Rechtssache C-303/06
EuGH, Urteil vom 17.07.2008, Rechtssache C-303/06, S. Coleman gegen Attridge Law und Steve Law
1. Sachverhalt
Die Klägerin, S. Coleman (S. C.) bekam im Jahr 2002 einen Sohn, der wegen einer seltenen schweren Krankheit eine spezialisierte, besondere Pflege benötigte. Diese Pflege wurde im Wesentlichen von S. C. selbst geleistet. Als sie aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam, weigerte sich ihr damaliger Arbeitgeber, sie an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehren zu lassen. Im März 2005 stimmte sie einer sogenannten freiwilligen Entlassung („voluntary redundancy“) zu, wodurch der Arbeitsvertrag beendet wurde.
S. C. reichte im August 2005 beim zuständigen Gericht eine Klage gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber ein. Sie brachte vor, wegen der Tatsache, dass sie Hauptbetreuerin eines behinderten Kindes sei, Opfer einer erzwungenen sozialwidrigen Kündigung („unfair constructive dismissal“) gewesen zu sein und eine weniger günstige Behandlung als die anderen Arbeitnehmenden erfahren zu haben. Durch diese Behandlung sei sie gezwungen gewesen, ihr Arbeitsverhältnis mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber zu beenden. Sie habe dadurch eine diskriminierende Behandlung erfahren, welche die Eltern nicht behinderter Kinder nicht erfahren hätten. S. C. führte beispielsweise an, dass, wenn sie wegen gesundheitlicher Probleme ihres Sohnes zu spät kam, ihr mit der Kündigung gedroht worden sei, wenn sie erneut zu spät zur Arbeit erscheine. Eine solche Drohung sei jedoch gegenüber anderen Arbeitnehmenden, die zu spät kamen, nicht ausgesprochen worden. Im Vergleich mit ihren Arbeitskollegen und -kolleginnen mit nicht behinderten Kindern seien ihr die entsprechende Flexibilität und Unterstützung vom Arbeitgeber verweigert worden.
2. Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
Dem nationalen Gericht stellte sich die Frage, ob die EU-Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf auch auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar sei. Das Gericht rief den EuGH an, damit dieser über die Auslegung der relevanten Vorschriften der Richtlinie 2000/78/EG entscheidet. Vor allem ging es um die Frage, ob das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung nur diejenigen Menschen vor Diskriminierung und Belästigungen schützt, die selbst eine Behinderung haben.
3. Entscheidung des EuGH
Der EuGH entschied, dass nicht nur Personen mit einer Behinderung, sondern auch Personen, die mit Menschen mit einer Behinderung verwandt sind und sie pflegen, von dem Diskriminierungsverbot im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG geschützt sind. Der Gerichtshof erklärte, der Zweck der Richtlinie sei, in Beschäftigung und Beruf jede Form der Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung zu bekämpfen. Das Prinzip gelte also nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die in ihrem Art. 1 genannten Gründe. Die Ziele und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie würden gefährdet, wenn ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin in der Situation von S. C., auch wenn er oder sie selbst nicht behindert sei, sich nicht auf das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a dieser Richtlinie berufen könne, wenn nachgewiesen werde, dass er oder sie wegen der Behinderung des eigenen Kindes in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfahren hat, als ein anderer Arbeitnehmer erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Folglich verstoße eine Diskriminierung im Zusammenhang mit der Behinderung des eigenen Kindes gegen das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 Buchstabe a der Richtlinie 2000/78/EG.
Mit den gleichen Argumenten bestätigte der EuGH, dass dies für Belästigungen im Sinne des Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2000/78/EG gleichermaßen gelte.
4. Bedeutung der Entscheidung
Dieses wegweisende Urteil stärkt primär die Rechte der Angehörigen von Personen mit Behinderungen. Mittelbar wird damit ebenfalls zur Förderung der Rechte der behinderten Personen selbst beigetragen. Die anderthalb Jahre später verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) geht von der gleichen Überzeugung aus, nämlich dass die Familie als „natürliche Kernzelle der Gesellschaft“ einen Schutz und Unterstützung erhalten soll, „um es den Familien zu ermöglichen, zum vollen und gleichberechtigten Genuss der Menschen mit Behinderungen beizutragen“ (10. Erwägungsgrund der Präambel zur UN-BRK). Außerdem liefert die UN-BRK in ihrem Art. 23 zusätzliches Material zur Unterfütterung der Argumentation des EuGH, da – wie der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich bestätigt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 11. April 2013, Rechtssache C 335/11 und C 337/11, „HK Danmark gegen Dansk almesnnyttigt Boligselskab“) - auch die EU-Richtlinie 2000/78/EG im Lichte der UN-BRK ausgelegt werden muss.
Entscheidung im Volltext: