungsfrei sichergestellt sein.
Um gefährdete Frauen im konkreten Einzelfall zu schützen, müssen die Länder bundeseinheitliche Standards für die Gefährdungsanalyse und das Gefahrenmanagement gemäß der Istanbul-Konvention entwickeln. Alle relevanten Akteure, wie etwa Polizei, Gerichte und zivilgesellschaftliche Organisationen, müssen beteiligt und der Informationsfluss zwischen ihnen sichergestellt werden.
Bund und Länder müssen standardisierte und verpflichtende Fortbildungen zur Prävention und besseren Rechtsverfolgung einführen. Diese sollten sich insbesondere an Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz richten. Darüber hinaus sollten Bund und Länder die Täterarbeit ausbauen und dabei verstärkt positive männliche Rollenbilder fördern.
Bund und Länder müssen eine systematische, einheitliche und intersektionale Datenerhebung sicherstellen, die menschenrechtliche Anforderungen erfüllt. Notwendig sind auch harmonisierte Datenstandards, regelmäßige Dunkelfeldstudien sowie die menschenrechtsbasierte Weiterentwicklung polizeilicher Statistiken.
Die Kurzfassung des Berichts bietet einen knappen Überblick darüber, wie sich das Phänomen geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland seit dem 1. Januar 2020 entwickelt hat und welche Anstrengungen Bund und Länder unternommen haben, um ihren menschen- und…
Der Bericht beschreibt umfassend, wie sich das Phänomen geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland seit dem 1. Januar 2020 entwickelt hat und welche Anstrengungen Bund und Länder unternommen haben, um ihren menschen- und europarechtlichen Verpflichtungen in…
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