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Beschwerde-Nr. 33401/02

EGMR, Urteil vom 09.09.2009, Beschwerde-Nr. 33401/02, Opuz gegen die Türkei

1. Sachverhalt

Die in der Türkei lebende Nahide Opuz (N. O.) und ihre Mutter wurden über viele Jahre von ihrem Ehemann H. O.  angegriffen und bedroht; beide Frauen verletzte er mehrfach lebensgefährlich. Zwischen dem zweiten und dritten Übergriff trat im Januar 1998 das türkische Gesetz gegen häusliche Gewalt in Kraft, das zivilrechtliche Schutzanordnungen ermöglichte.
In nur einem Fall erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen H. O. Die Behörden begründeten diese Entscheidung mit Mangel an Beweisen oder damit, dass die Frauen ihre Anzeigen zurückgezogen hätten, obwohl diese erklärten, er habe gedroht, sie andernfalls zu töten. In einem Fall wurde H. O. wegen der Verletzung seiner Frau mit sieben Messerstichen zu einer Geldbuße verurteilt, die in Raten bezahlt werden konnte. H. O. wurde mehrfach verhaftet, aber immer wieder freigelassen. Als die beiden Frauen den Versuch unternahmen wegzuziehen, erschoss der Mann seine Schwiegermutter. Diese hatte zwei Wochen vor der Tat wegen unmittelbarer Lebensgefahr um Schutzmaßnahmen gebeten.
H. O. wurde wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Während des Rechtsmittelverfahrens entließen die Behörden H. O. mit der Begründung, dass sonst die gesetzliche Höchstdauer der Untersuchungshaft überschritten würde. Nach Angaben von N. O. bedrohte er sie daraufhin weiter. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR, sechs Jahre nach der Tat, war die Revision vor dem Kassationsgericht noch immer anhängig.

2. Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

N. O. berief sich in ihrer Beschwerde vor dem EGMR 2002 auf Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), 14 (Diskriminierungsverbot), 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) sei verletzt, weil die Behörden das Leben ihrer Mutter nicht geschützt hätten. Häusliche Gewalt werde in der Türkei von Behörden und Gesellschaft toleriert. Gerichte bestraften "Ehrenmorde" mild oder gar nicht. Die gegen H. O. ausgesprochene Strafe sei nicht abschreckend und im Übrigen deutlich milder als normale Urteilssprüche bei Mord gewesen. Die Behörden seien passiv geblieben, hätten auf Beschwerden hin nicht gehandelt und mehrfach versucht, N. O. und ihrer Mutter von Anzeigen abzuraten.
Ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) liege vor, da der Staat nachlässig mit der Gewalt, den Verletzungen und Todesdrohungen gegen ihre Person umgegangen sei. Dadurch habe sie Schmerz und Angst erfahren. Die körperlichen und seelischen Verletzungen, die H. O. ihr zugefügt habe, erfüllten den Tatbestand der Folter. Trotz ihrer mehrfachen Hilferufe hätten die Behörden sie nicht gegen ihren Mann geschützt. Es sei ihr so vorgekommen, als ob seine Gewalttaten unter staatlichem Schutz gestanden hätten. Das unsensible Verhalten der Behörden und deren Toleranz gegenüber der Gewalt hätten dazu geführt, dass sie sich erniedrigt, hoffnungslos und verletzlich gefühlt habe.  
Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikeln 2 (Recht auf Leben) und 3 (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) EMRK sei verletzt, da N. O. und ihre Mutter wegen ihres Geschlechts diskriminiert worden seien. Die damaligen türkischen Gesetze würden die Familienehre über das Leben einer Frau stellen. Das Zivil- wie das Strafrecht behandelten Frauen als Menschen zweiter Klasse, als Eigentum der Gesellschaft und der Männer der Familie. Beispielsweise ordne das Strafrecht sexualisierte Gewalt gegen Frauen in das Kapitel "Straftaten gegen die öffentliche und familiäre Ordnung" ein und lege damit geringere Strafen für Tötungsdelikte im sozialen Nahraum fest. Auch nach den gesetzlichen Reformen tolerierten Gerichte und Behörden häusliche Gewalt noch immer und garantierten Straflosigkeit. N. O. und ihre Mutter seien nur deshalb verletzt worden, weil sie Frauen seien.
Eine Verletzung von Artikel 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK liege vor, da die Strafverfahren gegen ihren Mann nicht effektiv gewesen seien und N. O. und ihrer Mutter nicht ausreichend Schutz gewährt hätten.

Die türkische Regierung, gegen die sich die Beschwerde richtete, wies diese zurück. Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) sei nicht verletzt, weil die Behörden umgehend auf die Beschwerden reagiert hätten. Dadurch, dass die Frauen ihre Strafanträge zurückgezogen haben, hätten sie der Verfolgung die Grundlage entzogen und damit zur Straflosigkeit beigetragen. In anderen Fällen habe die schlechte Beweislage keine Verurteilung ermöglicht. Ferner hätten die Behörden die Eheleute nicht trennen können, da dies gegen den Schutz des Familienlebens aus Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verstoßen hätte. In ihrer Anzeige habe die Mutter keine speziellen Schutzmaßnahmen beantragt; außerdem habe eine Anhörung stattgefunden. Schließlich sei H. O. wegen Mordes verurteilt und schwer bestraft worden.
Ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) liege nicht vor, da der Staat durch die Rücknahme ihrer Strafanträge an der Strafverfolgung gehindert worden sei. N. O. hätte zudem weitere Rechtsbehelfe in Anspruch nehmen oder Zuflucht in einem Frauenhaus nehmen können.
Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit den Artikeln 2 (Recht auf Leben) und 3 EMRK (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) sei nicht verletzt, da Gewalt von beiden Seiten ausgegangen sei. Eine Diskriminierung von Frauen in Recht und Verwaltungspraxis sei nicht erkennbar. Das Recht entspreche nach den Reformen internationalen Standards im Bereich häuslicher Gewalt, so die türkische Regierung. Ferner habe die Beschwerdeführerin die Diskriminierung gegenüber den Behörden nicht thematisiert, sodass der innerstaatliche Rechtsweg nicht ausgeschöpft sei.

Die Beschwerdeführerin legte umfangreiche Berichte und Statistiken von Amnesty International, der Diyarbakır Bar Association und anderen Nichtregierungsorganisationen über Diskriminierung gegen Frauen vor. Diese Berichte kamen zu dem Schluss, dass die türkischen Behörden häusliche Gewalt tolerieren. Die Rechtsbehelfe gegen Gewalt seien nicht effektiv. Unter anderem ergab sich aus den Berichten, dass die höchste Anzahl von Betroffenen häuslicher Gewalt in Diyarbakır festgestellt wurde, und dass es sich bei den Betroffenen fast ausschließlich um von ihren Familien wirtschaftlich abhängige Frauen, meist Kurdinnen mit geringem Bildungsstand, handelt. Bei Anzeigen sähen sich die Behörden regelmäßig als "Mediatoren", die zur Rücknahme der Anzeige und zur Rückkehr in die Familie rieten und die Vorfälle als "Familienangelegenheit" behandelten, bei denen sie nicht einschreiten könnten. Einstweilige Maßnahmen unter dem Gesetz gegen häusliche Gewalt würden nur verspätet erlassen, da die Gerichte sie als eine Art Scheidungsverfahren ansähen. Strafen würden regelmäßig aus Gründen von Gewohnheitsrecht, Tradition oder Ehre abgemildert.

3. Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) hinsichtlich der Ermordung der Mutter der Beschwerdeführerin und eine Verletzung von Artikel 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) fest, weil die Behörden die Beschwerdeführerin nicht zu schützen vermocht hatten. Es fehle ein rechtlicher Rahmen, der hätte sicherstellen können, dass Strafverfahren in solchen Fällen trotz zurückgezogener Anzeige weitergeführt werden. Der Gerichtshof stellte außerdem – zum ersten Mal in einem Fall häuslicher Gewalt – eine Verletzung von Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 2 und 3 fest, weil die beiden Frauen in erster Linie aufgrund ihres Geschlechts von der Gewalt betroffen waren.
Einen Rückgriff auf Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) EMRK hält er nicht für erforderlich, da der Unrechtsgehalt dem Wesen nach nicht über die festgestellten Verletzungen hinausgehe.

3.1 Zulässigkeit: Beschwerdefrist und Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

Entgegen der Darstellung der türkischen Regierung, dass die Vorfälle vor 2001 wegen Ablaufs der Beschwerdefrist nicht mehr gerügt werden könnten, geht der EGMR davon aus, dass N. O. die Beschwerde in Bezug auf alle Gewalttaten innerhalb der Frist des Artikels 35 Absatz 1 EMRK (sechs Monate nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung) eingelegt hat. Die Gewalt, der N. O. und ihre Mutter über einen langen Zeitraum ausgesetzt waren, könne nicht in einzelne, getrennte Abschnitte unterteilt werden, sondern müsse als eine Kette von Vorfällen betrachtet werden, die miteinander verbunden sind. Die Tötung der Mutter könne als der Zeitpunkt betrachtet werden, an dem sich N. O. der Ineffektivität der nationalen Rechtsbehelfe bewusst wurde. Danach habe sie ohne zeitliche Verzögerung Beschwerde erhoben (Rz. 108 ff.).
Die Fragen, ob sie zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges hätte weitere Rechtsmittel einlegen müssen oder ob sie ihren Strafantrag nicht hätte zurücknehmen dürfen, verknüpft der EGMR mit der Frage, ob die vorhandenen Rechtsmittel auch tatsächlich effektiv sind und verschiebt ihre Beantwortung in die Begründetheit (Rz. 114 ff.).

3.2 Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung bei häuslicher Gewalt unter Artikel 2 EMRK (Rz. 128 ff.)

Grundsätze
Der EGMR legt zunächst die Grundsätze aus seiner Entscheidung "Osman gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 23452/94) dar und betont, dass Staaten die vorrangige Verpflichtung hätten, Straftaten durch effektive, abschreckende Strafgesetze vorzubeugen und einen Strafverfolgungsapparat für die Verhinderung, Beseitigung und Bestrafung von Verstößen gegen diese Vorschriften vorzuhalten. Unter gewissen Umständen könne Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) auch die Verpflichtung einschließen, Präventionsmaßnahmen zum Schutz von Privatpersonen zu treffen, deren Leben durch andere Privatpersonen gefährdet ist. Jedoch dürfe diese Pflicht nicht zu weit ausgelegt werden. Nicht jede behauptete Lebensgefährdung könne zu einer Verpflichtung unter der EMRK führen, Präventionsmaßnahmen im individuellen Fall zu ergreifen. Damit eine Verpflichtung angenommen werden könne, müsse vielmehr feststehen, dass

1. die Behörden zu dem entsprechenden Zeitpunkt wussten oder hätten wissen müssen, dass das Leben eines Menschen durch einen anderen Menschen tatsächlich und unmittelbar gefährdet ist,

2. die Behörden versäumt haben, in ihrem Zuständigkeitsbereich liegende Maßnahmen zu treffen, von denen bei verständiger Betrachtung angenommen werden konnte, dass sie diese Gefahr hätten verhindern können.

Es genügt, wenn Beschwerdeführende nachweisen können, dass die Behörden nicht alles unternommen haben, was verständigerweise von ihnen zur Vermeidung einer tatsächlichen und unmittelbaren Gefahr erwartet werden konnte. Dies muss in jedem Einzelfall anhand aller verfügbaren Umstände überprüft werden.

Anwendung der Grundsätze (Rz. 131-153)
Der EGMR stellt im Ergebnis fest, dass die Türkei ihre Pflicht nach Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) dadurch verletzt hat, dass sie den Tod der Mutter nicht verhinderte (Rz. 152).
Straf- und zivilrechtliche Rechtsbehelfe hätten sich als ineffektiv erwiesen. Das Strafrechtssystem und seine konkrete Anwendung in diesem Fall hätten keinen angemessenen Abschreckungseffekt bewirkt. Unzureichende Gesetze und Fehler in der Rechtsanwendung hätten den Abschreckungseffekt des vorhandenen Justizsystems ausgehebelt. Sobald die Behörden Kenntnis von der Situation erlangten, hätten sie angemessene Präventionsmaßnahmen ergreifen müssen. Angemessene Präventionsmaßnahmen seien solche, die dazu geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit weiterer Drohungen des Täters zu verringern. Treffen die Behörden solche Maßnahmen nicht, dürften sie sich nicht auf das Verhalten der Betroffenen berufen (Rz. 153).

a. Vorhersehbarkeit eines tödlichen Angriffs auf die Mutter der Beschwerdeführerin (Rz. 133 ff.)
Unter Aufzählung der Vorfälle, Anzeigen und der Reaktionen der Behörden und Gerichte stellt der EGMR fest, dass es sich um eskalierende Gewalt gegen die Beschwerdeführerin und ihre Mutter gehandelt habe. Die von H. O. begangenen Straftaten seien schwerwiegend genug gewesen, um Präventionsmaßnahmen zu rechtfertigen. Ferner seien die Gesundheit und Sicherheit beider Frauen weiterhin bedroht gewesen. Es sei offensichtlich gewesen, dass gegen H. O. zahlreiche Vorwürfe häuslicher Gewalt vorlagen und deshalb eine bedeutende Gefahr weiterer Vorfälle bestand. Durch die Bitte um Schutz der Mutter war den Behörden auch bekannt, dass unmittelbare Lebensgefahr bestand. Der EGMR weist hier darauf hin, dass er nicht mit Sicherheit sagen könne, dass die Behörden die Tötung der Mutter hätten verhindern können. Unter Verweis auf seine Entscheidung "E. und andere gegen das Vereinigte Königreich" (Beschwerde-Nr. 33218/96) stellt er aber fest, dass der Staat auch dann hafte, wenn eine tatsächliche Aussicht darauf bestand, dass das Ereignis verhindert oder der Schaden gemildert werden könne.

b. Pflicht zur Ermittlung und Strafverfolgung trotz Rücknahme des Strafantrags (Rz. 138)
Der EGMR stellt fest, dass in den Mitgliedstaaten keine einheitliche Auffassung dazu bestehe, ob Ermittlungen bei häuslicher Gewalt weitergeführt werden können, wenn die Betroffenen den Strafantrag zurücknehmen. Nach ausführlicher Untersuchung der Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten arbeitet der EGMR folgende Anhaltspunkte heraus, die bei der Entscheidung, ob Ermittlungen im Bereich häuslicher Gewalt fortzuführen sind, Berücksichtigung finden können:

• Schwere der Straftat
• Vorliegen körperlicher oder seelischer Gewalt
• Waffengebrauch, Drohungen nach dem Angriff und/oder planmäßiges Handeln durch den Beschuldigten
• (körperliche oder seelische) Auswirkungen auf im Haushalt lebende Kinder
• Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem weiteren Angriff kommt
• Fortsetzung der Bedrohung von Sicherheit oder Gesundheit der betroffenen oder jeder anderen beteiligten oder potenziell beteiligten Person
• derzeitiges Verhältnis der betroffenen Person zum Beschuldigten und Auswirkung weiterer Ermittlungen auf dieses Verhältnis bei Strafverfolgung gegen den Willen der betroffenen Person
• Vorgeschichte der Beziehung, insbesondere Gewaltvorfälle in der Vergangenheit
• Vorstrafen des Beschuldigten, insbesondere wegen Gewaltvorfällen

Der Gerichtshof entnimmt diesem Katalog den Grundsatz, dass eine weitere Strafverfolgung im öffentlichen Interesse trotz Rücknahme des Strafantrages umso mehr in Betracht komme, je schwerer die Straftat oder desto größerer das Risiko weiterer Gewalttaten ist.

Im vorliegenden Fall haben die türkischen Behörden nach Auffassung des EGMR keine angemessene Abwägung zwischen den Rechten von N. O. aus Artikel 2 (Recht auf Leben) und 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) EMRK getroffen. Der EGMR stellt fest, dass mehrere der oben genannten Kriterien (gewaltsame Vorgeschichte, Waffengebrauch, körperliche Verletzungen und fortwährender seelischer Druck auf die Betroffene, fortgesetzte Todesdrohungen gegen N. O. und ihre Mutter, planvolle Attacke, Einbeziehung der Mutter, seelische Auswirkungen auf die Kinder, Vorhersehbarkeit weiterer Gewalttaten, Vorstrafen von H. O.) erfüllt seien. Es sei nicht erkennbar, dass die Behörden diese Umstände berücksichtigt hätten. Vielmehr hätten sie sich ausschließlich darauf gestützt, dass sie sich in "Familienangelegenheiten" nicht einmischen dürften. Zudem hätten sie die Motive für die Rücknahme der Strafanträge nicht berücksichtigt, obwohl die Mutter bei der Staatsanwaltschaft angegeben hatte, dass sie dies nur wegen der Todesdrohungen und des Druckes tue. Der EGMR tritt der Behauptung der türkischen Regierung entgegen, ein Eingreifen hätte einen Verstoß gegen Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) bedeutet. Er bestätigt seine Entscheidung "Bevacqua und S. gegen Bulgarien" (Beschwerde-Nr. 71127/01), wonach der Staat gegen seine Verpflichtung aus Artikel 8 EMRK verstößt, wenn er Betroffenen Unterstützung verweigert mit dem Hinweis, dass es sich bei häuslicher Gewalt um eine "Privatsache" handele. Zudem sei ein Eingriff in das Privat- oder Familienleben zuweilen notwendig, um die Rechte oder die Gesundheit anderer zu schützen oder Straftaten vorzubeugen ("K. A. und A. D. gegen Belgien"; Beschwerde-Nrn. 42758/98 und 45558/99). Hier sei ein Eingreifen wegen der Schwere der Gefahr für die Mutter erforderlich gewesen.

Unzureichende Gesetzgebung: schwere häusliche Gewalt als Privatklagedelikt
Im Anschluss stellt der EGMR fest, dass sowohl Rechtsetzung als auch Rechtsanwendung mangelhaft waren.
Die damaligen Gesetze hätten eine Strafverfolgung nach Rücknahme des Strafantrags – auch beim Schweregrad der Vorwürfe gegen H. O. – nicht zugelassen. Damit habe die Türkei gegen ihre Pflicht verstoßen, ein System einzurichten und effektiv anzuwenden, das alle Akte häuslicher Gewalt bestraft und den Betroffenen hinreichende Schutzmaßnahmen bietet (Rz. 145).

Unzureichende Rechtsanwendung: Freiheitsrechte des Täters in Fällen von häuslicher Gewalt dürfen nicht die Rechte der Betroffenen auf Leben und körperliche wie seelische Unversehrtheit überwiegen (Rz. 147)
Die Behörden hätten auch die sonstigen zur Verfügung stehenden rechtlichen (Präventiv-) Maßnahmen nicht ausgeschöpft und damit ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Trotz der Beschwerden und Anzeigen der Verstorbenen und trotz der Tatsache, dass H. O. eine Schußwaffe hatte und damit gedroht habe, hätten es die Behörden versäumt, ihn in Gewahrsam zu nehmen oder andere effektive Schutzmaßnahmen zu treffen (siehe auch "Kontrová gegen die Slowakei").

Unter Berufung auf Entscheidungen des UN-Ausschusses zur Frauenrechtskonvention ("Yıldırım gegen Österreich" und "A. T. gegen Ungarn") betont der EGMR, dass die Rechte des Täters in Fällen häuslicher Gewalt die Rechte der Betroffenen auf Leben und körperliche wie seelische Unversehrtheit nicht überwiegen können. Die Vorstrafen des Täters und die Bedrohung der Mutter hätten den Staat zu präventiven Maßnahmen verpflichtet. Der Staatsanwalt oder der Einzelrichter hätten von Amts wegen Maßnahmen nach dem Gesetz gegen häusliche Gewalt oder einstweilige Unterlassungsverfügungen wie Kontaktverbot, Kommunikationssperre oder Platzverweis beziehungsweise ein Verbot, sich N. O. oder ihrer Mutter zu nähern, anordnen können. Stattdessen hätten sich die Behörden passiv verhalten und auf die wiederholten Bitten nach Schutzmaßnahmen nicht reagiert.

c. Fehlende Effektivität der Strafverfolgung nach der Tötung der Mutter (Rz. 150 ff.)
Nach Darlegung der Grundsätze aus "Calvelli und Ciglio gegen Italien" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 32967/96) und "Çakıcı gegen die Türkei" (Große Kammer, Beschwerde-Nr. 23657/94), wonach Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) auch die unverzügliche und angemessen schnelle Untersuchung eines Tötungsdelikts durch ein effektives und unabhängiges Justizsystem fordert, weist der EGMR darauf hin, dass zwar eine umfassende Ermittlung erfolgt sei. Dennoch liege eine unverzügliche Reaktion der Behörden nicht vor, da das Strafverfahren nach mehr als sechs Jahren noch immer nicht abgeschlossen sei. Bei einem Strafverfahren wegen vorsätzlicher Tötung und geständigem Täter stelle eine solche Verfahrenslänge eine Verletzung der Pflicht zur zeitnahen Strafverfolgung aus Artikel 2 EMRK dar.

3.3 Umfang der staatlichen Schutzverpflichtung bei häuslicher Gewalt unter Artikel 3 EMRK (Rz. 158 ff.)

Grundsätze
Der EGMR führt aus, dass sich aus Artikel 3 (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) in Verbindung mit Artikel 1 EMRK die staatliche Verpflichtung ergebe, Maßnahmen zu ergreifen, um Misshandlungen auch durch Privatpersonen zu verhindern ("H. L. R. gegen Frankreich", Beschwerde-Nr. 24573/94). Kinder und andere "verletzliche Personen" hätten besonderen Anspruch auf staatlichen Schutz in Form effektiver Abschreckung gegenüber schweren Verletzungen der persönlichen Unversehrtheit ("A. gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 25599/94).

Anwendung der Grundsätze: Betroffene häuslicher Gewalt als "verletzliche Personen" mit besonderem Anspruch auf Schutz durch effektive Abschreckung
Der EGMR stellt einen Verstoß gegen Artikel 3 EMRK (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) aufgrund des Versäumnisses der Türkei fest, Schutzmaßnahmen in Form effektiver Abschreckung gegenüber schweren Verletzungen der persönlichen Unversehrtheit der Beschwerdeführerin zu ergreifen.
Aufgrund der erlittenen Gewalt und Drohungen, der Angst vor weiterer Gewalt, ihrer sozialen Situation und der verletzlichen Situation von Frauen in der Süd-Ost-Türkei insgesamt sei die Beschwerdeführerin der Gruppe der "verletzlichen Personen" zuzurechnen. Die von ihr erlittene, teilweise lebensgefährliche Gewalt sei auch schwer genug, um in den sachlichen Schutzbereich des Artikels 3 EMRK zu fallen.
Der Schwerpunkt der Prüfung des Gerichtshofes lag auf der Frage, ob die türkischen Behörden alle angemessenen Maßnahmen ergriffen haben, um erneuter Gewalt gegen die Beschwerdeführerin vorzubeugen. Er zieht Urteile der ähnlich gelagerten Fälle "Bevacqua und S. gegen Bulgarien" sowie "Nikolova und Velichkova gegen Bulgarien" (Beschwerde-Nr. 7888/03) heran, um den Umfang der Staatenverpflichtung herauszuarbeiten. Neben der Praxis und gemeinsamen Rechtsauffassung europäischer Staaten greift er ergänzend auf spezialisierte internationale Verträge, die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) sowie die Konvention zu Gewalt gegen Frauen (Belém-do-Pará-Konvention) im Inter-Amerikanischen Rechtssystem und auf die Entscheidung "Maria da Penha Maia Fernandez gegen Brasilien" der Inter-Amerikanischen Kommission zurück.
Danach stellt er fest, dass die Behörden zwar nicht vollständig passiv geblieben seien, aber keine der ergriffenen Maßnahmen ausreichend war, um weitere Gewalt durch H. O. zu verhindern. Wie unter Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) hätte das Rechtssystem eine Strafverfolgung von Amts wegen nach Rücknahme des Strafantrags ermöglichen müssen, da die Anschuldigungen hinreichend schwer waren und die körperliche Unversehrtheit von N. O. weiterhin bedroht war. Stattdessen konnte H. O. Gewalttaten verüben, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Reaktion der Behörden auf die Taten, die teilweise lebensgefährliche Verletzungen herbeiführten, sei offenkundig unangemessen gewesen.

3.4 Häusliche Gewalt als Diskriminierung aufgrund des Geschlechts unter Artikel 14 EMRK (Rz. 183 ff.)

Grundsätze zu Diskriminierung und Beweislastverteilung
Der EGMR verweist für die Grundsätze zum Diskriminierungsverbot auf seine Entscheidung "D. H. und andere gegen Tschechien" (Beschwerde-Nr. 57325/00) und die dort aufgeführte Rechtsprechung zur Definition von Diskriminierung und zur Verteilung der Beweislast. Eine Diskriminierung liege danach bei einer objektiv ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren Situationen vor ("Willis gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 36042/97). Ferner könne eine Praxis oder Maßnahme diskriminierend sein, die zwar nicht direkt gegen eine bestimmte Gruppe gerichtet ist, aber unverhältnismäßige nachteilige Auswirkungen auf sie hat ("Hugh Jordan gegen das Vereinigte Königreich", Beschwerde-Nr. 24746/94). Die Beweislast für die Ungleichbehandlung liege grundsätzlich bei den Beschwerdeführenden, die für die Rechtfertigung bei dem Staat ("Chassagnou und andere gegen Frankreich", Große Kammer, Beschwerde-Nrn. 25088/94, 28331/95 und 28443/95). Eine Beweislastumkehr sei unter besonderen Umständen möglich. So könnten unbestrittene offizielle Statistiken im Falle unterschiedlicher Auswirkungen einer allgemeinen Maßnahme oder einer faktischen Situation (indirekte beziehungsweise faktische Diskriminierung) zu einer Vermutung zugunsten der Beschwerdeführenden führen, dass eine besondere Regelung oder Maßnahme trotz ihrer neutralen Formulierung einen höheren Prozentsatz des einen Geschlechtes betrifft, also eine Ungleichbehandlung vorliegt. Dann obliegt es dem Staat, nachzuweisen, dass diese Regelung oder Maßnahme auf objektiven Erwägungen beruht, die nicht mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Zusammenhang stehen ("Hoogendijk gegen die Niederlande", Unzulässigkeitsentscheidung, Beschwerde-Nr. 58461/00). 

Bedeutung von Diskriminierung im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt
Zur Bestimmung der Bedeutung und des Umfangs von Diskriminierung im Kontext von häuslicher Gewalt zieht der EGMR völkerrechtliche und rechtsvergleichende Standards heran, da die Auslegung der EMRK mit klassischen Auslegungsmethoden nicht zu eindeutigen Ergebnissen führe. Er beruft sich auf Artikel 1 CEDAW sowie die Entscheidungen des Frauenrechtsausschusses, auf Resolution 2003/45 der UN-Menschenrechtskommission, die Belém-do-Pará-Konvention sowie die Entscheidung "Maria da Penha Maia Fernandez gegen Brasilien" der Inter-Amerikanischen Kommission. Diesen Regelungen und Entscheidungen entnimmt er den Grundsatz, dass ein – auch nicht vorsätzliches – Versäumnis des Staates, Frauen gegen häusliche Gewalt zu schützen, gegen ihr Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verstoße.

Häusliche Gewalt in der Süd-Ost-Türkei
Der EGMR stellt fest, dass die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen unter der früheren Rechtslage nicht direkt auf dem Gesetz beruhte. Die Diskriminierung sei eher auf die allgemeine passive Haltung der Behörden und Gerichte zurückzuführen. Als Beispiel hierfür nennt der EGMR das Verhalten von Polizeibediensteten, wenn Frauen häusliche Gewalt zur Anzeige brachten, sowie die Passivität der Gerichte bei Anträgen auf effektive Schutzmaßnahmen. Der Gerichtshof setzt sich intensiv mit den Berichten und Statistiken der Nichtregierungsorganisationen auseinander. Er bezieht sich besonders auf die Informationen über die Haltung der Behörden, zu den milden Bestrafungen, den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt, insbesondere der überlangen Verfahrensdauer bei einstweiligen Gerichtsentscheidungen, da die Gerichte diese als Bestandteil des Scheidungsverfahrens betrachteten. Unter Berufung auf den UN-Frauenausschuss schließt er daraus auf die Toleranz gegenüber häuslicher Gewalt durch die türkischen Behörden und verweist auf die schweren Mängel in der Umsetzung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt. Exemplarisch nennt der EGMR, dass sich Polizeibedienstete eher als Mediatorinnen und Mediatoren verstünden und Betroffene zu überzeugen versuchten, ihre Anzeigen zurückzunehmen und nach Hause zurückzukehren. Ferner betrachteten Polizeibedienstete häusliche Gewalt als "Privatangelegenheit, in die sie sich nicht einmischen dürften".
Da die türkische Regierung diese Berichte und Statistiken nicht widerlegt habe, nimmt der EGMR im Wege einer Vermutung an, dass die häusliche Gewalt in der Region vor allem Frauen betreffe und dass die Passivität staatlicher Strafverfolgungsbehörden in der Türkei ein Klima schaffe, das häusliche Gewalt begünstige.

Anwendung: Diskriminierung mangels Gleichheit vor dem Gesetz
Der EGMR stellt eine Verletzung von Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit den Artikeln 2 (Recht auf Leben) und 3 (Verbot der Folter und von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) EMRK fest. Er verweist zunächst auf seine Feststellungen zu Artikel 2 und 3 EMRK, dass das Strafrechtssystem nicht den für den Schutz von N. O. und ihrer Mutter notwendigen Abschreckungseffekt gehabt habe. Mit Bezug darauf, dass sich die Passivität staatlicher Strafverfolgungsbehörden in Fällen häuslicher Gewalt vor allem auf Frauen auswirke, könne die Gewalt gegen N. O. und ihre Mutter als geschlechtsspezifische Gewalt bezeichnet werden. Geschlechtsspezifische Gewalt aber sei eine Form der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die trotz der Reformen im Rechtssystem weiterhin herrschende mangelnde Strafverfolgung lasse darauf schließen, dass die staatlichen Stellen keinen ausreichenden Einsatz zeigten, um häusliche Gewalt durch angemessenes Handeln zu bekämpfen.

3.5 Entschädigung

Der EGMR sprach der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 30.000 Euro zu. Er begründet dies damit, dass sie zweifellos körperliches und seelisches Leid durch den Tod ihrer Mutter und durch das Versäumnis der Behörden, die Gewalt durch H. O. zu verhindern und ihn zu bestrafen, erfahren habe.

Entscheidung im Volltext:

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