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CRPD, Mitteilung Nr. 26/2014 (Bacher vs. Austria)

CRPD, Auffassungen vom 16.02.2018, Simon Bacher (vertreten durch Viktoria Bacher) gegen Österreich

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-Rz. 2.11)

Simon Bacher (S. B.) hat Trisomie 21, ist autistisch und braucht gelegentlich einen Rollstuhl für seine Mobilität. Er lebt mit seiner Familie in Vomp, Österreich. Das Haus und die beiden benachbarten Häuser sind nur über einen Weg zugänglich, der bei schlechtem Wetter gefährlich wird. Seine Eltern beschlossen daher, den Weg mit einem Dach zu schützen. Die Gemeinde erteilte nach Anhörung der unmittelbaren Nachbar*innen eine Baugenehmigung mit finanzieller Unterstützung. Jedoch wurden R. und sein Onkel, die ein Wochenendhaus nebenan haben, nicht angehört, da das Gesetz vorschreibt, nur Nachbar*innen zu konsultieren, die in einem Umkreis von weniger als 15 Metern von dem geplanten Bauvorhaben entfernt wohnen. Das Dach wurde 2001 gebaut.

R. verklagte Familie Bacher vor dem Landgericht Schwaz und behauptete, das Dach habe seine Zugangsrechte verletzt. Im Juli 2002 ordnete das Gericht den Abriss des Daches an. Die Familie von S. B. legte beim Landgericht Innsbruck Berufung ein und brachte vor, dass die Bedürfnisse von S. B. zu berücksichtigen seien. Im April 2003 bestätigte das Gericht Innsbruck die bisherige Entscheidung zum Abriss des Daches. Gleichzeitig setzte das Gericht den Streitwert auf 4 000 Euro fest und verhinderte somit die Möglichkeit, ein Rechtsmittel in nächster Instanz gegen die Entscheidung einzulegen. Das Dach sollte im Dezember 2003 entfernt werden. Am Tag des geplanten Abrisses erschienen ein*e Gerichtsbeamt*in, der*die Anwält*in des Nachbarn und eine Baufirma am Grundstück. Familie B. weigerte sich jedoch, das Dach abreißen zu lassen und erhielt hierbei Unterstützung von fünf Mitgliedern der Interessenvertretung „Mensch zuerst“. Die Bauarbeiter*innen rissen das Dach daraufhin nicht ab. Im April 2004 kam eine Baufirma unangekündigt und demontierte das Dach ohne Beisein eine*r Gerichtsbeamt*in.

Familie B. reichte Beschwerde gegen die Entfernung des Daches ein und verwies auf die Risiken, denen S. B. als Mensch mit Behinderungen nach der Entfernung des Daches ausgesetzt sei. Im Juli 2004 entschied das Landgericht Schwaz, ohne auf die Sicherheitsbedenken und auf die besonderen Bedürfnisse von S. B. einzugehen, dass Familie B. „verpflichtet war, die Demontage des Daches zu akzeptieren“. Die im Oktober 2004 hiergegen eingelegte Berufung war erfolglos. Das Gericht ordnete weiterhin an, dass Familie B. die Kosten für den Abriss des Daches zu tragen habe.

Im Juli 2004 wurde der Weg durch einen Hagelsturm weiter beschädigt. Für die Reparaturarbeiten gewährte das Land Tirol eine Beihilfe. Der Nachbar R., der vor einer Reparatur konsultiert werden musste, verweigerte jedoch seine Zustimmung, sodass der Weg nicht repariert werden konnte. S. B. begann inzwischen ambulant mit einer Mukoviszidose-Behandlung, was seinen Bedarf, den Weg zu nutzen, erhöhte. Seine Mutter brach sich den Arm, als sie ihm auf dem Weg half. Seine Eltern versuchten erfolglos eine Lösung zu finden und wandten sich an verschiedene Stellen, unter anderem Mensch zuerst und das Rote Kreuz, um Unterstützung zu erhalten. Nachbar R. zeigte kein Interesse daran, eine Lösung zu finden und drohte der Familie, sie wegen Kreditschädigung zu verklagen, wenn sie weitere Maßnahmen hinsichtlich des Weges versuchen sollten.

Zwischen 2011 und 2012 verhandelte der Behindertenombudsmann mit der*dem Bürgermeister*in von Vomp; dieser schlug vor, S. B. in einem Heim unterzubringen oder dass die ganze Familie wegziehen solle. Die Familie weigerte sich, S. B. in ein Heim zu stecken. Hinsichtlich des Vorschlags, die Familie solle den Wohnort wechseln, führte die Beschwerdeführende aus, dass dieser Ort ein vertrautes Umfeld sowie Stabilität für S. B. biete. Außerdem befinde sich das Haus in der Nähe des Tageszentrums und der Universitätsklinik, wo er seine wöchentlichen Behandlungen erhalte. Zudem gebe es keine erschwinglichen Alternativen, da Tirol ein sehr teures Gebiet sei.

Bereits im November 2009 hatte die Familie gerichtlich einen Zahlungsanspruch gegen die Nachbar*innen zur Instandsetzung des Weges geltend gemacht. Als Argument hatte sie angeführt, dass der Weg nicht beschädigt worden wäre, wenn er durch ein Dach geschützt worden wäre. Im Februar 2012 wies das Schwazer Gericht die Klage ab und stützte seine Entscheidung darauf, dass die Nachbar*innen den Weg kaum genutzt hätten und nicht für dessen Unterhalt verantwortlich seien. Gegen die Entscheidung wurde keine Berufung eingelegt, da Familie B. annahm, dass kein weiteres Rechtsmittel möglich sei und sie zudem bereits mit über 30 000 Euro verschuldet war. Im Mai 2014 kontaktierte Familie B. den*die Bürgermeister*in von Vomp, weil die*der Nachbar*in den Weg sehr oft benutze. Der*die Bürgermeister*in weigerte sich, Maßnahmen zu ergreifen und schlug der Familie vor, sich an das Schwazer Gericht zu wenden. Im Mai 2014 erwiderte der*die Richter*in, dass die Angelegenheit des Falles „nichts mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen“ zu tun habe und dass es die Nutzung des Weges durch die Familie gewesen sei, die diesen beschädigt habe.

2. Verfahren vor dem UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Rz. 3.1-Rz. 7.12)

Viktoria Bacher (V. B.), die Schwester und Betreuer*in von S. B., reichte 2014 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 3, 9, 14, 19, 25, 26 und 28 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein. Diese Vorschriften der BRK seien verletzt. Das Entfernen des Daches sei zwar vor dem Inkrafttreten der Konvention erfolgt, aber die Rechtsverletzungen von S. B. bestünden aufgrund der Entscheidungen, die der Vertragsstaat Österreich nach dem Inkrafttreten der Konvention getroffen habe, fort.

Das in Artikel 3 BRK normierte Recht von S. B., mit Respekt und Würde behandelt zu werden, sowie sein Recht auf Teilhabe und Inklusion seien systematisch ignoriert worden.

Auch das Recht auf Zugänglichkeit gemäß Artikel 9 BRK sei durch die österreichischen Gerichtsentscheidungen verletzt worden. Sie hätten seine Familie daran gehindert, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Weges zu ergreifen und ihm dadurch die Ausübung seiner täglichen Aktivitäten zu ermöglichen.

Gleichermaßen seien seine Rechte auf Freiheit und Sicherheit gemäß Artikel 14 BRK verletzt worden, weil der unsichere Weg ihn daran gehindert habe, bei schlechtem Wetter das Haus zu verlassen.

Das Recht, unabhängig und selbstbestimmt im Sinne von Artikel 19 BRK zu leben, sei durch den fehlenden Zugang zu seinem Zuhause beeinträchtigt worden, was zugleich seine persönliche Mobilität einschränke.

Sein Recht auf Gesundheit gemäß Artikel 25 BRK sei wegen mangelnder Zugänglichkeit verletzt worden. Zum einen sei der Weg unsicher, zum anderen sei es S. B. bei schlechtem Wetter nicht möglich gewesen, ins Krankenhaus nach Innsbruck zu fahren, um sich behandeln zu lassen. Aus eben diesen Gründen sei auch Artikel 26 BRK, das Recht auf Rehabilitation, verletzt. Zudem hätten der fehlende sichere Zugang zur Wohnung sowie die hohen Kosten der letztlich erfolglosen Verfahren sein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard gemäß Artikel 28 BRK verletzt.

Die österreichische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei unzulässig gemäß Artikel 2 Buchstabe f des Zusatzprotokolls, weil der Sachverhalt sich vor dessen Inkrafttreten am 26. Oktober 2008 ereignet habe.

Die österreichische Regierung machte weiterhin geltend, dass die Beschwerdeführende die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht ausgeschöpft habe. Obwohl das Landgericht Innsbruck in seinem Berufungsurteil vom April 2003 die ordentliche Revision für unzulässig erklärt habe, sehe die Österreichische Zivilprozessordnung (ZPO) vor, dass eine Partei beim Berufungsgericht einen Antrag auf Änderung des Urteils und Zulassung einer ordentlichen Revision stellen könne. Darüber hinaus habe Familie Bacher die Möglichkeit gehabt, gegen die Urteile des Schwazer Gerichts von 2004 und 2012 Berufung einzulegen, was sie jedoch nicht getan habe. Auch sei kein Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt worden. Schließlich brachte die Regierung vor, dass vor den staatlichen Behörden kein Verstoß gegen die Behindertenrechtskonvention behauptet worden sei.

Die Beschwerdeführende erwiderte, dass sich - auch wenn das Dach vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls zerstört worden sei - die Rechtsverletzungen durch die staatlichen Entscheidungen, die sich nur mit Eigentumsrechten befassten und nicht mit den Rechten von S. B. als Mensch mit Behinderungen, fortsetzten.

Zur Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe machte die Beschwerdeführende geltend, dass keine effektiven Rechtsmittel zur Verfügung stünden. Dies zeigten auch die 13 Jahre erfolgloser Versuche, S. B. zu seinem Recht zu verhelfen. Überdies habe der*die Familienanwält*in 2003 erklärt, dass es keinen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Innsbrucker Gerichts gebe. Die Familie habe sich zudem rechtlichen Rat von einer Staatsanwält*in, einer Jurist*in der zuständigen Behörde, von der Tiroler Anwaltskammer und vom Bundesministerium für Justiz geholt und alle hätten bestätigt, dass keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stünden.

Zum Argument Österreichs, dass die Entscheidung des Bezirksgerichts von 2004 nicht angefochten worden sei, erwiderte die Beschwerdeführende, dass alle Expert*innen der Ansicht gewesen seien, dass Rechtsbehelfe ineffektiv und finanziell belastend seien und dass die Justizbehörden eindeutig kein Interesse an der Beeinträchtigung ihres Bruders gezeigt hätten.

Zu dem Argument der Regierung, dass vor den inländischen Gerichten kein Hinweis auf einen Verstoß gegen die Konvention gegeben worden sei, führte sie aus, dass die Beeinträchtigungen ihres Bruders in allen Gerichtsverhandlungen erwähnt und von mehreren Sachverständigen, die an den Verfahren teilgenommen haben, bezeugt worden seien.

Die Regierung erwiderte daraufhin, dass der Rechtsstreit zwischen dem*der Nachbarn*in und dem Vater erfolgt sei und sich auf ein Nutzungsrecht bezogen habe. S. B. sei an diesem Verfahren zu keinem Zeitpunkt beteiligt gewesen.

Was den Gegenstand der Beschwerde betrifft, so bekräftigte der Staat seine Argumente zur Zulässigkeit des Falles und stellte ferner fest, dass weder ein Schlichtungsverfahren noch ein Gerichtsverfahren nach dem österreichischen Bundesgesetz über die Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen durchgeführt worden sei.

Der Staat machte ferner geltend, dass die im vorliegenden Fall zugrunde liegenden Tatsachen nicht in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fielen. Diesem Rechtsstreit liege ein zivilrechtliches Verfahren über das Wegerecht der*des Nachbar*in zugrunde, wobei der Weg die einzige Zugangsmöglichkeit zum Nachbarstück darstelle. Die Dienstbarkeit daran sei ein „absolutes“ Recht. Staatliche Eingriffe könnten nur dann erfolgen, wenn sie gesetzlich vorgesehen, aufgrund eines öffentlichen Interesses erforderlich und nicht unverhältnismäßig seien. Eine vollständige Nutzungsentziehung, also eine Enteignung, könne daher nur erfolgen, wenn der Bedarf nicht auf andere Weise gedeckt werden könne. Die Verpflichtungen aus den Artikeln 1 und 9 des Übereinkommens begründeten keine Verpflichtung, zu gewährleisten, dass die Interessen einer Person mit Behinderungen per se einen Eingriff in Eigentumsrechte rechtfertigen. Auch könnten sich die Verpflichtungen des Vertragsstaates nicht auf reine Privatangelegenheiten erstrecken und im vorliegenden Fall handele es sich um eine rein privatrechtliche Angelegenheit zwischen Nachbar*innen. Das Diskriminierungsverbot gegenüber Menschen mit Behinderungen sei auf private Rechtsverhältnisse des täglichen Lebens nur insoweit anwendbar, als es den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen umfasse, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.

Hinsichtlich des Vorbringens bezüglich Artikel 3 sagte die österreichische Regierung, dass dort allgemeine Grundsätze, nicht aber individuelle Rechte geregelt seien. Artikel 14 BRK sei von vorneherein nicht einschlägig, weil S. B. nicht die Freiheit entzogen worden sei.

Die Beschwerdeführende entgegnete darauf, dass die Beeinträchtigungen von S. B. in allen Anhörungen in den Jahren 2002, 2003, 2004, 2010 und 2012 erwähnt worden seien. Die Gerichte hätten jedoch kein Interesse an seiner Sicherheit gezeigt.

In Erwiderung auf das Argument des Staates, dass die Interessen der Parteien durch die Wahl einer alternativen Struktur zur Abdeckung des Weges hätten in Einklang gebracht werden können, betonte die Beschwerdeführende, dass keine der vorgeschlagenen Alternativen von R. akzeptiert worden sei.

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CPRD)

Der Ausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 3 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; BRK/CRPD) fest.

Der Ausschuss empfahl der österreichischen Regierung, einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, S. B. einen finanziellen Ausgleich für die erlittenen Rechtsverletzungen zu gewähren und der Beschwerdeführenden die Gerichtskosten zu erstatten. Außerdem empfahl der Ausschuss, dass der Staat in Zukunft für mehr Kapazitäten bei den lokalen Behörden und Gerichten, die für die Überwachung der Zugänglichkeitsnormen zuständig sind, sorgen und einen wirksamen Überwachungsrahmen zur Gewährleistung und Durchsetzung dieser Normen einführen solle.

3.1 Zulässigkeit (Rz. 8.1-Rz. 8.12)

Der Ausschuss erklärte die Beschwerde für zulässig. Die Beschwerdeführende habe hinsichtlich Artikel 9 in Verbindung mit Artikel 3 BRK ihre Beschwerdebefugnis hinreichend begründet.

In Bezug auf die Behauptung der Beschwerdeführenden gemäß der Artikel 14, 19, 25, 26 und 28 des Übereinkommens stellte der Ausschuss fest, die vorgelegten Informationen ließen nicht erkennen, dass die Familie B. diese Fragen im Wesentlichen bei den nationalen Behörden angesprochen habe. Der Ausschuss hielt die Beschwerde insoweit im Zusammenhang mit diesen Artikeln nach Artikel 2 Buchstabe d) des Zusatzprotokolls für unzulässig.

Der Ausschuss überzeugte sich davon, wie in Artikel 2 Buchstabe c) des Zusatzprotokolls gefordert, dass die gleiche Angelegenheit noch nicht vom Ausschuss geprüft wurde oder nach einem anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsverfahren geprüft wurde oder wird.

Gemäß Artikel 2 Buchstabe f) des Zusatzprotokolls darf sich der Ausschuss nicht mit Ereignissen befassen, die vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens in einem Vertragsstaat eingetreten sind, es sei denn, diese Tatsachen dauerten nach diesem Zeitpunkt fort. Der Ausschuss stellte zwar fest, dass die Urteile des Landgerichts Innsbruck (2003) und des Bezirksgerichts Schwaz (2004) vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens im Vertragsstaat ergangen seien, aber auch, dass die Beschwerdeführende diese Entscheidungen aufgegriffen habe, weil sie im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bezirksgerichts Schwaz aus dem Jahr 2012 und dem Antwortschreiben des*der Richter*in vom selben Gericht aus dem Jahr 2014 standen.

Der Ausschuss stellte fest, dass die Entscheidung von 2012 zwar hauptsächlich der Forderung der Familie B. nach finanzieller Unterstützung durch die Nachbar*innen zur Aufrechterhaltung des Weges entsprochen habe, dass die Beeinträchtigung von S. B. aber diskutiert worden sei. Darüber hinaus war der Ausschuss der Ansicht, dass diese Mitteilung als letzte Option eingereicht wurde, nachdem alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit dem Dach und der damit verbundenen Frage der Zugänglichkeit des Weges ausgeschöpft worden waren. Der Ausschuss war der Ansicht, dass das Urteil von 2012 und das offizielle Schreiben von 2014 im Zusammenhang mit der Frage der Zugänglichkeit zu sehen seien, die im Mittelpunkt aller von Familie B. eingeleiteten Verfahren stehe und nicht von den Verfahren und Urteilen der Jahre 2003 und 2004 getrennt werden könne. Dementsprechend stellten die Entscheidungen aus den Jahren 2003 und 2004 Sachverhalte dar, die als Teil des Beschwerdevorbringens zu prüfen seien. Das Bezirksgericht Schwaz hatte in seiner Entscheidung von 2012 nicht nur formale Voraussetzungen der vorangegangenen Entscheidungen geprüft, sondern auch die Forderung der Familie nach Kostenbeteiligung der Nachbar*innen an der Zugänglichmachung des Weges. Vor diesem Hintergrund war der Ausschuss nicht ratione temporis, also in zeitlicher Hinsicht, gehindert, die vorliegende Mitteilung zu prüfen.

Die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe betreffend, stellte der Ausschuss fest, dass das Urteil des Landgerichts Innsbruck aus dem Jahr 2003 darauf hingedeutet habe, dass es nicht habe revidiert werden können, und dass die von Familie B. konsultierten Anwält*innen und Behörden bestätigt hätten, dass die Entscheidung endgültig gewesen sei. Darüber hinaus lege die Zivilprozessordnung klare Bedingungen fest, unter denen ein solches Rechtsmittel eingelegt werden könne. Diese schienen dem geprüften Fall nicht zu entsprechen. Ferner liefere der Staat kein Argument, das es dem Ausschuss ermöglichen würde, zu dem Schluss zu kommen, dass eine solche Berufung nach mehr als zehn Jahren Gerichtsverfahren, in denen die besonderen Bedürfnisse von S. B. als Mensch mit Behinderungen nicht als relevant angesehen wurden, Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Ausschuss erinnerte daran, dass nach Artikel 2 Buchstabe d) nur Rechtsbehelfe mit hinreichender Erfolgsaussicht ausgeschöpft werden müssen. Dementsprechend war der Ausschuss der Ansicht, dass er nicht daran gehindert sei, die vorliegende Mitteilung über die Nichtausschöpfung von innerstaatlichen Rechtsbehelfen zu prüfen.

Zu der Behauptung des Staates, die Familie der Beschwerdeführenden habe vor heimischen Behörden keinen Verstoß gegen die Konvention geltend gemacht, stellte der Ausschuss fest, dass seit der ersten Klage der Nachbar*innen, in der sie den Abriss des Daches im Jahr 2002 beantragt hatten, die Frage vor den Gerichten immer mit der Zugänglichkeit verbunden gewesen sei. Der Ausschuss merkte an, dass das Verfahren 2012 angestrengt worden sei, um eine Beteiligung der aus der Dienstbarkeit berechtigten Nachbar*innen an der Instandhaltung des Weges zu erhalten, damit der Weg zugänglich sei. Der Ausschuss war der Auffassung, dass diese Frage, da sie bei den nationalen Behörden angesprochen worden war, ihn nicht daran hindere, die Behauptungen der Beschwerdeführenden nach Artikel 9 des Übereinkommens zu prüfen.

Zu den Ausführungen der Beschwerdeführenden gemäß Artikel 3 des Übereinkommens erinnerte der Ausschuss daran, dass dieser Artikel aufgrund seines allgemeinen Charakters grundsätzlich keine freistehenden Ansprüche begründe und nur in Verbindung mit anderen durch das Übereinkommen garantierten materiellen Rechten geltend gemacht werden könne.

Hinsichtlich der Vorwürfe zu Artikel 14 (Freiheit und Sicherheit), Artikel 19 (Recht auf selbstbestimmtes Leben und Inklusion in die Gemeinschaft), Artikel 25 (Gesundheit), Artikel 26 (Rehabilitation) und Artikel 28 (angemessener Lebensstandard) stellte der Ausschuss fest: die vorgelegten Informationen ergäben keine Anhaltspunkte dafür, dass eine diesbezügliche Rechtsverletzung hinreichend vor den innerstaatlichen Behörden und Gerichten geltend gemacht worden sei. Insofern sei die Mitteilung gemäß Art. 2 Buchstabe d) des Zusatzprotokolls unzulässig.

Der Ausschuss erklärte die Mitteilung für zulässig, soweit Fragen zu Artikel 9 einzeln oder im Zusammenhang mit Artikel 3 BRK betroffen waren.  

3.2 Begründetheit (Rz. 9.1-Rz. 9.9)

Der Ausschuss prüfte die Mitteilung im Lichte aller vorgelegten Informationen gemäß Artikel 5 des Zusatzprotokolls und Regel 73 Absatz 1 seiner Verfahrensordnung. Wie vom Staat argumentiert, habe die den Nachbar*innen der Beschwerdeführenden gewährte Fußgänger- und Fahrzeugvorfahrt (Dienstbarkeit) zu einem Streit zwischen Einzelpersonen (dem*der Berechtigten und dem*der Verpflichteten) geführt, der nicht direkt von den Behörden eingeleitet worden sei. In diesem Zusammenhang erinnerte der Ausschuss unter Hinweis auf das Argument des Staates, dass sich seine Verpflichtungen auf rein private Angelegenheiten nicht erstrecken würden, daran, dass diese Art von Streitigkeiten der Rechtsordnung des Staates unterliege, der auf jeden Fall die letztendliche Verantwortung dafür trage, dass die Rechte aus dem Übereinkommen geachtet werden, einschließlich des Rechts einer Person mit Behinderungen auf Zugang zu ihrem Zuhause. Dementsprechend sei der Vertragsstaat unter anderem verpflichtet, sicherzustellen, dass die von seinen Behörden und Gerichten getroffenen Entscheidungen die Rechte des Übereinkommens nicht verletzten.

Die Staaten seien auch verpflichtet, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Einzelpersonen direkt oder indirekt die Rechte aus dem Übereinkommen beeinträchtigten. Somit erstrecke sich der Anwendungsbereich des Übereinkommens auch auf die Beziehungen zwischen Einzelpersonen. In diesem Zusammenhang erinnerte der Ausschuss auch daran, dass sich die Vertragsstaaten nach Artikel 4 Absatz 1 des Übereinkommens verpflichtet haben, die uneingeschränkte Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jegliche Diskriminierung aufgrund von Behinderungen zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichteten sich die Vertragsstaaten gemäß Buchstabe e), alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Diskriminierung aufgrund von Behinderungen durch Personen, Unternehmen oder Privatunternehmen zu beseitigen. Bei einem Streit über ein vertraglich festgehaltenes Eigentumsrecht sei der Vertrag daher auch im Lichte des UN-Übereinkommens auszulegen. Als die Gerichte des Vertragsstaates zur Lösung des Konflikts zwischen den Parteien tätig geworden seien, seien sie an das Übereinkommen gebunden gewesen. Die Argumentation des Staates, dass der Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen geführt worden sei und daher nicht unter das Übereinkommen falle, treffe daher nicht zu.

Der Ausschuss betonte, dass Zugänglichkeit eine Voraussetzung dafür sei, dass Menschen mit Behinderungen unabhängig leben und uneingeschränkt und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen können. Gemäß Artikel 9 des Übereinkommens träfen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichermaßen Zugang zur physischen Umwelt, zum Verkehrswesen und zu anderen Einrichtungen und Dienstleistungen erhalten, die der Öffentlichkeit sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten offen stehen oder zur Verfügung gestellt werden. Diese Maßnahmen umfassten die Ermittlung und Beseitigung von Hindernissen und Barrieren für den Zugang.

Der Ausschuss erinnerte ferner daran, dass in Übereinstimmung mit Artikel 2 des Übereinkommens gegebenenfalls angemessene Vorkehrungen getroffen werden müssten, um „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unangemessene Belastung darstellen, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“, einschließlich ihres Rechts auf Zugänglichkeit.

In diesem Zusammenhang liege der Schwerpunkt nicht mehr auf der Rechtspersönlichkeit oder dem privaten oder öffentlichen Charakter der Eigentümer*innen von Gebäuden, Verkehrsinfrastruktur, Fahrzeugen, Informationen, Kommunikation und Diensten. Menschen mit Behinderungen sollten gleichberechtigt Zugang zu allen Gütern, Produkten und Diensten haben, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen und zwar dergestalt, dass für sie ein effektiver und gleichberechtigter Zugang sichergestellt und ihre Würde gewahrt werde. 

Der Ausschuss wies darauf hin, dass die Vertragsstaaten bei der Beurteilung der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Anpassungsmaßnahmen über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen würden. Es obliege den Gerichten der Staaten, Tatsachen und Beweismittel in einem bestimmten Fall zu beurteilen, es sei denn, es werde festgestellt, dass die Bewertung offensichtlich willkürlich gewesen sei oder einer Rechtsverweigerung gleichgekommen sei. Im vorliegenden Fall hatte der Ausschuss die Aufgabe, zu prüfen, ob die von den Gerichten des Vertragsstaates Österreich getroffenen Entscheidungen die Achtung der Rechte von S. B. nach Artikel 9, allein und in Verbindung mit Artikel 3 der Konvention, ermöglichten.

Der Ausschuss stellte weiterhin fest, dass die Entfernung des Daches nicht nur den Zugang zur Wohnung beeinträchtige, sondern auch den Zugang zu sozialen Aktivitäten und öffentlichen Diensten, wie etwa Bildung oder Gesundheitseinrichtungen, einschränke.

Die Entscheidung des Bezirksgerichts Schwaz von 2012 enthalte keine gründliche Analyse der besonderen Bedürfnisse von S. B., obwohl diese von seinen Eltern, wie in den früheren Gerichtsverhandlungen auch, eindeutig vorgebracht worden seien. Die staatlichen Behörden hätten sich vielmehr auf die Lösung der anstehenden Eigentumsrechtsfrage konzentriert, indem sie die multidimensionalen Folgen der Entscheidungen über die Zugangsrechte von S. B. ignoriert und seiner Familie die gesamte Verantwortung dafür überlassen hätten, seinen Zugang zum Haus und zu den externen öffentlichen Diensten, die er für sein tägliches Leben benötige, zu ermöglichen.

Der Ausschuss war daher der Ansicht, dass die Entscheidung des Schwazer Gerichts von 2012, gelesen im Lichte der vorangegangenen Gerichtsentscheidungen, eine Rechtsverweigerung für S. B. darstelle, die einen Verstoß gegen Artikel 9 allein und in Verbindung mit Artikel 3 der Konvention begründet.

3.3 Empfehlungen (Rz. 10-Rz. 11)

Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass der Staat gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 9 allein und in Verbindung mit Artikel 3 des Übereinkommens verstoßen habe, und empfahl:

  1. S. B. betreffend sei der Staat verpflichtet, ihm einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, insbesondere um eine Lösung des Konflikts im Zusammenhang mit der Nutzung des Weges unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von S. B. als Person mit Behinderungen zu erleichtern, ihm einen finanziellen Ausgleich für die erlittenen Verletzungen zu gewähren und der Beschwerdeführenden die Verfahrenskosten zu erstatten, die ihr vernünftigerweise im innerstaatlichen und dem vorliegenden Beschwerdeverfahren entstanden seien.
  2. Als Maßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Verstöße in der Zukunft habe der Staat für Schulungsmaßnahmen bei den Behörden und Gerichten zu sorgen, die für die ordnungsgemäße Umsetzung der Zugänglichkeitsnormen zuständig sind. Darüber hinaus habe er einen wirksamen Kontrollmechanismus mit ausreichender Kapazität und entsprechendem Mandat zur Gewährleistung und Durchsetzung der Zugänglichkeitsnormen zu entwickeln, um sicherzustellen, dass die Pläne, Strategien und Standards hinsichtlich Zugänglichkeit/Barrierefreiheit umgesetzt werden. Zudem solle der Staat die Auffassungen des Ausschusses in die Amtssprache Österreichs übersetzen, veröffentlichen und in einem barrierefreien Format verteilen, damit alle Teile der Bevölkerung sie bekommen.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

Die Vertragsstaaten tragen die Verantwortung dafür, dass die Rechte aus dem UN-Übereinkommen geachtet werden, urteilte der Ausschuss. Dementsprechend sind die Staaten unter anderem verpflichtet, sicherzustellen, dass die von ihren Behörden und Gerichten getroffenen Entscheidungen die Rechte des Übereinkommens nicht verletzen. Auch Privatrechtsinstitute, wie etwa Eigentum, sind somit im Lichte der Menschenrechte auszulegen.

Die Entscheidung kann insbesondere bei zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Privatpersonen herangezogen werden, und zwar auch und gerade dann, wenn diese auf den ersten Blick nicht die Rechte von Menschen mit Behinderungen betreffen.

Im Übrigen kann diese Entscheidung hilfreich sein, wenn es um Fragen der Zugänglichkeit geht.  

Einzelmeinung des Ausschussmitglieds Damjan Tatic (abweichende Meinung)

Tatic war von den Ausführungen des Ausschusses zur Zulässigkeit ratione temporis nicht überzeugt. Nach seiner Meinung bezog sich das Urteil von 2012 nur auf den Zahlungsanspruch der Familie B. gegen die Nachbar*innen, die ein Wegerecht haben, und nicht auf die Frage der Zugänglichkeit. Die Entscheidung könne daher nicht als Fortsetzung oder Bestätigung der vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens im Vertragsstaat getroffenen Entscheidungen angesehen werden. Dementsprechend seien die geltend gemachten Konventionsverstöße ratione temporis, also in zeitlicher Hinsicht, unzulässig.

5. Entscheidungen im Volltext

CRPD_16.02.2018_ Bacher_v._Austria_ENG (PDF, 348 KB, nicht barrierefrei)

CRPD_16.02.2018_ Bacher_v._Austria_DE (PDF, 598 KB, nicht barrierefrei)

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