CRPD, Mitteilung Nr. 32/2015 (Medina Vela vs. Mexiko)
CRPD-Fachausschuss, Auffassungen vom 06.09.2019, Mitteilung Nr. 32/2015, Arturo Medina Vela gegen Mexiko
1. Sachverhalt (Rz. 2.1 – 2.7)
Der 1990 geborene Arturo Medina Vela (A. M. V.) ist mexikanischer Staatsbürger. Er hat eine intellektuelle und psychosoziale Beeinträchtigung. A. M. V. lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammen, die ihn bei Entscheidungen unterstützten. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung befand sich A. M. V. in einem psychosozialen Rehabilitationszentrum für Männer in Mexiko City.
Am 14. September 2011 wurde A. M. V. wegen des Verdachts eines Fahrzeugdiebstahls von der Polizei festgenommen. Seine Familie wurde am selben Tag benachrichtigt. Die Mutter teilte umgehend mit, dass A. M. V. aufgrund seiner Behinderung kein Auto fahren könne und noch nie ein Auto gefahren sei. Die folgenden zwei Tage wurde A. M. V. psychiatrisch untersucht. Es wurden eine Persönlichkeitsstörung und eine mögliche geistige Retardierung festgestellt, die eine Verfahrensunfähigkeit zur Folge hätten. Am selben Tag eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen A. M. V. und ordnete seine Inhaftierung in einem psychosozialen Rehabilitationszentrum für Männer an.
Am 22. September 2011 entschied das Strafgericht, auf A. M. V. die besonderen Verfahrensregeln für nicht schuldfähige Personen nach der Strafverfahrensordnung anzuwenden, die Regelungen für Strafverfahren gegen Menschen mit psychosozialen und intellektuellen Behinderungen enthält. Das Strafgericht beauftragte außerdem den forensischen Dienst mit einem Gutachten. Dieser kam am 11. Oktober 2011 zu dem Schluss, dass A. M. V. dauerhaft geistig beeinträchtigt sei, die Gesetzwidrigkeit seiner Handlungen nicht verstehen und vor Gericht nicht aussagen könne, und dass er eine enge kontinuierliche psychiatrische Behandlung und eine angemessene Überwachung benötige.
A. M. V. durfte nicht selbst aussagen und erhielt keine Informationen zum Verfahren. Seine Mutter beantragte einen Tag nach seiner Inhaftierung, den*die Pflichtanwält*in zu entlassen und private Anwält*innen mit der Verteidigung zu beauftragen. Dies lehnte das Gericht am 23. September 2011 mit der Begründung ab, die Mutter sei nicht der gesetzliche Vormund; A. M. V. sei volljährig und nicht für geschäftsunfähig erklärt.
Drei Tage später beantragte A. M. V., den*die Pflichtanwält*in zu entlassen und benannte eine*n neue*n Verteidiger*in. Zudem legte er einen Rechtsbehelf gegen die Gerichtsentscheidung vom 23. September ein. Das Gericht lehnte beide Anliegen ab. Der*die vom Gericht bestellte Pflichtverteidiger*in hätte den Rechtsbehelf beantragen müssen, dem Gericht sei kein*e privat ernannte*r Rechtsanwält*in bekannt. Eine solche Ernennung sei A. M. V. verwehrt.
Am 13. Oktober 2011 beantragte seine Mutter über den*die Pflichtverteidiger*in, A. M. V. zu entlassen. Sie würde die Verantwortung für seine Pflege, Behandlung und Überwachung übernehmen. Das Gericht lehnte dies ab, da sie nicht ausreichend dazu vorgetragen habe, inwiefern eine angemessene Behandlung sichergestellt sei.
Ende Oktober/Anfang November 2011 fand die Hauptverhandlung statt. A. M. V. nahm an keiner der mündlichen Verhandlungen teil und war dazu auch nicht geladen. A. M. V. wurde am 5. Dezember 2011 wegen Diebstahls verurteilt. Es wurde eine Sicherheitsmaßnahme von vier Jahren Haft in einer psychosozialen Rehabilitationseinrichtung angeordnet mit anschließender Vormundschaft durch seine Familie oder die Gesundheitsbehörden. Das Urteil wurde lediglich dem*der Pflichtverteidiger*in zugestellt und erlangte am 13. Dezember 2011 Rechtskraft.
Im Januar 2012 informierte der*die Pflichtverteidiger*in die Mutter über das Urteil. Sie beauftragte diese*n, eine Unterbringung ohne Freiheitsentziehung zu beantragen. Dies lehnte das Gericht ab. Im Juni 2012 beantragte die Mutter noch einmal eine Unterbringung ohne Freiheitsentziehung und eine Kopie der Gerichtsakte. Das Gericht lehnte dies ab.
Im Jahr 2014 erhielt die Mutter Unterstützung von einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die ein Rechtsmittel („amparo“) einlegte gegen die Verurteilung vom 5. Dezember 2011, wegen schwerwiegender Verfahrensfehler in Bezug auf ein faires Verfahren, der fehlenden Anhörung von A. M. V., einer Verletzung der Unschuldsvermutung und wegen fehlender Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen.
Das angerufene Gericht verwies A. M. V. an ein anderes Gericht, welches das Rechtsmittel Ende November 2014 zurückwies. A. M. V. ging Anfang Dezember 2014 gegen die Verweisungsentscheidung und gegen die Ablehnung des Rechtsmittels vor.
Ende Januar 2015 gab das Gericht A. M. V. teilweise statt; das zuvor angerufene Gericht müsse auch darüber entscheiden, dass er nicht über das gegen ihn ergangene Urteil benachrichtigt worden war. Es veröffentlicht zudem eine vereinfachte Fassung der Entscheidung. A. M. V. ging gegen diese Entscheidung vor; auch die Verfassungswidrigkeit des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung müssten Verfahrensgegenstand sein, zudem wollte er alle anderen Verfahrensunterlagen ebenfalls in vereinfachter Form erhalten, um sie besser zu verstehen. Dies wies das Gericht Mitte Februar 2015 zurück.
Hiergegen legte A. M. V. Ende Februar 2015 ein Rechtsmittel ein. Sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf sei verletzt. Das Verfahren vor Gericht wurde ausgesetzt und an das „Amparo“-Gericht (Verfassungsgericht) verwiesen. Das Amparo-Gericht entschied Anfang Juni 2015 und gab der Beschwerde teilweise statt. Das Strafgericht müsse darüber entscheiden, dass A. M. V. nicht benachrichtigt wurde und inwiefern Rechtskraft der damaligen Entscheidung eingetreten sei. Eine vereinfachte Textfassung sei nur für das Strafurteil erforderlich. Das Amparo-Gericht entschied Ende Juni 2015 zudem, dass die Rechte von A. M. V. aus der Verfassung verletzt seien, da sein*e Verteidiger*in nicht benachrichtigt worden sei. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit des Urteils müsse aufgehoben und der*die Verteidiger*in von A. M. V. darüber informiert werden.
A. M. V. beantragte teilweisen Straferlass und frühzeitige Entlassung. Nach einer Nachfrage des Gerichts, aus der A. M. V. eine ablehnende Haltung ableitete, beantragte er eine Unterbringung ohne Freiheitsentzug. Dies wurde gerichtlich unter Verweis auf medizinische Berichte des Rehabilitationszentrums abgelehnt.
2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD, Fachausschuss)
A. M. V. reichte im August 2015 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Beschwerde unter Berufung auf die Artikel 5, 9, 12, 13, 14, und 19, jeweils in Verbindung mit Artikel 4 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.
A. M. V. machte geltend, wegen einer Behinderung diskriminiert worden zu sein (Artikel 5 UN-BRK – allein und in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK). Als nicht Schuldfähiger habe er besonderen Verfahrensregeln unterlegen. Er sei insbesondere von dem Verfahren ausgeschlossen gewesen, habe keine Beweise zu seiner Entlastung beibringen, keine*n Verteidiger*in seiner Wahl benennen dürfen und keinen Zugang zu den üblichen Rechtsmitteln im Strafprozess gehabt. Die Sicherheitsmaßnahme – eine zwangsweise psychiatrische und medikamentöse Behandlung – sei eine strafrechtliche Sanktion und diskriminierend gewesen. Aufgrund seiner Behinderung habe er keinen Zugang zu einer frühzeitigen Entlassung gehabt (Rz. 3.2).
A. M. V. machte weiterhin geltend, die mexikanische Regierung habe ihre Verpflichtung verletzt, den Zugang zu Information während des Gerichtsverfahrens sicherzustellen (Artikel 9 UN-BRK – allein und in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK). Menschen mit Behinderungen hätten keinen Zugang zu Informationen hinsichtlich eines Gerichtsverfahrens. Zudem sei es nicht vorgesehen, Verfahrensinformationen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen. Wie in seinem Fall sei ihnen das Recht der Teilnahme am eigenen Prozess verwehrt (Rz. 3.3).
A. M. V. machte geltend, die mexikanische Regierung habe seine rechtliche Handlungsfähigkeit nicht anerkannt (Artikel 12 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK), indem er als nicht schuld- und nicht verhandlungsfähig angesehen wurde. Menschen mit Behinderungen könnten durch die aktuelle Gesetzgebung und gerichtliche Praxis von Verfahren ausgeschlossen werden (Rz. 3.4).
A. M. V. machte ebenfalls eine Verletzung von Artikel 13 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK geltend. Die Einrichtung, in der er untergebracht sei, habe keinen Bereich für die vertrauliche Kommunikation der Insass*innen mit ihren Rechtsanwält*innen. Ihm seien weder die Dokumente zum Gerichtsverfahren vorgelesen worden, noch habe er eine vereinfachte Textfassung erhalten. Es habe auch an angemessenen Vorkehrungen für ihn gefehlt, um sich ausdrücken zu können (Rz. 3.5).
A. M. V. machte auch eine Verletzung von Artikel 14 UN-BRK (Freiheit und Sicherheit der Person) in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK geltend: Ihm sei zweimal die Freiheit entzogen worden – einmal durch die zeitlich begrenzte Inhaftierung zwecks medizinischer Behandlung und dann durch die Inhaftierung nach dem Urteilsspruch (Rz. 3.6).
Zudem sei Artikel 19 UN-BRK verletzt worden. Für die Entlassung müsse ihn seine Mutter – als gesetzlich verantwortliche Person – abholen. Durch die Ablehnung einer vorzeitigen Entlassung sei ihm zudem der Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten verwehrt worden (Rz. 3.7).
Die Regierung Mexikos erklärte, dass die Beschwerde unzulässig sei, weil A. M. V. den Rechtsweg nicht ausgeschöpft habe, da er und seine Mutter mögliche Rechtsmittel nicht eingelegt hätten (Rz. 4. 1 - 4.5). Die Beschwerde sei überdies unbegründet. Die Anwendung der besonderen Verfahrensvorschriften und die Unterbringung in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen dienten gerade dazu, dass Menschen mit Behinderungen – wie A. M. V. – gleichberechtigten Zugang zum Recht hätten. Insbesondere sei A. M. V. über seine*n Pflichtverteidiger*in angemessen vor Gericht vertreten worden (Rz. 4.6 – 4.8; Rz. 6. 1).
A. M. V. erwiderte auf die Ausführungen der mexikanischen Regierung, dass er im Hinblick auf seine Verurteilung und die Bestellung eines*r Verteidiger*in gerade keinen wirksamen Rechtsbehelf habe einlegen können, da er als nicht verfahrensfähig angesehen worden sei und in der Folge nicht das Recht gehabt habe, die in einem Strafprozess üblichen Rechtsmittel einzulegen. Überdies sei er nie über die Entscheidungen und mögliche Rechtsmittel dagegen informiert worden. Das Konzept der Schuldunfähigkeit führe zu einem Strafverfahren, von dem die betroffenen Personen ausgeschlossen seien. Darüber hinaus ermögliche es das Auferlegen von Sicherheitsmaßnahmen, die für Menschen mit Behinderungen eine Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit bedeuteten (Rz. 5.1 – 5.8).
Im Juni 2017 gingen drei Interventionen Dritter ein, die der UN-Fachausschuss entsprechend Artikel 72 Absatz 3 seiner Verfahrensordnung annahm. Die erste Intervention bezog sich auf die Staatenverpflichtung, Maßnahmen zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen einzuführen und Diskriminierung zu bekämpfen. Dies beinhalte auch angemessene Vorkehrungen in Gerichts- und Ermittlungsverfahren. Die zweite Intervention legte dar, inwiefern die besonderen Verfahrensvorschriften für schuldunfähige Menschen eine Verletzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen darstellten. Betroffene Personen seien während des Strafverfahrens und bei der Anwendung von Sicherheitsmaßnahmen insbesondere kein Rechtssubjekt mehr, sondern Gegenstand einer Vormundschaft. Die dritte Intervention fokussierte darauf, dass die Sicherheitsmaßnahme gegen die UN-BRK verstoße, da andere, weniger restriktive Maßnahmen möglich gewesen wären (Rz. 7.1 – 7.4).
Die mexikanische Regierung erwiderte, dass im Zuge einer Gesetzesreform neue Voraussetzungen zur Bestimmung der Schuldfähigkeit und Anwendbarkeit der besonderen Verfahrensvorschriften geschaffen worden seien (Rz. 8.2).
3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD, Fachausschuss)
Der Fachausschuss stellte eine Verletzung der Artikel 9, 12, 13 und 14 in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK fest.
3.1 Zulässigkeit (Rz. 9.1 – 9.6)
Der Fachausschuss stellte fest - wie in Artikel 2 Buchstabe c des Fakultativprotokolls zur UN-BRK gefordert -, dass dieselbe Angelegenheit noch nicht vom Ausschuss geprüft worden ist oder in einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsverfahren geprüft wurde oder wird (Rz. 9.2).
Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde im Hinblick auf eine Verletzung von Artikel 19 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK (unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft) für nicht ausreichend substantiiert und deswegen für unzulässig nach Artikel 2 Buchstabe e des Fakultativprotokolls (Rz. 9.3).
Der Fachausschuss stellte fest, dass A. M. V. den Rechtsweg entsprechend Artikel 2 Buchstabe d) des Fakultativprotokolls ausgeschöpft bzw. genügend Anstrengungen unternommen habe, um seine Beschwerde vor nationalen Gerichten vorzubringen. A. M. V. sei der Zugang zu möglichen Rechtsmitteln zunächst versperrt gewesen, weil es ihm nicht möglich gewesen sei, unmittelbar an dem Gerichtsverfahren gegen ihn teilzunehmen und weil er nicht über die Entscheidungen informiert worden sei. Seine Amparo-Beschwerde, die sich genau darauf gestützt habe, sei abgelehnt worden. Zwar sei in dem Amparo-Verfahren angeordnet worden, dass das Strafgericht A. M. V. über seine Verurteilung vom 5. Dezember 2011 zu benachrichtigen habe, woraufhin dieser dann ab Juli 2015 ein Rechtsmittel gegen das Urteil hätte einlegen können. Der Fachausschuss stellte jedoch fest, dass dieses Rechtsmittel – nahezu vier Jahre nach der Verurteilung – A. M. V. nicht zumutbar gewesen sei. In diesem Kontext erinnerte der Fachausschuss an Artikel 2 Buchstabe d) Satz 2 des Fakultativprotokolls, wonach das Ausschöpfen aller Rechtsmittel nicht gelte, wenn das Verfahren bei der Anwendung solcher Rechtsbehelfe unangemessen lange dauere oder keine wirksame Abhilfe erwarten lasse (Rz. 9.4-9.5).
Da keine weiteren Hindernisse für die Zulässigkeit bestünden, erklärte der Fachausschuss die Beschwerde für zulässig.
3.2 Begründetheit (Rz. 10.1 –10.9)
Der Fachausschuss prüfte die Mitteilung gemäß Artikel 5 des Fakultativprotokolls und Artikel 73 Absatz 1 seiner Verfahrensordnung unter Berücksichtigung aller erhaltenen Informationen.
Zu der Geltendmachung von A. M. V., dass die besonderen Verfahrensvorschriften für schuldunfähige Menschen eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellten und Artikel 5 UN-BRK verletzten, stellte der Fachausschuss fest, dass die Anwendung der Vorschriften im Fall von A. M. V. zu einer diskriminierenden Behandlung geführt habe und eine Verletzung von Artikel 5 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK vorliege. Vertragsstaaten müssten nach Artikel 5 Absätze 1 und 2 UN-BRK sicherstellen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien und ohne Diskriminierung das Recht auf gleichen Schutz und die gleichen Vorteile durch das Gesetz hätten. Staaten müssten alle erforderlichen Maßnahmen für eine angemessene Unterbringung ergreifen, um Gleichberechtigung zu fördern und Diskriminierung zu eliminieren. Diskriminierung könne das Resultat einer diskriminierenden Wirkung einer Regelung oder Maßnahme sein, die nicht gezielt diskriminiere, aber Menschen mit Behinderungen überproportional betreffe. A. M. V. habe während des gesamten Verfahrens keine Möglichkeit gehabt, auszusagen oder auf die Aussagen der Polizeibeamt*innen zu reagieren. Er habe keine*n eigene*n Verteidiger*in benennen dürfen und habe keine Unterstützung oder angemessene Vorkehrungen für eine Verteidigung erhalten. A. M. V. habe keine Einladung zu den Anhörungen erhalten. Er sei vielmehr aufgrund seiner psychosozialen und intellektuellen Behinderung einem besonderen Verfahren unterworfen gewesen, das ihm eine Teilnahme und das Einlegen von Rechtsmitteln und damit sein Recht auf ein faires Verfahren verwehrt habe. Es sei auch nichts ersichtlich, was dies rechtfertigen könne (Rz. 10.2 – 10.4).
Zu der Aussage von A. M. V., die mexikanische Regierung habe ihre Verpflichtung verletzt, den Zugang zu Information während des Gerichtsverfahrens sicherzustellen (Artikel 9 UN-BRK – allein und in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK), stellte der Fachausschuss fest, dass die fehlende Teilnahme am Verfahren und die Weigerung, für A. M. V. eine vereinfachte Fassung der Entscheidungen in dem Amparo-Verfahren zu verfassen, Artikel 9 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK verletze. Vertragsstaaten müssten nach Artikel 9 Absatz 1 sowie Absatz 2 Buchstabe f) UN-BRK angemessene Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zu Informationen sicherzustellen und andere geeignete Formen der Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen fördern, damit ihr Zugang zu Informationen gewährleistet sei. A. M. V. habe wegen seiner intellektuellen und psychosozialen Behinderung nicht an dem Verfahren teilgenommen und habe diesbezüglich keinen Zugang zu Informationen gehabt, die ausschließlich dem*der gerichtlich bestellten Verteidiger*in übermittelt worden seien. Der Antrag von A. M. V. auf eine vereinfachte Fassung der Entscheidungen des Amparo-Gerichts sei mit der Begründung abgelehnt worden, dass A. M. V. angemessene Unterstützung durch seine Anwält_innen erhalte. Nur eine Entscheidung des Strafgerichts sei in einem zugänglichen Format erstellt worden (Rz. 10.5).
Zu der Geltendmachung von A. M. V., ihm sei seine rechtliche Handlungsfähigkeit verwehrt worden, da er als nicht schuld- und verfahrensfähig angesehen worden sei, stellte der Fachausschuss eine Verletzung von Artikel 12 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK fest. Vertragsstaaten wie Mexiko seien verpflichtet, anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen. Dafür müssten die Vertragsstaaten bei Bedarf die nötige Unterstützung zur Verfügung stellen. A. M. V. habe sich nicht für unschuldig erklären, Beweise gegen sich nicht infrage stellen, keine*n eigene*n Verteidiger*in benennen und Entscheidungen gegen sich nicht angreifen können. Bei der Gestaltung des Verfahrens zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen hätten die Vertragsstaaten zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum. Dabei müssten sie jedoch die Rechte der betroffenen Person beachten. A. M. V. habe jedoch keine Möglichkeit dazu gehabt und auch keine Unterstützung oder angemessene Vorkehrungen, um seine Rechte auszuüben. Der Fachausschuss erinnerte daran, dass Menschen mit Behinderungen zur Durchsetzung ihrer Rechte und Pflichten gleichberechtigt mit anderen als Rechtssubjekt anerkannt werden und vor Gerichten gleichberechtigt auftreten können müssen (Rz. 38 der Allgemeinen Bemerkung Nummer 1, 2014). (Rz. 10.6)
Die Aussage von A. M. V. betreffend, er sei von dem gegen ihn geführten Strafverfahren ausgeschlossen gewesen, stellte der Fachausschuss eine Verletzung von Artikel 13 UN-BRK in Verbindung mit Artikel 4 UN-BRK fest. Entgegen dem Vorbringen der mexikanischen Regierung, das Verfahren habe dazu gedient, seinen gleichberechtigten Zugang zur Justiz sicherzustellen, kam der Fachausschuss zu dem Ergebnis, dass die gerichtlich bestellte Verteidigung es A. M. V. nicht ermöglicht habe, an dem Verfahren teilzunehmen. Vertragsstaaten müssten Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen einen wirksamen Zugang zur Justiz gewährleisten, unter anderem durch verfahrensbezogene Vorkehrungen, um ihre wirksame unmittelbare und mittelbare Teilnahme an allen Gerichtsverfahren zu erleichtern. A. M. V. habe jedoch keine Möglichkeit gehabt, an dem Gerichtsverfahren teilzunehmen, auszusagen oder Beweise zu sichten. Er sei auch nicht über Entscheidungen informiert worden. Seine Versuche, Einfluss auf das Verfahren zu nehmen, seien gerichtlich abgelehnt worden. Zudem habe die Anwendung der besonderen Verfahrensvorschriften nicht dazu geführt, dass verfahrensmäßige Vorkehrungen getroffen wurden, um A. M. V. den Zugang zur Justiz zu ermöglichen. Selbst bei der Berichtigung der fehlenden Benachrichtigung von A. M. V. über das Schlussurteil habe das Gericht angeordnet, dass die Benachrichtigung – wieder – über seinen Rechtsbeistand erfolgen solle (Rz. 10.7).
Zur Inhaftierung von A. M. V. stellte der Fachausschuss eine Verletzung von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b) UN-BRK fest. Alle Menschen mit Behinderungen und insbesondere Menschen mit intellektuellen und psychosozialen Behinderungen hätten ein Recht auf Freiheit. Nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe b) UN-BRK dürfe das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigen. A. M. V. sei im Rahmen einer zeitlich begrenzten Sicherheitsmaßnahme gleich zu Beginn des Verfahrens inhaftiert worden, die nach seiner Verurteilung fortgeführt worden sei. Obwohl das urteilende Gericht bei A. M. V. von einem minimalen Risiko ausgegangen sei, habe es seine Inhaftierung angeordnet. Dies habe sich ausschließlich auf medizinische Berichte gestützt, die zu dem Schluss gekommen seien, dass A. M. V. wegen einer Behinderung medizinische Betreuung benötige und eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft bestehe. Der Antrag auf vorzeitige Entlassung sei mit der Begründung abgelehnt worden, dass unklar sei, wie die nötige Behandlung gewährleistet werde. Der Fachausschuss kam deswegen zu dem Ergebnis, dass die Behinderung von A. M. V. der Hauptgrund für dessen Freiheitsentziehung gewesen sei (Rz. 10.8).
Nach Artikel 4 UN-BRK sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen, ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung, zu gewährleisten und zu fördern (Rz. 10.9).
3.3 Empfehlungen (Rz. 11)
Der Ausschuss gab der mexikanischen Regierung folgende Empfehlungen:
(a) In Bezug auf den Beschwerdeführenden ist der Vertragsstaat verpflichtet:
(i) ihm einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, einschließlich des Ersatzes aller ihm entstandenen Rechtskosten und einer Entschädigung;
(ii) die Rechtsverletzungen öffentlich anzuerkennen und geeignete Maßnahmen zur Wiedergutmachung zu ergreifen;
(iii) die vorliegenden Ansichten zu veröffentlichen und sie in barrierefreien Formaten zu verbreiten, sodass sie für alle Bevölkerungsgruppen verfügbar sind.
(b) Grundsätzlich ist der Vertragsstaat verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um in Zukunft ähnliche Verstöße zu verhindern. In diesem Zusammenhang verweist der Fachausschuss auf die Empfehlungen in seinen Abschließenden Bemerkungen (CRPD/C/MEX/CO/1, Rz. 28 und 30) und fordert den Vertragsstaat auf:
(i) das Strafrecht und ähnliche oder zugehörige Gesetzgebung auf föderaler oder einzelstaatlicher Ebene bezüglich des Konzepts der Schuldunfähigkeit und der besonderen Verfahrensvorschriften für schuldunfähige Menschen in enger Abstimmung mit Menschen mit Behinderungen und ihren Interessenvertretungen so zu ändern, dass sie die Prinzipien der UN-BRK einhalten und ein faires Verfahren für Menschen mit Behinderungen sicherstellen;
(ii) die Anwendung von Sicherheitsmaßnahmen einschließlich der Inhaftierung zum Zweck medizinischer und psychiatrischer Behandlung zu überprüfen und alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um Alternativen im Einklang mit den Prinzipien der UN-BRK zu fördern.
(iii) sicherzustellen, dass Menschen mit intellektuellen und psychosozialen Beeinträchtigungen angemessene Unterstützung und Vorkehrungen zur Verfügung gestellt werden, damit sie ihre rechtliche Handlungsfähigkeit vor Gericht ausüben können;
(iv) eine ausreichende und regelmäßige Schulung für Richter*innen, Justizbeamt*innen, Staatswält*innen und öffentliche Bedienstete, die die Arbeit der Justiz ermöglichen, über den Anwendungsbereich der UN-BRK und ihres Fakultativprotokolls sicherzustellen.
4. Bedeutung für die Rechtspraxis
Bei der Frage der Zulässigkeit der Individualbeschwerde machte der Fachausschuss deutlich, dass eine Rechtswegerschöpfung nach Artikel 2 Buchstabe d) Satz 2 des Fakultativprotokolls nicht erforderlich ist, wenn das Verfahren bei der Anwendung solcher Rechtsbehelfe unangemessen lange dauert oder keine wirksame Abhilfe erwarten lässt. Im konkreten Fall hielt es der Fachausschuss für den Beschwerdeführenden für nicht zumutbar, ein Rechtsmittel einzulegen, das erstmals vier Jahre nach einem Gerichtsurteil im Strafverfahren eingeräumt wurde, nachdem er vier Jahre lang vor den nationalen Gerichten versucht hatte Gehör zu finden.
Bei der Frage der Begründetheit äußerte sich der Fachausschuss insbesondere zu folgenden Punkten:
- Artikel 5 UN-BRK: Verfahrensvorschriften, die ohne ersichtliche Rechtfertigung einem Menschen, gegen den ein Strafverfahren läuft, aufgrund seiner psychosozialen und intellektuellen Beeinträchtigung die Teilnahme und das Einlegen von Rechtsmitteln und damit sein Recht auf ein faires Verfahren verwehren, sind diskriminierend.
- Artikel 9 UN-BRK: Vertragsstaaten müssen angemessene Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zu Informationen sicherzustellen und andere geeignete Formen der Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen fördern, damit ihr Zugang zu Informationen – hier: während eines Gerichtsverfahrens – gewährleistet ist.
- Artikel 12 UN-BRK: Bei der Gestaltung des Verfahrens zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen haben die Vertragsstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum, die Rechte der betroffenen Person müssen jedoch beachtet werden. Menschen mit Behinderungen müssen zur Durchsetzung ihrer Rechte und Pflichten gleichberechtigt mit anderen als Rechtssubjekt anerkannt werden und vor Gerichten gleichberechtigt auftreten können.
- Artikel 13 UN-BRK: Vertragsstaaten müssen Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksamen Zugang zur Justiz gewährleisten, unter anderem durch verfahrensbezogene Vorkehrungen, um ihre wirksame unmittelbare und mittelbare Teilnahme an allen Gerichtsverfahren zu erleichtern. An diesen Maßstäben ist auch eine gerichtlich bestellte Verteidigung zu messen.
- Artikel 14 UN-BRK: Alle Menschen mit Behinderungen und insbesondere Menschen mit intellektuellen und psychosozialen Beeinträchtigungen haben ein Recht auf Freiheit. Das Vorliegen einer Behinderung darf in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigen.
Die Argumentation des Fachausschusses kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden, um die rechtliche Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen sicherzustellen, wenn Menschen mit Behinderungen im Rahmen eines Strafverfahrens der Zugang zum Verfahren, diesbezügliche Informationen – auch in barrierefreier Fassung – oder erforderliche verfahrensmäßige Vorkehrungen versagt werden. Die Argumentationen des Fachausschusses können weiterhin bei Fallgestaltungen hilfreich sein, in denen es um Freiheitsentziehung von Menschen mit Behinderungen als Sicherheitsmaßnahme zum Zweck der medizinischen und psychiatrischen Behandlung geht.
5. Entscheidung im Volltext
CRPD_06_09_2019_Arturo Medina Vela v. Mexico.pdf (PDF, 154 KB, nicht barrierefrei)