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CRPD, Mitteilung Nr. 13/2013 (Lockrey vs. Australia)

CRPD, Auffassungen vom 01.04.2016, Michael Lockrey (vertreten durch Australian Centre for Disablity Law) gegen Australien

1. Sachverhalt (Rz. 2.1-2.6)

Der 1969 geborene Michael Lockrey (M. L.) ist gehörlos und bei förmlicher Kommunikation auf eine Simultan-Untertitelung durch Schriftdolmetscher*innen angewiesen. Im Zeitraum von Februar bis Juli 2012 wurde M. L. mehrfach zum Schöff*innendienst in Neusüdwales (Australien) geladen. Den dort zuständigen Sheriff informierte er, dass er fähig und willens sei, als Schöffe zu dienen, jedoch hierfür auf eine*n Schriftdolmetscher*in angewiesen sei. Er trug auch vor, dass er ein „Berichterstatter“-Kommunikationsgerät, welches das gesprochene Wort in Text transkribiere, für den Schöff*innendienst nutzen könne. Daraufhin wurde ihm mitgeteilt, dass er wegen seiner Gehörlosigkeit nicht am Schöff*innendienst teilnehmen könne. Wenig später wurde M. L. erneut zum Schöff*innendienst geladen. Nun wurde ihm mitgeteilt, dass Schöff*innen mit Hörbehinderungen eine Induktionsschleifenanlage bereitgestellt werden könne. Dagegen sei die Hinzuziehung eine*r Schriftdolmetscher*in nur bei der Beweisaufnahme möglich, nicht aber dann, wenn sich die Schöff*innen zu Beratungen zurückziehen würden. Die Schöff*innenberatung sei streng vertraulich, weshalb das Schöffengesetz verbiete, unvereidigten Personen, wie etwa Schriftdolmetscher*innen, in das Verfahren einzuführen.

Im April 2012 legte M. L. Beschwerde vor der nationalen Menschenrechtskommission ein. Er führte an, dass ihm die Teilnahme am Schöff*innendienst durch die Nichtbereitstellung eine*r Schriftdolmetscher*in verwehrt werde. Dagegen verwies der Sheriff auf die Rechte des Angeklagten, insbesondere sein Recht auf ein faires Verfahren. Eine Live-Mitschrift führe zu einer Änderung der Gesetzgebung in Neusüdwales, die eine solche Kommunikationsform für den Schöff*innendienst nicht vorsehe. Die Mittel zur Umsetzung dieser Maßnahme habe die Landesregierung nicht. Im November 2012 scheiterte der Schlichtungsversuch zwischen M. L. und der Landesregierung.

2. Verfahren vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

M. L. reichte 2013 vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) eine Mitteilung unter Berufung auf die Artikel 2, 4, 5, 9, 12, 13, 21 und 29 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein.

Die Beschwerde sei zulässig, da er alle zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe. Weder die Anrufung des Menschenrechtskomitees noch der Bundesgerichte (des Federal Court beziehungsweise des Federal Circuit Court) hätten wirksam Abhilfe schaffen können. Das Menschenrechtskomitee treffe keine verbindlichen Entscheidungen und die Bundesgerichte hätten aufgrund der australischen Gesetzeslage keine Diskriminierung durch den Sheriff feststellen können. Dies liege an der australischen Behindertengesetzgebung, die vor Diskriminierung in vielen Lebensbereichen schütze, nicht aber beim Schöff*innendienst, so M. L.. Zudem habe die Regierung in Neusüdwales mehrfach abgelehnt, wichtige Reformvorschläge in das Schöffengesetz aufzunehmen, wie etwa die Bereitstellung von Schriftdolmetscher*innen. Das Schöffengesetz in Neusüdwales verbiete deshalb die Simultan-Untertitelung für Schöff*innen. Gegen die Einlegung innerstaatlicher Rechtsbehelfe spreche weiterhin die Präjudizienrechtsprechung australischer Gerichte, die mehrfach die Bereitstellung von Anpassungen und Änderungen für gehörlose Personen für den Schöff*innendienst abgelehnt hätten. Im Übrigen seien ihm nicht die hohen Rechtsverfolgungskosten, die mit der Anrufung der Bundesgerichte verbunden gewesen seien, zuzumuten gewesen (Rz. 2.7-2.11; 5.1).

Die Beschwerde sei auch begründet, da er durch die Nichtbereitstellung einer Echtzeit-Mitschrift vom Schöff*innendienst ausgeschlossen worden sei.

Mit seinen Handlungen habe der Sheriff zunächst gegen Artikel 12 Absatz 2 BRK (Recht auf Anerkennung der Rechts- und Handlungsfähigkeit) verstoßen. Die Stellungnahme des Sheriffs vor dem Menschenrechtskomitee habe gezeigt, dass die Behörde gehörlosen Personen unterstelle, nicht fähig zu sein, einem Gerichtsverfahren folgen zu können. Dies werde auch dadurch deutlich, dass der Sheriff vorgetragen habe, dass das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren durch die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen am Schöff*innendienst beeinträchtigt werden könne. Damit habe der Sheriff ihm seine Rechts- und Handlungsfähigkeit abgesprochen. Die Nichtbereitstellung eine*r Schriftdolmetscher*in verletze weiterhin die Verpflichtung Australiens, ihm geeignete Maßnahmen zugänglich zu machen, damit er als Schöffe tätig sein könne (Artikel 12 Absatz 3 BRK). Dies berühre mithin seine Rechte aus Artikel 5 (Nichtdiskriminierung) und Artikel 21 BRK (Zugang zu Informationen, Beschaffung, Empfang und Weitergabe von Informationen und Gedankengut).

Ein Verstoß gegen Artikel 13 Absatz 1 BRK (Gleicher Zugang zur Justiz) liege vor, da er als Schöffe wirksamen Zugang zur Justiz und auf angemessene, verfahrensbezogene Vorkehrungen haben müsse. Hierdurch sei er aus Artikel 13 Absatz 1 BRK allein und in Verbindung mit den Artikeln 5 und 21 BRK verletzt.

Zudem werde seine Freiheit verletzt, sich Informationen und Gedankengut zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben, und in diesem Rahmen auf alle von ihm gewählten Formen der Kommunikation zurückgreifen zu können, (Artikel 21 Buchstabe b BRK). Dabei sei die Simultan-Untertitelung durch eine*n Schriftdolmetscher*in als die von ihm „gewählte Form der Kommunikation“ im Sinne des Artikels 21 BRK anzusehen. Dies verletzte Artikel 21 BRK allein und in Verbindung mit Artikel 5 BRK.

Weiterhin liege ein Verstoß gegen die Vorschrift des Artikels 29 Buchstabe b BRK (Mitwirkung bei der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten) vor. Die Teilnahme am Schöff*innendienst sei ein „politisches Recht“ und stelle einen integralen Bestandteil bei der „Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten“ im Sinne des Artikels 29 BRK dar. Die gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben werde ihm aber genommen, wenn ihm keine Live-Mitschrift gewährt werde. Dies verletzte Artikel 29 Buchstabe b BRK allein und in Verbindung mit Artikel 5 BRK.

Schließlich werde er durch die Nichtbereitstellung eine*r Schriftdolmetscher*in aus den Artikeln 5, 9, 12, 13, 21 und 29 BRK allein und in Verbindung mit Artikel 2 (Begriffsbestimmung) und Artikel 4 BRK (Allgemeine Verpflichtungen) verletzt (Rz. 3.1-3.5).

Die australische Regierung, an die die Beschwerde gerichtet war, wies diese als unzulässig und unbegründet zurück.

Die Beschwerde sei unzulässig, da M. L. Klage vor dem Federal Court beziehungsweise dem Federal Circuit Court hätte einlegen müssen. Daneben habe der UN-Menschenrechtsausschuss entschieden, dass ein Mangel an finanziellen Mitteln Beschwerdeführer*innen nicht davor bewahre, zunächst den innerstaatlichen Rechtsweg auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang sei es M. L. zuzumuten gewesen, einen Antrag auf Kostenerstattung bei den Bundesgerichten zu stellen. Die Gebühr, die er für die Einreichung eines solchen Antrags hätte bezahlen müssen, hätte sich auf 55 Australische Dollar belaufen.

Die Beschwerde sei auch deshalb unzulässig, da diese im Hinblick auf die Artikel 2, 4, 5 und 9 BRK nicht hinreichend begründet worden sei (Rz. 4.2-4.3).

Die Beschwerde sei nicht begründet. Hinsichtlich Artikel 12 BRK führte die Regierung an, dass die Region Neusüdwales bereits die notwendigen Anpassungen vorgenommen habe, um gehörlosen Personen den Schöff*innendienst zugänglich zu machen. Gehörlose Personen könnten am Schöff*innendienst durch die Bereitstellung von Induktionsschleifen-Anlagen und Infrarot-Technik teilnehmen. Daneben fördere die Regionalregierung die Inklusion von Menschen mit Behinderungen durch einen zehnjährigen Aktionsplan. Dazu zähle auch, zu überprüfen, ob die Simultan-Untertitelung in den Schöff*innendienst eingeführt werden könne. Das neue Schöffengesetz, das 2014 in Kraft getreten sei, schließe auch Personen nicht mehr wegen ihrer „Untauglichkeit“ vom Schöff*innendienst aus. Stattdessen sehe das neue Gesetz vor, dass Personen aus „gutem Grund“, das heißt wegen Krankheit, einer körperlichen Gebrechlichkeit oder dem Grad ihrer Behinderung, vom Schöff*innendienst freigestellt werden können. Im Übrigen falle die Teilnahme am Schöff*innendienst nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 12 BRK. Artikel 12 Absatz 2 beziehe sich nicht auf die Durchführung einer Tätigkeit, wie etwa die Teilnahme am Schöff*innendienst, sondern nur auf die Fähigkeit, sich rechtlich verantworten zu können. Dafür spreche auch, dass die Teilnahme am Schöff*innendienst nicht in Artikel 12 Absatz 5 aufgelistet sei. Aus diesem Grund müsse der Vertragsstaat auch keine geeigneten Maßnahmen im Sinne des Artikels 12 Absatz 3 BRK treffen, um M. L. die Wahrnehmung der Schöff*innentätigkeit zu ermöglichen.

Der Zugang zum Schöff*innendienst falle ebenso aus dem Anwendungsbereich des Artikels 13 BRK heraus. Die Vorschrift beziehe sich darauf, Menschen mit Behinderungen das Gerichtssystem zugänglich zu machen, wenn sie ein Rechtsproblem hätten, und nicht darauf, ihnen Zugang zu seinen einzelnen Institutionen zu verschaffen. Schöff*innen seien weiterhin weder unmittelbare noch mittelbare Teilnehmer*innen im Sinne des Artikels 13 BRK. Daneben habe M. L. keinen Anspruch auf „angemessene Vorkehrungen“ nach Artikel 13 Absatz 1 BRK. Artikel 13 Absatz 1 sei im Lichte des Artikels 31 der Wiener Vertragskonvention auszulegen, wonach Verträge nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, ihnen zukommenden Bedeutung und im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen seien. Dies führe dazu, dass Artikel 13 Absatz 1 nur die Gewährleistung von „verfahrensbezogenen und altersgemäßen Vorkehrungen“ vorsehe, nicht aber von „angemessenen Vorkehrungen“, wie etwa die Bereitstellung von Schriftdolmetscher*innen.

Im Hinblick auf Artikel 21 Buchstabe b BRK stimmte die Regierung zu, dass die Simultan-Untertitelung eine Form der Kommunikation im Sinne des Artikels 21 BRK sei. Im Übrigen sei die Regionalregierung allen Anforderungen des Artikels 21 BRK gerecht geworden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass den Vertragsstaaten in diesem Rahmen ein Beurteilungsspielraum zukomme und sie nur schrittweise, gemessen an den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, geeignete Anpassungen und Änderungen vornehmen müssten. Weiterhin falle das Schöff*innenamt nicht in den „Umgang mit Behörden“ im Sinne des Artikels 21 Buchstabe b BRK.

Aus demselben Grund sei Artikel 29 BRK nicht betroffen. Der Begriff „Politische Rechte“ beziehe sich nur auf die Teilhabe im politischen Prozess, wie etwa das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Dies schließe nicht die Teilhabe am Schöff*innendienst ein. Daneben stehe es den Vertragsstaaten zu, die Umsetzung der in der BRK verankerten Rechte von Bedingungen und Auflagen abhängig zu machen. Davon habe Australien Gebrauch gemacht. So sehe das Schöffengesetz der Region Neusüdwales vor, dass Personen aus „gutem Grund“ vom Schöff*innendienst ausgeschlossen werden könnten.

Hinsichtlich Artikel 5 BRK erläuterte die Regierung, dass es nicht Zweck der BRK sei, neue Rechte zu schaffen, sondern Menschen mit Behinderungen auf ihre (bereits existierenden) Rechte hinzuweisen. Die BRK sei ein wesentlicher Schritt dahin, die Rechte von Menschen mit Behinderungen anzuerkennen, auf diese aufmerksam zu machen sowie deutlich zu machen, dass ein Bedürfnis nach einem Umdenken bestehe. Die BRK schaffe aber keine neuen Rechte, sondern stelle nur klar, welche Rechte für Menschen mit Behinderungen existierten, damit diese von ihren Rechten Gebrauch machen könnten. Dem folgend führe eine Ungleichbehandlung nach herkömmlichem Verständnis nicht zwangsläufig zu einer Diskriminierung im Sinne der BRK. Dies gelte auch für das Schöffengesetz. Dass das Schöffengesetz Menschen mit und ohne Behinderung ungleich behandele, sei damit zu rechtfertigen, dass in einem Schöff*innenverfahren nicht nur die Rechte von Personen mit einer Behinderung zu berücksichtigen seien. Auch das Recht der Angeklagten auf ein faires Verfahren spiele hierbei eine wichtige Rolle. Beide Interessen seien gegeneinander abzuwägen. Im Übrigen habe die Regionalregierung in Neusüdwales angemessene Vorkehrungen im Sinne des Artikels 5 Absatz 3 BRK getroffen, um Menschen mit Hörbehinderungen den Schöff*innendienst zugänglich zu machen. Davon ausgenommen seien nur Personen, deren Behinderung derart schwerwiegend sei, dass sie das Schöff*innenamt nicht wirksam ausüben könnten.

Auch im Hinblick auf die Artikel 2, 4 und 9 BRK sei die Beschwerde unbegründet. Die Regierung habe dargelegt, dass sie die Inklusion von Menschen mit Behinderungen fördere (Rz. 4.4-4.10).

M. L. betonte, die Beschwerde sei zulässig. Hinsichtlich der Rechtskosten führte er an, dass höchstwahrscheinlich er, als unterlegene Partei, die Verfahrenskosten vor nationalen Gerichten hätte tragen müssen. Dies hätte zu seinem wirtschaftlichen Ruin geführt. Einen Antrag auf Kostenerstattung zu stellen sei schwierig und hänge von verschiedenen Faktoren ab, wie etwa der Erfolgsaussicht der Klage, die bei ihm aber gering sei. Daneben sei die Anwaltschaft nach nationalem Recht verpflichtet, offensichtlich erfolglose Zivilklagen nicht vor Gericht einzubringen. Andernfalls riskiere sie, die gesamten Verfahrenskosten selbst tragen zu müssen und gegen das Berufsrecht zu verstoßen, was zum Verlust ihrer Zulassung führen könne.

Auch sei die Beschwerde hinsichtlich der Artikel 2, 4, 5 und 9 BRK zulässig. Artikel 2 diene der Auslegung der BRK, wonach die Simultan-Untertitelung als eine Form der „Kommunikation“ anzusehen und die Bereitstellung „angemessener Vorkehrungen“ für ihn erforderlich sei, um am Schöff*innendienst teilnehmen zu können. Dies gelte auch für Artikel 4 BRK. Die Vorschrift lege die allgemeinen Verpflichtungen fest, die die Vertragsstaaten bei der Verwirklichung spezifischer Rechte, wie etwa der Artikel 12, 13, 21 und 29 BRK, zu beachten hätten. Australien sei diesen allgemeinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Die Regierung sei zuständig gewesen, Reformen auf den Weg zu bringen, um gehörlosen Menschen die Teilnahme am Schöff *innendienst zu ermöglichen. Im Hinblick auf Artikel 9 BRK beziehe sich die allgemeine Verpflichtung der Vertragsstaaten auf die Bereitstellung von adäquaten Kommunikationstechnologien und -systemen sowie menschlichen Hilfen, worunter auch die Live-Mitschrift falle (Rz. 5.1-5.5).

Im Hinblick auf Artikel 12 BRK allein und in Verbindung mit Artikel 5 BRK trug M. L. vor, dass Artikel 12 das Recht von Menschen mit Behinderungen schütze, ihre Rechte und Rechtsansprüche, einschließlich ihrer damit verbundenen Pflichten, ausüben zu können. Dagegen lasse der Wortlaut des Artikels 12 BRK eine restriktive Auslegung, wie sie die Regierung vorgenommen habe, nicht zu. Weiterhin habe die Regierung in Neusüdwales die Live-Mitschrift weder im neuen Schöffengesetz aufgeführt noch sei diese Gegenstand aktueller Reformprojekte gewesen. Dagegen seien die Maßnahmen, die die Regierung unternommen habe, um gehörlosen Menschen den Zugang zum Schöff*innendienst zu erleichtern, für ihn ohne Relevanz. Für ihn sei nur ein*e Schriftdolmetscher*in eine „geeignete Hilfe“ im Sinne des Artikels 12 Absatz 3 BRK. Dabei sei der Begriff „geeignete Maßnahmen“ im Zusammenhang mit anderen Vorschriften, wie etwa der Artikel 2, 4, 5 und 9 BRK, zu sehen, die den Vertragsstaaten allgemeinere Verpflichtungen auferlegten. Artikel 12 BRK müsse im Lichte des Artikels 5 Absatz 1 und Absatz 3 BRK ausgelegt werden. Danach sei die Simultan-Untertitelung als „angemessene Vorkehrung“ anzusehen, die seine Gleichbehandlung vor dem Gesetz und damit seine Rechts- und Handlungsfähigkeit fördere.

Im Hinblick auf Artikel 13 BRK allein und in Verbindung mit Artikel 5 BRK ergänzte M. L., dass „unmittelbare und mittelbare Teilnehmer“ alle Personen einschließe, die Teil des Justizsystems seien. Dazu würden auch Schöff*innen zählen. Die Bereitstellung von Schriftdolmetscher*innen sei auch eine angemessene Anpassung, welche ihm ermögliche, an Gerichtsverfahren teilzunehmen.

Verfahrensbezogene Änderungen, die dafür erforderlich würden, würden zum Beispiel die Einführung eines Eides für Schriftdolmetscher*innen umfassen, um die Vertraulichkeit der Schöff*innenberatungen zu gewährleisten.

Die Weigerung, eine solche Hilfestellung bereitzustellen, verstoße auch gegen Artikel 21 Buchstabe b BRK allein und in Verbindung mit Artikel 5 BRK. Der Schöff*innendienst falle auch in den Anwendungsbereich des Artikels 21 Buchstabe b BRK. Gerichte seien öffentliche Einrichtungen und führten, als Teil ihres Wirkens, Geschworenenverfahren durch. Weiterhin habe die Regierung nicht dargelegt, dass die Anpassung für sie eine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstelle.

Hinsichtlich Artikel 29 Buchstabe b BRK erläuterte M. L., dass die „Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten“ auch das Justizsystem einschließe, in welchem Schöff*innen, die über die Schuld von Angeklagten entschieden, eine wesentliche Rolle spielten.

Allgemein seien die in der BRK verankerten Rechte, dem Zweck der BRK folgend, weit auszulegen. Der Vorwurf, „neue Rechte“ zu schaffen, könne nicht dazu gebraucht werden, um bei der Auslegung der in der BRK verankerten Rechte nur am herkömmlichen Rechtsverständnis festzuhalten (Rz. 5.6-5.12).

Die Regierung trug vor, dass die Nutzung von Schriftdolmetscher*innen Folgen für die Komplexität, Kosten und Dauer von Gerichtsverfahren erhöhe und damit auch die erforderlichen Mittel (Rz. 6.2).

3. Entscheidung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD)

Der Fachausschuss stellte eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 und 3 (Diskriminierungsverbot, Bereitstellung angemessener Vorkehrungen), Artikel 9 Absatz 1 (Teilhabe in allen Lebensbereichen) und Artikel 13 Absatz 1 (Gleicher Zugang zur Justiz) allein und in Verbindung mit Artikel 3 (Allgemeine Grundsätze), Artikel 5 Absatz 1 (Diskriminierungsverbot) und Artikel 29 Buchstabe b (Mitwirkung bei der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten) als auch eine Verletzung von Artikel 21 Buchstabe b (Verwendung aller alternativen und ergänzenden Kommunikationsformen beim Austausch mit Behörden) allein und in Verbindung mit Artikel 2 (Begriffsbestimmungen), Artikel 4 (Allgemeine Verpflichtungen) sowie Artikel 5 Absatz 1 und 3 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) fest.

Eine Verletzung der Artikel 2 und 4 BRK  (Begriffsbestimmungen und Allgemeine Verpflichtungen) sowie von Artikel 12 BRK (Rechts- und Handlungsfähigkeit) hielt er für unzulässig (Rz. 7.5-7.6).

Der Ausschuss empfahl der australischen Regierung, die Teilnahme von M. L. am Schöff*innendienst unter Beachtung der Rechtsauffassung des Ausschusses zu ermöglichen, ihn angemessen zu entschädigen und Maßnahmen zu ergreifen, um erneute Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden (Rz. 9).

3.1 Zulässigkeit (Rz. 7.1-7.7)

Der Fachausschuss erklärte die Beschwerde für teilweise zulässig.

Die Beschwerde sei gemessen an Artikel 2 Buchstabe d des fakultativen Zusatzprotokolls zulässig. M. L. habe nicht die Bundesgerichte anrufen müssen. Innerstaatliche Rechtsbehelfe hätten in diesem Fall keine Aussicht auf Erfolg gehabt, da der Schöff*innendienst nicht in den Anwendungsbereich der nationalen Behindertengesetzgebung falle beziehungsweise keine einschlägige Präjudizienrechtsprechung existiere.

Hinsichtlich der Artikel 5, 9, 13, 21 und 29 BRK sei die Beschwerde hinreichend begründet (Artikel 2 Buchstabe e des fakultativen Zusatzprotokolls).

Der Ausschuss erklärte sich ratione materiae, also bezogen auf die Anwendbarkeit der UN-BRK, unzuständig hinsichtlich Artikel 12 BRK. Der zuständige Sheriff habe nicht die Rechts- und Handlungsfähigkeit von M. L. infrage gestellt. Er habe seine Entscheidung, M. L. keine*n Schriftdolmetscher*in bereitzustellen, damit begründet, dass die Einführung von Nicht-Schöff*innen in das Gerichtsverfahren den im Schöffengesetz verankerten Grundsatz der Vertraulichkeit der Schöff*innenberatungen verletze (Artikel 2 Buchstabe b des fakultativen Zusatzprotokolls).

Ferner sei die Beschwerde unter Artikel 2 und 4 BRK, insofern diese Vorschriften allein geltend gemacht werden, unzulässig. Die Artikel 2 und 4 stellten allgemeine Vorschriften dar, die nicht selbstständig und nur im Zusammenhang mit anderen Rechten geltend gemacht werden könnten.

3.2 Begründetheit (Rz. 8.1-8.9)

Der Ausschuss stellte eine Verletzung der Rechte von M. L. aus Artikel 5 Absatz 1 und 3, Artikel 9 Absatz 1 und Artikel 13 Absatz 1 BRK allein und in Verbindung mit den Artikeln 3, 5 Absatz 1 und Artikel 29 Buchstabe b BRK fest. Weiterhin stellte er eine Verletzung aus Artikel 21 Buchstabe b allein und in Verbindung mit den Artikeln 2 und 4 sowie 5 Absatz 1 und 3 fest. Es liege eine Diskriminierung vor, weil die australischen Stellen es ablehnt hätten, „angemessene Vorkehrungen“ im Sinne von Artikel 2 Absätze 3 und 4 BRK zu treffen.

Es liege ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 1 und 3 BRK vor. Der Ausschuss führte zunächst aus, dass eine Diskriminierung aufgrund von Behinderung alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen, umfassen könne. Ein neutral angewendetes Gesetz könne diskriminierende Auswirkungen haben, wenn die besonderen Umstände der betroffenen Person nicht berücksichtigt würden.Vorliegend habe M. L. mehrfach deutlich gemacht, dass er willens sei, am Schöff*innendienst teilzunehmen, dazu aber eine*n Schriftdolmetscher*in benötige. Der Sheriff habe dies abgelehnt, mit der Begründung, dass M. L. gehörlos sei und das Schöffengesetz eine Live-Mitschrift verbiete. Diese verstoße gegen den Grundsatz der Vertraulichkeit der Schöff*innenberatung. Die Live-Mitschrift sei aber, so der Ausschuss, eine „notwendige und geeignete Änderung und Anpassung“ im Sinne des Artikels 2 BRK, die auch „keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung“ für den Vertragsstaat darstelle. Die Maßnahmen, die die Regierung in Neusüdwales bereits für gehörlose Schöff*innen getroffen habe, stellten dagegen nicht sicher, dass auch M. L. am Schöff*innendienst wirksam teilnehmen könne. Insbesondere habe die Regierung nicht vorgetragen, weshalb Anpassungen, die den Grundsatz der Vertraulichkeit der Schöff*innenberatung wahren würden, wie etwa die Einführung eines Eides für Schriftdolmetscher*innen, nicht vorgenommen werden konnten. Schließlich sei die Live-Mitschrift kein Novum. Es sei üblich, dass Richter*innen und Anwält*innen mit Hörbehinderungen Schriftdolmetscher*innen nutzen, um ihren Arbeitsalltag bewältigen zu können.

Die Nichtbereitstellung von Schriftdolmetscher*innen stelle weiterhin eine Verletzung des Artikels 9 Absatz 1 BRK allein und in Verbindung mit den Artikeln 2, 4 sowie Artikel 5 Absatz 1 und 3 BRK dar. Der Sheriff habe M. L. den Zugang zum Schöff*innendienst verweigert. Der Schöff*innendienst sei ein „Lebensbereich“ im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 BRK, von dem die australischen Behörden M. L. ausgeschlossen hätten. Die australische Regierung treffe die Verpflichtung, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen an allen Lebensbereichen teilhaben können. Dies bedeute, dass sie effektiven und gleichberechtigten Zugang zu allen Lebensbereichen haben. Die Zugänglichkeit müsse in all ihrer Komplexität gewährt werden, auch bei der Kommunikation. Ansonsten liege eine diskriminierende Handlung vor.

Weiterhin sei Artikel 21 Buchstabe b BRK allein und in Verbindung mit den Artikeln 2, 4 sowie Artikel 5 Absatz 1 und 3 BRK verletzt. Nach Artikel 2 schließe der Begriff „Kommunikation“ Sprachen und alternative Formen, Mittel und Formate der Kommunikation ein, wozu auch die Live-Mitschrift zähle. Auf diese Form der Kommunikation sei M. L. aber angewiesen, um in seiner öffentlichen Rolle als Schöffe effektiv wirken und sich mit anderen Schöff*innen und Justizbeamt*innen verständigen zu können.
Es liege des Weiteren eine Verletzung des Artikels 13 Absatz 1 BRK allein und in Verbindung mit den Artikeln 3 und 5 Absatz 1 und 29 Buchstabe b BRK vor. Der Schöff*innendienst sei ein integraler Bestandteil des australischen Rechtssystems und damit als „Teilnahme“ am Gerichtsverfahren im Sinne des Artikels 13 Absatz 1 BRK anzusehen. Im Hinblick auf Artikel 29 Buchstabe b müsse gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderungen wirksam an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten teilhaben könnten. Dies schließe die Teilhabe am Justizsystem ein, wozu neben Kläger*innen und Beklagten auch Schöff*innen gehörten.

3.4 Empfehlungen (Rz. 9)

Der Fachausschuss empfahl in Bezug auf M. L. die Teilnahme am Schöff*innendienst unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Ausschusses, die Begleichung der Rechtskosten sowie die Zahlung einer angemessenen Entschädigung.

Allgemein sei Australien verpflichtet, ähnliche Verletzungen in Zukunft zu verhindern. Deshalb müsse der Staat auch sicherstellen, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen bei ihrer Ladung zum Schöff*innendienst zu treffen, entsprechende Anpassungen und Änderungen in Gesetzen und anderen Regelwerken vorzunehmen und Ausbildungs- und Weiterbildungsprogramme für betroffene Berufsgruppen durchzuführen.

4. Bedeutung für die Rechtspraxis

In seiner Entscheidung bestätigte der UN-CRPD nochmals, dass auch ein neutral angewendetes Gesetz diskriminierende Auswirkungen haben kann, wenn die besonderen Umstände der betroffenen Person nicht berücksichtigt werden. Er wiederholte, dass Menschen mit Behinderungen die Teilhabe an allen Lebensbereichen, inklusive dem Schöff*innendienst, ermöglicht werden muss. Der Ausschuss machte deutlich, dass die Verweigerung von „angemessenen Vorkehrungen“ eine Diskriminierung im Sinne von Artikel 2 Absätze 3 und 4 BRK ist. In diesem Rahmen sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alle notwendigen und geeigneten Änderungen und Anpassungen vorzunehmen, solange diese keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung für den jeweiligen Staat darstellen. Wenn der Staat geltend macht, dass eine solche Belastung einer Vorkehrung entgegensteht (zum Beispiel in Form eines finanziellen Engpasses), muss er dies nachweisen. Insbesondere muss er ausführlich vortragen, weshalb er keine Änderung beziehungsweise Anpassung vornehmen kann. Nur ein Verweis auf zum Beispiel einen finanziellen Engpass im Haushaltsbudget genügt hierbei nicht.

Zudem machte der Ausschuss mit dieser Entscheidung deutlich, dass Artikel 21 BRK nicht unter dem Progressionsvorbehalt des Artikels 4 Absatz 2 BRK steht. Das bedeutet, der Staat kann sich hier nicht darauf berufen, dass er lediglich zu einer schrittweisen und an den zur Verfügung stehenden Mitteln orientierten Umsetzung der in Artikel 21 BRK verankerten Rechte verpflichtet sei.

Weiterhin betonte der Ausschuss, dass die Artikel 2 und 4 BRK für sich alleine aufgrund ihres allgemeinen Charakters keine eigenständigen Beschwerden begründen.

Die Argumentation des UN-CRPD kann in Schriftsätzen oder im Dialog mit Behörden verwendet werden. Dies bietet sich etwa bei Konflikten an, wenn Menschen mit Behinderungen geeignete und erforderliche Hilfen für die Ausübung des Schöff*innenamtes verwehrt werden.

5. Entscheidung im Volltext

CRPD_01.04.2016_Lockrey_v._Australia_ENG (PDF, 234 KB, nicht barrierefrei)

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