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„Offenes Einstehen für Bürgerrechte ist auch heute wichtig“

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Peter Wensierski und Stephan Bickhardt stellten in der Bibliothek des Instituts das Buch „Das Fenster zur Freiheit“ vor. Wensierski forderte mehr Gedenkangebote für das Wirken der Friedlichen Revolution.

Der Autor Peter Wensierski warb am vergangenen Montag bei einer Lesung in der Bibliothek des Deutschen Instituts für Menschenrechte für mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die DDR-Bürgerrechtsbewegung. Während die Grenzanlagen und die Stasi-Überwachung viel Raum in der öffentlichen Aufarbeitung der DDR-Geschichte einnähmen, würden die Errungenschaften der Friedlichen Revolution und die Geschichte ihrer vielen Akteur_innen häufig vernachlässigt. Von deren Engagement, sich gegen bestehendes Unrecht aufzulehnen und die Verhältnisse zu verändern, könnten gerade junge Menschen heute viel lernen.

Der „Spiegel“-Redakteur Wensierski beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Das Fenster zur Freiheit“ mit der oppositionellen Gruppe um Stephan Bickhardt, die Ende der 1980er-Jahre die „radix-Blätter“ in Ostberlin publizierte. Bickhardt, eine_r der Protagonist_innen des Buches, berichtete als Zeitzeuge von seiner Verlegertätigkeit im Untergrund.

Die radix-Blätter als Debattenforum

Wensierski legte beeindruckende Zahlen vor, die den organisatorischen Aufwand hinter den „radix-Blättern“ verdeutlichten: Über eine Million Seiten wurden im Geheimen hektografiert. 136 Autor_innen beteiligten sich mit Beiträgen, die trotz des persönlichen Risikos unter ihrem vollen Namen erschienen. Inspiriert von den osteuropäischen Oppositionsbewegungen wie der polnischen „Solidarnosc"“ und der tschechoslowakischen „Charta 77“ veröffentlichte Bickhardt zusammen mit seinem engen Freund Ludwig Mehldorn 1986 das erste der insgesamt 20 Hefte. Aufgrund der hochwertigen Produktion und der künstlerischen Gestaltung verfügten die Blätter über eine besondere Ästhetik.

Bickhardt und Mehldorn verlegten aber nicht nur die "radix-Blätter", sondern boten den Oppositionellen mit ihrer Wohnung in der Knaackstraße 34 in Ostberlin einen Ort zum gedanklichen Austausch an und schafften so eine Gegenöffentlichkeit. Hier fanden zahlreiche Lesungen statt, zu denen auch häufig Gäste aus Westdeutschland und Osteuropa anreisten. „Der private Raum wurde dadurch zum öffentlichen Raum, den es zuvor im autoritären System der DDR nicht gegeben hat“, so Wensierski über diesen nicht zu unterschätzenden Beitrag der Gruppe um Bickhardt für die Friedliche Revolution.

Im Gespräch erzählte Bickhardt von seinen persönlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen der damaligen Situation. Ein Hauptaspekt bei der Verlagstätigkeit war die Geheimhaltung des Produktionsprozesses vor der Stasi. Dafür brauchte Bickhardt einerseits geeignete Orte und andererseits ein hohes Maß an Vertrauen zu seinem engen Freundeskreis. Der konspirative Teil lag jedoch komplett bei ihm allein: „Wenn selbst der beste Freund nichts über dein Versteck weiß, dann kann es auch die Stasi nicht kennen.“

Paralleleln zu heutigen Bewegungen

Ein entscheidender Erfolgsgarant beim Vorgehen der Gruppe sei die Suche nach legalen Wegen zur Äußerung oppositioneller Gedanken gewesen. So rief etwa eine Publikation des radix-Verlages vehement dazu auf, sich an den Kommunalwahlen im Mai 1989 zu beteiligen und eigene Listen aufzustellen. Es ging darum, bereits bestehende Rechte einzufordern und tatsächlich wahrzunehmen. Bickhardt sieht darin auch Parallelen zu heutigen Bewegungen, die gegen die unzureichende Klimapolitik protestieren. „Fridays for Future hält sich an den legal gegebenen Rahmen und fordert lediglich, dass die gesetzlich festgeschriebenen Klimaabkommen umgesetzt werden“, so der Bürgerrechtler.

Bickhardt stellte noch einen weiteren Bezug zur Gegenwart her. Er verwies darauf, wie wichtig es sei, offen für sein Engagement einzustehen. Obwohl die Autor_innen der „radix-Blätter“ dem Risiko der staatlichen Verfolgung ausgesetzt waren, wollten sie mit vollem Namen erkennbar sein und sich dadurch selbst zu Adressat_innen machen. Dieser Aspekt habe einen sehr großen Teil zur allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung beigetragen. Und genau dieses offene Einstehen für Bürger_innenrechte sei auch heute die beste Strategie, um beispielsweise gegen Rechtsextremismus vorzugehen. 

Die Werte der Friedlichen Revolution zeigten sich nicht nur am individuellen Einsatz für ein besseres und gerechteres Leben aller, sondern auch an der europäischen Orientierung und am damaligen Konsens der Demokrat_innen: „Für ein offenes Land und für freie Menschen“. Dieses Erbe der Revolution gelte es aufrechtzuerhalten und weiterzutragen. Auch Wensierski wünscht sich eine intensivere gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema: „In Berlin werden scharenweise Schülergruppen zum Checkpoint Charlie oder zum ehemaligen Stasi-Gefängnis geschickt, während eine Bildungsstätte zum Wirken der Friedlichen Revolution nicht mal existiert. Hier besteht dringender Nachholbedarf!“"

(T. Stelzer)

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