Deutschland hat sich verpflichtet, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention umzusetzen. Artikel 59 der Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, Betroffene häuslicher Gewalt in bestimmten Situationen aufenthaltsrechtlich abzusichern. Die Bundesregierung hat ihre Vorbehalte gegenüber Artikel 59, Absatz 2 und 3 mit Wirkung zum Februar 2023 nicht verlängert. In Deutschland ist Artikel 59 noch nicht vollständig umgesetzt.
Anlässlich des Internationalen Tags der Migrant*innen am 18. Dezember erläutern Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt, und Helene Middelhauve, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Berichterstattungsstelle, welche rechtlichen Änderungen im Aufenthaltsrecht notwendig sind und was sie konkret für Betroffene häuslicher Gewalt mit Migrations- oder Fluchterfahrung bedeuten können.
In Ihrer rechtlichen Analyse „Aufenthaltstitel für Betroffene häuslicher Gewalt“ stellen Sie fest, dass Deutschland die Verpflichtungen aus Artikel 59 Absatz 2 und Absatz 3 noch nicht vollständig umgesetzt hat. Inwiefern bestehen Schutzlücken?
Müşerref Tanrıverdi: Deutschland ist rechtlich verpflichtet, die Bestimmungen des Artikels 59 der Istanbul-Konvention vollumfänglich umzusetzen. Aus Sicht der Bundesregierung sind die Anforderungen des Artikels bereits durch geltendes Recht erfüllt, da die persönliche Situation der Betroffenen von häuslicher Gewalt bei jeder aufenthaltsrechtlichen Prüfung berücksichtigt werden muss. Wir teilen diese Ansicht nicht, denn es ist erforderlich, dass die aufenthaltsrechtliche Prüfung anhand der von der Istanbul-Konvention vorgegebenen Kriterien wie etwa gesundheitliche Versorgung, Sicherheit der Betroffenen oder familiäre Situation erfolgt. Wenn diese Kriterien erfüllt sind, besteht ein Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels. Die bestehende Rechtslage ermöglicht das nicht. Auch die Erteilung einer Duldung zur Durchführung eines Strafverfahrens reicht nicht zur Umsetzung von Artikel 59 aus.Wir sehen daher noch Umsetzungsbedarf, was die vorliegende Analyse aufzeigt.
Jetzt zum konkreten Inhalt des Artikels 59, Absätze 2 und 3. Welche Rechte garantiert der Artikel den Betroffenen?
Helene Middelhauve: Die Vorgaben aus Artikel 59 sollen verhindern, dass Gewaltbetroffene aus Angst vor Abschiebung oder Verlust des Aufenthaltstitels in einer gewaltvollen Beziehung ausharren. Absatz 1 dieses Artikels legt fest, dass Betroffene, die häuslicher Gewalt in der Ehe ausgesetzt sind, aber nur ein von den Ehepartner*innen abgeleitetes Aufenthaltsrecht besitzen, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten sollen. Und zwar unabhängig davon, wie lange sie schon verheiratet sind. Absatz 2 sagt aus, dass Betroffene nicht gemeinsam mit dem Gewalttäter abgeschoben werden dürfen, ohne dass ihr Aufenthaltsrecht geprüft wird. Absatz 3 sieht einen Aufenthaltstitel für Betroffene häuslicher Gewalt aufgrund ihrer persönlichen Lage oder zur Mitwirkung in Ermittlungs- oder Strafverfahren vor. Im Unterschied zu Absatz 1 kommt es hier nicht darauf an, in welcher aufenthaltsrechtlichen Ausgangslage sich die Betroffenen befinden. Absatz 3 gilt also auch für Betroffene in prekären aufenthaltsrechtlichen Situationen, wenn sie zum Beispiel mit einer Duldung oder in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität leben. Zudem ist hier häusliche Gewalt auch außerhalb der Ehe, beispielsweise gegenüber Kindern, umfasst.
Wo sehen Sie hier Handlungsbedarf für die Bundesregierung?
Tanrıverdi: Zur vollständigen Umsetzung von Artikel 59 müssten verlängerbare Aufenthaltstitel für Betroffene in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen werden. Die Istanbul-Konvention sieht zwar vor, dass nur ein Aufenthaltstitel, entweder aufgrund der persönlichen Lage oder zur Mitwirkung im Ermittlungs- oder Strafverfahren, verpflichtend umgesetzt werden muss. Allerdings ist es für einen umfassenden und diskriminierungsfreien Schutz von allen Betroffenen häuslicher Gewalt aus unserer Sicht dringend notwendig, beide Aufenthaltstitel zu schaffen.
Bei der Prüfung der persönlichen Lage sollen in einer Gesamtschau Faktoren wie etwa die Sicherheit der Betroffenen, ihr Gesundheitszustand, ihre familiäre Situation und die Situation in ihrem Herkunftsland berücksichtigt werden. Zudem dürfen die Nachweisanforderungen von Fällen häuslicher Gewalt nicht zu hoch sein. Hier sollten bereits die Aussage der Betroffenen oder eine Stellungnahme einer Fachberatungsstelle als Nachweis ausreichen. Wichtig für einen umfassenden Schutz der Betroffenen ist auch, dass mit der Erteilung des Aufenthaltstitels der Zugang zum Arbeitsmarkt, Sozialleistungen und Familiennachzug einhergeht.
Was empfiehlt die Berichterstattungsstelle zur Umsetzung von Artikel 59 Absatz 1 und 2?
Tanrıverdi: Wir empfehlen dem Gesetzgeber, allen von häuslicher Gewalt Betroffenen, deren Aufenthaltsrecht von den Ehepartner*innen abhängt, die Möglichkeit einzuräumen, einen frühzeitigen, eigenständigen Aufenthalt zu beantragen. Außerdem sollten auch hier die Nachweisanforderungen reduziert und die Auslegung durch die Behörden und Gerichte an die Istanbul-Konvention angepasst werden. Wir regen in diesem Kontext an, den Gewaltbegriff der Istanbul-Konvention im Aufenthaltsgesetz als Legaldefinition aufzunehmen. Dieser Gewaltbegriff umfasst neben der körperlichen Gewalt auch etwa psychische oder wirtschaftliche Gewalt sowie die digitale Dimension von Gewalt. In der Praxis wird dies häufig nicht anerkannt.
Aber ist das nicht schon jetzt im Aufenthaltsgesetz geregelt?
Middelhauve: Ja und nein. Es gibt zwar eine Härtefallregelung, allerdings bietet diese nicht den in der Istanbul-Konvention vorgesehen Schutz. Bestimmte Personengruppen, die aufenthaltsrechtlich von den Ehepartner*innen abhängen, können sich nicht auf die Härtefallregelung berufen. Außerdem gibt es verhältnismäßig hohe Voraussetzungen für die Annahme eines Härtefalls, wodurch Schutzlücken entstehen.
Angenommen, der Gesetzgeber würde das Aufenthaltsgesetz entsprechend ändern. Sind dann alle Vorgaben aus der Instanbul-Konvention vollständig umgesetzt?
Tanrıverdi: Nein. Neben der Schaffung und Anpassung der Aufenthaltstitel ist es zusätzlich wichtig, dass Personen, die in Ausländerbehörden, Gerichten, Aufnahmestrukturen oder Fachberatungsstellen tätig sind und somit in Kontakt mit gewaltbetroffenen Frauen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte kommen, verpflichtend fortgebildet werden. Denn die Istanbul-Konvention verfolgt einen umfassenden Ansatz bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Wichtig ist daher auch, dass Betroffene über ihre Rechte aufgeklärt und über Unterstützungsstrukturen infomiert werden.
Empfehlungen der Berichterstattungstelle geschlechtsspezifische Gewalt
Aufnahme zwei neuer Tatbestände in das Aufenthaltsgesetz, die einen verlängerbaren Aufenthaltstitel für Opfer von häuslicher Gewalt aufgrund der persönlichen Lage oder zur Mitwirkung im Ermittlungs- und Strafverfahren vorsehen
Ausweitung der Stabilisierungs- und Bedenkfrist in § 59 Abs. 7 AufenthG auf Betroffene häuslicher Gewalt
Niedrigschwellige Ausgestaltung der Anforderung an die Nachweise für die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen in Anwendungshinweisen
Erweiterung des Personenkreises, der sich auf die Härtefallregelung berufen kann, auf alle Betroffenen in eheabhängigen Aufenthaltssituationen
Aufnahme des Gewaltbegriffs der Istanbul-Konvention (Art. 3) als Legaldefinition in das Aufenthaltsgesetz
Aus- und Fortbildung der Fachkräfte und Mitarbeitenden in den Ausländerbehörden und Gerichten sowie Fachkräfte in den Unterstützungsstrukturen, damit sie Gewaltformen und spezifische Dynamiken erkennen und angemessen reagieren können
Aufklärung und Information von Migrant*innen über ihre Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten
Umsetzungsstand der Aufenthaltstitel gemäß Istanbul-Konvention
Die Kurzfassung des Berichts bietet einen knappen Überblick darüber, wie sich das Phänomen geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland seit dem 1. Januar 2020 entwickelt hat und welche Anstrengungen Bund und Länder unternommen haben, um ihren menschen- und…
Der Bericht beschreibt umfassend, wie sich das Phänomen geschlechtsspezifische Gewalt in Deutschland seit dem 1. Januar 2020 entwickelt hat und welche Anstrengungen Bund und Länder unternommen haben, um ihren menschen- und europarechtlichen Verpflichtungen in…
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