Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Fluchtgrund
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Meldung
Frauen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung fliehen, bekommen in vielen Fällen keinen asylrechtlichen Schutz. Mit seinem Urteil vom 16. Januar 2024 stellt der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun klar, dass geschlechtsspezifische Gewalt in allen Formen zu Flüchtlingsschutz führen kann. Gewalt gegen Frauen kann nach der EU-Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95) einen Verfolgungsgrund darstellen, so der EuGH. Die Richtlinie müsse im Einklang mit dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) ausgelegt werden.
Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention zeigt Wirkung
Die Konvention verpflichtet in Artikel 60 dazu, geschlechtsspezifische Gewalt als eine Form der Verfolgung bei der Prüfung des Flüchtlingsstatus anzuerkennen. Der EuGH stellt klar: Die Istanbul-Konvention muss auch dann zur Auslegung der Qualifikationsrichtlinie herangezogen werden, wenn der betreffende EU-Mitgliedstaat die Konvention nicht unterzeichnet oder nicht ratifiziert hat. Dies zeigt, was für einen entscheidenden Schritt der Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention für einen einheitlichen Schutz von Betroffenen bedeutet, auch wenn einzelne Mitgliedstaaten die Konvention nicht ratifiziert haben. Die konsequente Einbeziehung von Menschenrechtsinstrumenten bei der Auslegung von EU-Recht kann auch auf andere Konventionen, wie beispielsweise die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels, übertragen werden.
Häusliche Gewalt ist ein strukturelles Problem
Mit dem Urteil arbeitet der EuGH heraus: Frauen, die in ihrem Herkunftsland Gewalt ausgesetzt sind, können allein aufgrund des Geschlechts eine soziale Gruppe im Sinne der Qualifikationsrichtlinie darstellen und einen Flüchtlingsstatus erhalten. Auch Gewalt, die von Privatpersonen ausgeht, zum Beispiel von einem Familienmitglied, Partner*in oder Ehepartner*in, kann nach dem EuGH-Urteil zu asylrechtlichem Schutz führen, nicht nur Gewalt, die vom Staat ausgeht. Bisher wurden hierbei in der Rechtspraxis uneinheitliche Maßstäbe angelegt und die Gewalterfahrung zum Teil als privates Problem betrachtet. In seinem aktuellen Urteil stellt der EuGH klar: Häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt sind kein privates, sondern ein strukturelles Problem.
Bedeutung für die deutsche Behörden- und Gerichtspraxis
Im deutschen Asylgesetz ist geregelt, dass eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann anzunehmen ist, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht der betroffenen Person anknüpft. In der Praxis wird dies von den zuständigen Behörden und (Ober-)Gerichten jedoch uneinheitlich ausgelegt, was zur Folge hat, dass vielen Frauen, die geschlechtsspezifische Verfolgung erleben, kein Schutzstatus erteilt wird. Von einigen Behörden und Gerichten wird etwa für die Anerkennung als soziale Gruppe für erforderlich gehalten, dass die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als „andersartig“ wahrgenommen wird. Bei Frauen könne das aufgrund der Größe der Gruppe nicht eintreffen.
Dem EuGH zufolge ist die Gruppengröße zur Entscheidung dieser Frage jedoch nicht relevant. Entscheidender sei, dass Frauen aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen von der Gesellschaft anders wahrgenommen würden.
Nationale Gerichte und Behörden in der EU sind nun verpflichtet, einheitlich umzusetzen, was Teile der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft schon lange fordern: Frauen als soziale Gruppe anzuerkennen und ihnen bei geschlechtsspezifischer Verfolgung konsequent die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Instituts empfiehlt zudem dringend die vollständige Umsetzung von Artikel 59 Istanbul-Konvention. Deutschland ist nach diesem Artikel dazu verpflichtet, Aufenthaltstitel vorzusehen, die Betroffene schützen, die häusliche Gewalt in Deutschland erleben.
Diese und weitere Entscheidungen finden Sie in unserer Rechtsprechungsdatenbank „ius gender & gewalt“. Die kostenlose Datenbank enthält über 200 Entscheidungen und Dokumente, die im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt stehen. Auch die Berichterstattungsstelle Menschenhandel hat das Urteil für die Veröffentlichung in die Rechsprechungsdatenbank des KOK e.V. im Rahmen ihrer Kooperation zusammengefasst und vorbereitet.
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